Nelio Biedermann «Lázár», Rowohlt #SchweizerBuchpreis 25/03

Nelio Biedermann, der Shootingstar der CH-Literaturszene, schrieb einen gross angelegten Familien-, Geschichts- und Epochenroman, der an die grossen Vorbilder der Deutschen Literatur erinnert. Ein wagemutiges Buch, das ambitioniert geschrieben ist, mich aber enttäuscht zurücklässt – nicht zuletzt, weil es zum Schweizer Buchpreis nominiert ist.

Der Niedergang einer ungarischen Adelsfamilie vor 100 Jahren. Ein oppulentes Sittengemälde einer Epoche des Umbruchs, eines Reichs, das in seinem Selbstverständnis für die Ewigkeit eingeschrieben schien, einer Familie, die sich aller Selbstverständlichkeiten beraubt sieht, von Familienmitgliedern, die straucheln und stolpern, einer Zeit, die mit den Wirren von Revolution und Krieg erodierte.

Nelio Biedermanns Roman „Lázár“ ist auch seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie, seiner ungarischen Wurzeln, fast 60 Jahre, von der Jahrhundertwende bis zum Ungarnaufstand 1956. Warum sollte man als ehrgeiziger Schriftsteller diesen ungeheuren Schatz an Geschichte und Geschichten nicht anzapfen. Vielleicht hätte ich bei der Lektüre auch viel mehr Bewunderung gezeigt, wenn der Roman nicht in der Liste der besten Bücher der Schweiz zu finden gewesen wäre. Vielleicht hätte ich anerkennend genickt, in der Überzeugung, dass sich da ein Schriftsteller voller Mut und Selbstbewusstsein an einen grossen Stoff wagt und in einer Art und Weise schreibt, die an grosse Vorbilder erinnert.

Aber mit der Brille eines Kommentators zum Schweizer Buchpreis, mit dem Anspruch, hier eines der besten Bücher des Jahres zu lesen, mit dem Wissen, dass ich da einen Roman lese, der zeitgleich in 20 Sprachen übersetzt in den Buchhandlungen überall zu finden ist, wurde die Lektüre schwierig, manchmal fast unerträglich. Und wenn ich mich dann noch hinreissen lasse, all die Kritiken und Rezensionen in den Medien zu diesem Buch zu lesen, dann zweifle ich nicht nur am Geschmack all jener, die mit hymnischen Expertisen den Roman lasen, dann zweifle ich auch an mir.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Schon auf den ersten Seiten erschlägt mich der Roman mit der Fülle an Adjektiven. Ich habe nichts gegen behutsam eingesetzte Adjektive, vor allem dann nicht, wenn sie unvermeidbar sind, wenn sie Eindrücke verstärken, die nicht ohne eben dieses Adjektiv auskommen. Aber ich will, dass das Geschriebene nicht wie mit Ausmalfarben beschrieben wird. Ich will, dass meine Eindrücke durch passende Beschreibungen, oder auch Auslassungen evoziert werden. Zu viele Adjektive lassen Szenen und Beschreibungen grell, überladen erscheinen, stören mehr, als dass sie helfen würden. Für mich unerklärlich, dass ein sogfältiges Lektorat da nicht eingegriffen hat.

Ich liebe Romane, die in „cineastisch“, wie auf Breitlandwand erzählt sind, ausufernd, die in Bildern baden, Geschichte ausbreiten. Aber dann muss jedes Detail stimmen. Ich darf nicht das Gefühl haben, dass da etwas in den Text hineinfliesst, das nicht in die Zeit gehört – oder noch viel schlimmer, das mir zu verstehen geben will, dass der Text auch etwas mit der Gegenwart zu tun hat. Warum ritzt sich eine der Protagonistinnen? Kann sein, dass es das früher schon gab. Aber wenn ein Roman erzählt wird, als wäre der Erzähler aus den 30ern, dann ist „Ritzen“ kein Thema, auch wenn es das damals in Kreisen des Adels vielleicht schon gab.
Nelio Biedermann ist 22 Jahre alt. Wenn jemand so jung ist, dann will ich gerade eben diesen jungen Blick sehen, dieses Unverbrauchte, Ungehemmte. Aber die einzigen Szenen, in denen sich der junge Mann ungehemmt zeigt, sind Sexszenen, die so gar keine Erotik verströmen. 

Warum macht Rowohlt aus Nelio Biedermanns Roman einen Bestseller in der Art und Weise? Hilft man dem jungen Autor, in dem man ihn derart pusht? Oder wird man Nelio Biedermann bei allem, was er in Zukunft schreiben wird, an „Lázár“ messen? Ich gönne dem Autor und dem Verlag den Erfolg, jedes Buch, das über den Ladentisch geht, die vollen Säle, wenn Nelio Biedermann liest. Aber ich hoffe auch, dass Nelio Biedermann die Bodenhaftung nicht verliert, die Nähe zu seinem Publikum, auf das er als Schriftsteller auch in Zukunft angewiesen sein wird.

Nelio Biedermann hat viel gewagt. Der Verlag vielleicht noch mehr. Ich kann auch gut nachvollziehen, dass man sich in einem Verlag sehr gut überlegt, in welches Buch, in welche Autorin, welchen Autor man investieren will, zumal ein gut verkauftes Buch auch viele andere Bücher mitträgt, die aus was für Gründen auch immer von uns LeserInnen nicht goutiert werden. Aber Nelio Biedermann ist ein ungeschliffener Diamant. Und als eben dieser schlecht zu vergleichen mit denen, die sich schon über Jahrzehnte an der Zeit geschliffen haben.

Toll, wenn „Lázár“ gelesen und geliebt wird. Für meine Liebe reicht es nicht.

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

Webseite des Autors

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Biedermann und die Lobstifter #SchweizerBuchpreis 25/02

Alle Zeitungen, die Tagesschau, der Literaturclub und die Sendung «Zwei mit Buch» berichten mit Begeisterung. Von Daniel Kehlman liest man auf dem Umschlag Ein wirklich grosser Schriftsteller betritt die Bühne! Vergleiche mit Thomas Manns Buddenbrocks machen die Runde! Ich, skeptisch ob so viel Lob, frage mich: Muss oder will ich ein solches Buch lesen?

Lieber Gallus

Die Neugier hat gesiegt und ich habe «Lázár» gelesen. Leicht lesbar und unterhaltsam geschrieben erfahre ich vom Schicksal dreier Generationen einer ungarischen Adelsfamilie in den Weltkriegen und in der Sowjetzeit. Sehr romantisch, farbenprächtig und gelegentlich kitschig geschrieben begegne ich dem Werk eines jungen, fantasievollen Erzählers. Was ich vermisse, sind Entwicklungen der Charaktere, Fragestellungen und die Suche nach Antworten, Reflexionen. Mir fehlt eine persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinen Protagonisten, der Geschichte. Nach Weglegen des Buches klingt wenig nach, vergesse ich rasch.

Sie hatte von ihnen geträumt, und tatsächlich waren die Störche zurückgekehrt, reckten ihre weissen Hälse aus den Klatschmohnfeldern, die das Städtchen umgaben, während sie am Fenster verharrte und den milchigblauen  Morgenhimmel, den blütengelben Horizont, die weichen Hügel in der Ferne, den schlichten Kirchturm und das satte Rot der Felder ansah, als wäre bereits alles eine Erinnerung, als wären Sehen und Erinnern dasselbe, sie schloss das Fenster und ging ins Bad,…schminkte sich die Lippen klatschmohnrot, steckte die Perlohrringe, die einst Sandors Mutter gehört hatten, in die Ohrlöcher, öffnete das geflochtene Haar, das wie dunkles Wasser über den weissen Stoff des Nachthemds, ihre schmalen Schultern glitt, stand auf und holte die dunkelblaue Strickjacke aus dem Schrank…

Vor ihnen lag Zürich, der See, die weissen Schwäne und verschneiten Berge.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Ein Wunderkind!? Mir tut dieser begabte junge Autor im Kreuzfeuer dieser Medien-Begeisterung leid. Aus einem Interview erfahre ich, dass er gut mit seinem frühen Ruhm umgehen kann, viel liest und diszipliniert täglich schreibt. So hoffe ich, dass er seine literarischen Fähigkeiten trotz Rummel weiter entwickeln kann. Mit «Lázár» hat Nelio Biedermann gegenüber seinem Erstling «Anton muss bleiben» bereits einen grossen Schritt getan. 

Die grosse Medienpräsenz dieses Autors lässt mich auch unseren Literaturbetrieb hinterfragen. Warum reissen sich die Verlage um dieses Buch und sind die geplanten Übersetzungen in 20 Sprachen dauernd erwähnt. Was ist gute Literatur, wer bekommt einen Preis, wer wird beachtet und gefördert? Eine schwierige Frage bei der riesigen Anzahl von Autorinnen und Autoren. Du, Gallus, hast einen besseren Überblick über die Literaturszene: Was denkst du darüber?

Zufällig ist mir unmittelbar anschliessend der schmale Band «Großmütter» von Melana Mvogdobo in die Hand gekommen. Welch grosser Kontrast! In einer äusserst knappen, ausdrucksstarken Sprache, sorgfältig in zwei verschiedenen Farben gedruckt, erzählen zwei Grossmütter ihr Leben. Eine aus einer armen Schweizer Bauernfamilie, eine aus einer wohlhabenden Familie in Kamerun. Als Grossmütter befreien sie sich nach Demütigungen und Erleiden von seelischer und körperlicher Gewalt von ihren Männern. Wie sie das mit Hilfe ihrer Enkelinnen machen, ist beeindruckend. Ein kluges Buch mit Tiefgang! Mit Nachhall!

Ich muss nachdenken. Ich will verstehen, wieso mein Leben so ist, wie es ist. Und noch viel wichtiger: Weshalb ich nicht in der Lage war, mein Schicksal einfach anzunehmen, wie so viele andere Frauen.

Interessant, dass beide für den Schweizer Buchpreis 2025 nominiert sind. 

Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Danke für deine Einschätzungen, die ich eigentlich nur teile, auch wenn ich bisher nur über Melara Mvagdobos Roman «Großmütter» gelesen habe. Vor ein paar Tagen bekam ich vom Transit Verlag, bei dem ihr Roman erschienen ist, eine Mail, man könne mir den Roman erst in einigen Tagen zusenden, da man nachdrucken müsse. Eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Zum einen zeigt die Situation des Verlags, wie sehr man von dieser Nomination überrascht war und wie gut in der Folge das Buch verkauft wurde, was übrigens auch bei «Die Holländerrinnen» von Dorothee Elmiger geschah, drohte doch eine Lesung in der Ostschweiz ohne Büchertisch mit dem angesagten Titel, was schlussendlich verhindert werden konnte, weil in der Not die eine Buchhandlung der andern aushalf. Ein guter Buchverkauf des einen Buches hilft vielen anderen Büchern des gleichen Verlags, denen es nicht gelingt, die Brieftaschen von LeserInnen aus welchen Gründen auch immer zu öffnen. Zum andern kann der Hunger ausgerechnet in Momenten des grössten Appetits nicht gestillt werden.

Melara Mvogdobo «Großmütter», Transit, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-88747-416-4

Aber nur schon dein kleiner Teaser lockt und steigert die Vorfreude auf «Großmütter», ist doch das Thema «Geschlechterspezifische Gewalt gegen Frauen» aktueller denn je in Zeiten, in denen «Männlichkeit» von politischen Parteien zum Kampfwort gemacht wird, Männerbünde in Medien mit Reichtum und kruden Ansichten protzen, Statistiken über Gewalt gegen Frauen mehr als besorgniserregend aussehen und Errungenschaften wachsender Emanzipation und Akzeptanz gegenüber einem LGBTQ-Bewusstsein offensichtlich immer stärker in Bedrängnis geraten.

Hier die Begründung der Jury des Schweizer Buchpreises für den Roman «Großmütter»: Der Roman handelt von zwei Grossmüttern, die in ganz unterschiedlichen Welten leben und die doch viel gemeinsam haben … Als junge Frauen haben sie Träume. Sie heiraten, werden gedemütigt und spüren die engen Grenzen, die das Patriarchat ihnen setzt. Doch irgendwann setzen sie sich zur Wehr. In einer überraschenden Parallelführung zweier Leben zeigt Mvogdobo das, was Frauen über Kulturen und Kontinente hinweg verbindet. Das Buch besticht durch die knappe, messerscharfe und zugleich bewegende Sprache ebenso wie durch seine Milieuschilderungen.

Ich freue mich auf das Buch!

Und «Lázár»? Wenn der hochdekorierte Grossmeister der Deutschen Literatur Daniel Kehlmann, der sich mit «Die Vermessung der Welt» ins kollektive Bewusstsein einer ganzen Lesegeneration einschrieb, sich zu einer solchen Einschätzung hinreissen lässt und dem Verlag die Erlaubnis gibt, dieses Zitat zu Werbezwecken aufs Buchcover zu drucken, dann muss doch etwas dran sein. Wenn sich Veranstalter um Nelio Biedermann reissen, wenn das Buch eines 22jährigen in mehr als 20 Sprachen gedruckt wird und in Buchhandlungen mit glänzenden Augen um die Wette gestrahlt wird?

Die Frage, was denn gute Literatur sei, treibt mich immer wieder um. Letzthin las ich ein Zitat des Schriftstellers Martin R. Dean: Die Literatur muss am Lack des schönen Scheins kratzen. In einer Zeit, in der Filterblasen und Echoräume sich wie unsichtbare Scheuklappen auf das Subjekt legen, ist der Blick darüber hinaus von grösstem Wert. (aus «In den Echokammern des Fremden» von Martin R. Dean).

Ich habe «Lázár» gelesen und werde mich später differenzierter dazu äussern. Vielleicht sehen wir uns ja wieder an der Preisverleihung des Schweizer Buchpreises im Foyer Theater Basel, 11.00 Uhr, am Sonntag, den 16. November.

In Freundschaft

Gallus 

Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach ­einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien  im Verlag Edition 8 ihr erster Roman «Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden».

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Echte Perlen? #SchweizerBuchpreis 25/01

Schweizer Buchpreis 2025 – das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer:innen oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autori:nnen. Ist das möglich? Kann das eine Jury bestimmen? Gibt es das eine, beste Buch? Was sind die Kriterien für das beste Buch?

Ich bin mir sicher, dass die Jury mit Tim Felchlin, Literaturredaktor und Kulturjournalist, Martina Läubli, Kulturjournalistin, Simone Nuber, Master of Science, Isabelle Vonlanthen, stellvertretende Leiterin des Literaturhauses Zürich und Manuela Waeber, freie Lektorin alles daran setzen, die Nominierungen und die Wahl zum Schweizer Buchpreises möglichst objektiv aussehen zu lassen, würden doch deutliche Fehlentscheidungen die Glaubwürdigkeit eines solchen Prädikats „bestes Buch“ noch mehr in Frage stellen. Aber das beste Buch gibt es nicht. Die Frage scheitert an mehreren Punkten. Auch wenn es Leute aus dem Literaturbetrieb gibt, die der Überzeugung sind, dass es unauslöschliche Kriterien für gute Literatur gibt. Gute Literatur zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, tiefgründige Wahrheiten über die menschliche Erfahrung zu vermitteln, starke emotionale Reaktionen hervorzurufen und die Zeit zu überdauern. Sie zeichnet sich durch gut entwickelte Charaktere, fesselnde Handlungen und eine reiche, nuancierte Sprache aus. Aber wer bestimmt, was tiefgründig ist? Ist es nicht so, dass emotionale Reaktionen ganz unterschiedlich ausfallen können, nicht nur in der Kunst. Was ist „nuancierte“ Sprache? Wülstig mit Sicherheit nicht. Schon gar nicht sichtbar durch die Anzahl von Adjektiven.

Vielleicht muss ich ganz persönlich auf die Frage antworten, was gute Literatur zumindest für mich sein kann: Sie muss mich fesseln. Sie muss mich überraschen. Sie muss mich in irgend einer Form provozieren. Sie muss in mir einen Nachhall erzeugen, muss sich in mir festhaken. Der Sound muss musikalisch sein. Ich soll bewegt werden… Ich könnte die Liste noch weiterführen, ohne je den Anspruch zu haben, eine solche Liste habe Allgemeingültigkeit. Robert Walser wurde wie Franz Kafka zu Lebzeiten nur von wenigen beachtet und geschätzt, am wenigsten vom Buchmarkt. Oder umgekehrt; Kennen sie John Knittel? Der Schweizer Schriftsteller war zu Lebzeiten sehr erfolgreich, starb 1970. Heute kennt ihn kaum mehr jemand. Vergessen. Kennen sie Ruth Blum? Die Schaffhauserin starb 1975. Ich kaufte alle ihre Bücher in Antiquariaten und war hell begeistert. Vergessen. Noch so eine lange Liste.

Das beste Buch! Warum ist unter den Nominierten nicht „Sommerschatten“ von Urs Faes? Oder „Walzer für niemand“ von Sophie Hunger? Oder „Sechzehn Monate“ von Fabia Andina? Hört die Schweiz an den Sprachgrenzen auf?Schweizer Buchpreis? Oder „die spinne“ von Eva Maria Leuenberger? Warum nicht einmal Lyrik in der Liste der Nominierten? Weil man der Lyrik kein Scheinwerferlicht zutraut? Weil sich damit keine Verkaufszahlen generieren? (Hut ab vor allen Verlagen, die sich noch immer tapfer trauen, Lyrik zu drucken!) Die Liste jener Bücher, die es auch verdient hätten, wird mit der Intensität des Lesens nicht kürzer. Auch das Unverständnis über diese Versäumnisse. Zudem muss man wissen, dass sich etliche Grössen der hiesigen Literatur durch ihre Verlage gar nicht mehr zur Wahl stellen wollen.

Immerhin stehen für einmal keine Debüts in der Liste. Wie soll ein Debüt eine Chance haben neben einem Buch eines literarischen Schwergewichts? Und Schwergewichte sind in der Liste der Nominierten sehr wohl vertreten: Mit Sicherheit die erst 40jährige Dorothee Elmiger, die mit ihrem Roman „Die Holländerinnen“ auch in der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht. Und zweifelsohne Jonas Lüscher. Meral Kureyshi schaffte es mit ihrem Debüt „Elefanten im Garten“ vor 10 Jahren auf die Liste der Nominierten und gilt seither als wichtige Stimme der CH-Literatur. Von Melara Mvogdobo las ich vor ein paar Jahren ihr Debüt „Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden“ und konnte mich nicht wirklich begeistern lassen, genauso wie vom Debüt „Anton will bleiben“ von Nelio Biedermann. Dass ihre Folgeromane von ganz anderer Qualität sind, darüber lässt sich streiten, zumal „Lásár“ in einer Weise gehypt wurde und wird, die jede Verhältnismässigkeit vermissen lässt.

Meine Meinung war ziemlich schnell gemacht.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Zora del Buono – Trägerin des Schweizer Buchpreises 2024 #SchweizerBuchpreis 24/11

Sie hat ihn. Obwohl sie noch eine Stunde zuvor auf einem Sofa gleich neben der Garderobe des Stadttheaters Basel noch meinte, sie würde die Spannung kaum mehr aushalten und sei froh, wenn das Prozedere, das mit der Nomination zum Deutschen Buchpreis begonnen habe, endlich vorbei sei.

Weit gefehlt! Zumindest bricht für sie eine neue Welle über diese Sehnsucht nach Entspannung. Auch wenn der Traum, mit einem Teil des Preisgeldes den Garten in Ordnung bringen zu können, einer Erfüllung nicht mehr quersteht: Interview an Interview, Veranstalter*innen, die sich um sie reissen werden, Fernsehen, Radio. Entwicklungen, die ihr Hund nicht goutieren wird, war es doch schon erstaunlich genug, sie bei der Preisverleihung für einmal nicht mit ihrem treuen Begleiter anzutreffen.

Sie hat ihn. Mit 30000 Franken lässt‘s sich lange frei atmen. Und für alle noch folgenden Bücher wird das Etikett „Trägerin des Schweizer Buchpreises 2024“ nur hilfreich sein. Neben ihr auf dem Sofa sass Jonathan Michael Beck, ihr Verleger aus einem Haus, das seit einem Vierteljahrtausend im Dienste des gedruckten Buches steht und in dessen Ahnengalerie sich die Grossen der Deutschen Literatur reihen. Mit Zora del Buono gesellt  sich eine Autorin mit besonderer Auszeichnung dazu, die nicht nur den Preis redlich verdient, sondern mit ihrer Literatur stets grosse Fragen an das Leben stellt. Fragen, mit denen man sich unweigerlich auseinandersetzt, wenn man es nicht scheut, sich für die Antwort zu bewegen.

„Seinetwegen“ ist Vatersuche, Selbstsuche und gesellschaftliche Auseinandersetzung zugleich. Und „Seinetwegen“ schert sich formal wenig um gängige Muster, ist Notwendigkeit, Leidenschaft und Konfrontation. Keine Streicheleinheit, kein Nachttischenbuch, sondern die Aufforderung, sich mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen, nachzufragen, zuzuhören.

Zora del Buono hat erst spät zu schreiben begonnen, erst mit 45, nachdem sie mit dem Meeresbiologen Nikolaus Gelpke die Kultur- und Reisezeitschrift Mare gegründet hatte, ein Heft, das sich bis heute grosser Beliebtheit erfreut, eine Art des Schreibens, die ihr auch bei „Seinetwegen“ zugute kam. Unvergessen ist ihr Buch «Das Leben der Mächtigen – Reisen zu alten Bäumen», ein Buch über die Begegnung mit den ältesten Bäumen rund um die Welt, ein Buch, das bewies, dass Zora del Buono selbst den Bäumen zuhören kann.

Sie hat ihn verdient. So wie ihn alle Nominierten verdient hätten, einhellige Meinung bei allen Befragten an der diesjährigen Preisverleihung. Ein Kompliment an die Jury, die kein einziges Buch in die Shortlist setzte, das für Kopfschütteln und Unverständnis sorgte.

Ich gratuliere Zora del Buono von ganzem Herzen!

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Stefan Bohrer / Illustration © leale.ch

 

 

Wer wird es?- Der Blick in die Glaskugel #SchweizerBuchpreis 24/10

Eine Mehrheit auf der SRF/Kulturseite glaubt, Zora del Buono werde mit „Seinetwegen“ das Rennen um den Schweizer Buchpreis 2024 machen. Dass Michelle Steinbeck mit „Favorita“ dabei ziemlich abgeschlagen auf dem letzten Platz liegt, verwundert mich sehr.

„Mit dem Schweizer Buchpreis SBP zeichnen der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV und der Verein LiteraturBasel jährlich das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer:innen oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autori:nnen aus.
Ziel des SBPs ist es, jährlich fünf herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen und sie in der Schweiz und über die Landesgrenzen hinaus einem breiten Lesepublikum wie auch der internationalen Buchbranche bekannt zu machen“, steht im Reglement des Schweizer Buchpreises.

Mit „Seinetwegen“ von Zora del Buono täte die Jury alles richtig. Ein Buch einer Autorin, die ihr Können schon vielfach bewies. Ein Buch, das einer breiten Öffentlichkeit mit Recht gefällt. Ein Buch, das sogar Wenigleser*innen zur Lektüre verführen kann. Aber auch ein Buch, das die spezielle Aufmerksamkeit längst nicht mehr brauchen würde, war es doch auf allen Kanälen über Monate präsent. Auch wenn ich der Autorin jedes verkaufte Buch gönne, denn jedes verkaufte Buch birgt ein Stück Freiheit. Das geht aber allen Nominierten so.

Einmal mehr entscheidet der Mut der Jury. Verdient hätten es alle fünf Nominierten. Auf die eine oder andere Weise faszinierten sie mich alle, auch wenn „Polifon Pervers“ von Béla Rothenbühler mit Sicherheit am wenigsten mehrheitstauglich wäre. Literatur muss alles andere als mehrheitstauglich sein. Der Schweizer Buchpreis aber sehr wohl, ist er doch nicht zuletzt Werbefläche für den Buchhandel. Nichts interessiert den Buchhandel mehr als grösstmögliche Verkaufszahlen. (Deshalb sollten in der Jury meiner Meinung nach auch bloss Buchhändler*innen agieren. Das wäre ehrlich.)

Mariann Bühlers Aufstieg mit «Verschiebung im Gestein» in den CH-Literaturhimmel war und ist beachtlich und berechtigt. Martin R. Deans Roman «Tabak und Schokolade» ist das Bruderbuch von Zora del Buonos Roman «Seinetwegen» . Michelle Steinbecks „Favorita“ wäre die mutige Wahl. Ein Statement, dass Literatur etwas wagen muss, mehr als nur Offenheit oder Authentizität. Würde die Jury «Favorita» zum besten Buch des Jahres erklären (Was sowieso keines der fünf nominierten Bücher ist, gibt es doch weder klare Kriterien noch einen einheitlichen Geschmack), wäre der Preis eine Anerkennung für den Mut, die Freiheit, die Fantasie, das Unangepasste.

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Mein Favorit ist «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler. Ein literarisch wunderbar gelungenes Debüt mit der Geschichte von drei Dorfbewohnern, die eine existentielle Veränderung erfahren und sich neu orientieren müssen. Dies wird durch kluge kurze Texte über Verschiebung im Gestein gespiegelt und atmosphärisch kommentiert. Ich würde diesem Werk die Stimme geben.
«Tabak und Schokolade» von Martin R. Dean ist eine sehr berührende autofiktive Geschichte über Identitätssuche und Ausgrenzung, wir erfahren die Schweizer Kolonialgeschichte aus persönlicher Sicht. Für mich nur wenige Punkte unterhalb von «Verschiebung im Gestein».
«Seinetwegen» hat mich vom Inhalt her nicht so sehr interessiert, obwohl ich die Autorin sehr schätze. Zora del Buono ist sicher auch eine Favoritin für den Buchpreis.

«Polifon pervers» ist im Luzerner Dialekt auch für mich als Luzerner schwierig zu lesen, eigentlich eine Geschichte, die man hören müsste. Vom Inhalt her sehr witzig und cool, eine Kategorie für sich und müsste mit anderen Mundartwerken verglichen werden.
Die ersten paar Seiten von «Favorita» liessen bei mir keine Saiten anklingen. Ich hatte keine Lust, dieses Buch zu lesen. Möglicherweise sieht das die Jury ganz anders!“ Urs Abt, der Bär

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis #SchweizerBuchpreis 24/09

Mariann Bühler wurde für ihr Debüt «Verschiebung im Gestein» anlässlich der Weinfelder Buchtage der Weinfelder Buchpreis verliehen, eine Auszeichnung, die im Hinblick auf den Schweizer Buchpreis durchaus als Hinweis verstanden werden kann.

Angesichts unserer eigenen Endlichkeit erscheint das, was wir an Welt wahrnehmen, in eine Ewigkeit getaucht, unverrückbar, „in Stein gegossen“. Aber selbst das, was fest erscheint, ist einem Fliessen unterworfen. Mariann Bühler beschreibt drei Leben, die aufbrechen, zu fliessen beginnen, die sich verschieben, eine neue Richtung bekommen. Mariann Bühler tut dies derart souverän, dass das Staunen zum Schaudern wird! Tektonische Verschiebungen, die ganz langsam, kaum wahrnehmbar vonstatten gehen. Mariann Bühler beschreibt genau jene feinen Risse, die mit der Verschiebungen im Gestein einhergehen.

Ihr heute preisgekrönter Roman ist Mariann Bühlers Debüt. Debüt ja, aber bereits ein Meisterstück! Mariann Bühlers Buch besticht vielfach; zum einen die Konstruktion, das Übereinanderschichten verschiedener Leben, die Schichtungen im Buch selbst, zwischen den drei scheinbar unabhängigen Leben und den sanften, zarten Schilderungen, die die drei Leben in einen grösseren Zusammenhang, in einem grossen Bild zusammenfügen. Weiter die Sprache, die sich ganz dem Feinen zuwendet, nichts Reisserisches braucht und mit grosser Empathie maximale Nähe zum Geschehen erzeugt. Es sind die Geschichten von Suchenden, die auf ganz unterschiedliche Weise durch die Sedimente des Lebens geführt, geschoben und gezogen werden. Mariann Bühlers Roman ist Lesegenuss der Extraklasse. Ein Versprechen! Ein Versprechen, das nicht nur dieser Preis hier in Weinfalden gibt, nicht zuletzt auch die intakten Chancen, dass im November noch ein weiteres Ausrufezeichen dazukommen könnte, der Schweizer Buchpreis 2024.

Elisabeth lebt und arbeitet in einem Dorf. Der Tod ihres Mannes bringt sie gänzlich aus dem Trott, lässt sie taumeln, obwohl die Ehe mit ihm nicht das gebracht hatte, was sie sich noch zu Beginn erhofft hatte. Sie führten über Jahrzehnte die Bäckerei im Dorf, ein Geschäft, das Jakob so wie immer führen wollte und die vorsichtigen Änderungs- und Anpassungsvorschläge seiner Frau stets mit Trotz und aufbrausenden Drohungen quittierte. Drohungen, die Jakob mitunter auch mit Schlägen verdeutlichte. Elisabeth, ein halbes Leben in die Pflichten einer Familienfrau, Mutter, Ehefrau und „Angestellte“ eingebunden, muss sich nach dem Auszug ihrer Tochter und dem Tod ihres Mannes neu aufstellen. Das alte Leben soll enden, auch die Rolle, die Elisabeth im Dorf einzunehmen hatte. Nach Wochen, in denen die Notiz an der Einganzstür zur Bäckerei langsam zu vergilben begann, öffnet Elisabeth wieder die Tür zur Bäckerei. Nur mit dem Unterschied, dass sie es ist, die nun den Lauf der Dinge bestimmt.

„Anfangs erschrak Elisabeth, wenn Jakob spurlos im Bäcker verschwand. Mit den Jahren entwickelte sie ein Frühwarnsystem, wie es das für Erdbeben gibt.“

Mariann Bühler «Verschiebung im Gestein», Atlantis, 2025, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7152-5040-3

Alois ist Bauer. Ob er den Hof damals hätte übernehmen wollen, stand nie zur Frage. Er wuchs über die Jahre in diese Rolle hinein. So wie seine Eltern alt und gebrechlich wurden und mit der Zeit nicht mehr die Kraft hatten, so gab er sich immer mehr in die Aufgaben des Bauern hinein. Eine Aufgabe, die mehr und mehr zur seinen wurde, eine Selbstverständlichkeit, ein Naturgesetz. Aber in Alois stiller Ergebenheit blieb stets ein Rest Zweifel. Sollte es das gewesen sein? Nur schon die dauernden Sticheleien der Eltern, weil sich keine Bäuerin finden wollte, oder die Erzählungen im Musikverein von grossen Abenteuern, stellen Alois Innenleben auf eine harte Probe. Selbst seine Schwester, die mit ihrer Familie im gleichen Dorf lebt, spürt, dass da etwas ist, was ausbrechen will. Bis sich Jakob entschliesst, den Hof zumindest für ein Jahr zu verpachten und reissaus zu nehmen, all die Pflichten hinter sich zu lassen.

„Wenn er Halt zu verlieren drohte, hielt er sich an Heugabeln, Besen, Steuerrädern fest.“

Und da ist Ruth, von der Mariann Bühler manchmal in der dritten Person, als Ruth erzählt, und manchmal in der Du-Form, als wäre die junge Frau gleich neben der Erzählstimme, würde sie sie durch das Geschehen schieben. Die junge Frau kehrt ins Dorf zurück, holt sich die Schlüssel für das schon lange unbewohnte Ferienhaus hoch über dem Dorf. Ein kleines Haus, in dem die Zeit still gestanden ist, die Luft sich über Jahre nicht bewegte. Das Haus soll verkauft werden. Ruth trägt ihr Leben hinauf in dieses Haus, die Suche nach ihrem Platz, die Bilder und Stimmen aus ihrer Vergangenheit, einer Familie, in der sich der Schmerz tief eingegraben hatte.

„Du hast dich mit deiner Schwester vom Wald verschlucken lassen, vom Tobel, vom Bach und den moosigen Steinen. Ihr habt eure Mädchenhaut mit den Gummistiefeln abgestreift und seid zu Zwergen geschrumpft, habt aus Tannennadeln und Lehm Häuser gebaut, seid als Löwen mit Mähnen aus Farn durch den Urwald geschlichen, als Hexe mit Tannenzapfennase und Astbesen.“

Jeder Ausschnitt aus diesem Buch zeigt, wie bildhaft Mariann Bühler erzählt, wie sie mit malerischer, zeichnerischer Freude mit Sprache umgeht, wie nah sie sich den Menschen und ihrer Geschichte zuwendet.
Mariann Bühler erzählt von drei Leben, die sich erst nach und nach miteinander verweben. Drei Leben, die sich über- und untereinder verschieben, aufeinanderstossen und sich aufwerfen. Erst über die Zeit wirksame Kräfte, die an ihren Rändern brechen und Abgründe sichtbar machen. 

Ein beeindruckendes Kunststück! Ein Buch, dass das Herz öffnet.

Interview

Nun ist er draussen, Dein erster Roman, an dem Du ganz offensichtlich sehr lange und intensiv gearbeitet hast. Was bis vor kurzem noch ganz Dir gehörte, liegt nun auf Tischen in Buchhandlungen zum Kauf bereit, wartet auf Nachttischchen und in Bücherstapeln auf die Lektüre und auf den Schreibtischen der Rezensenten auf Zuspruch oder Ablehnung. Wie sehr verändert die Veröffentlichung Deines Buches Dein Leben, oder zumindest die zeitliche Ausrichtung?
Diese Frage würde ich in einem Jahr vermutlich anders beantworten, jetzt, kurz nach Erscheinen des Buches beantworte ich sie so: Ich freue mich darüber, dass ich diesen Text und seine Figuren nun mit allen, die ihn lesen wollen, teilen kann. Und ich freue mich auf die Reaktionen darauf – darauf, dass ich dank den Leser*innen den Text selbst noch einmal mit neuen Augen sehen kann. Ich bin gespannt, was auf mich zukommt, welche Wege dieser Roman nehmen wird. Und wie das weitergeht mit meinem Schreiben.

© Mariann Bühler

Die Menschen, von denen Du erzählst, sind Gefangene. Sie alle versuchen auf die eine oder andere Weise auszubrechen, geschoben oder gezogen. Ich bin sicher, dass Du mit dem Thema Deines Romans eine menschliche Ursehnsucht ansprichst, seien es nun kleine oder grosse Ausbrüche, haben wir Menschen doch wie kein anderes Lebewesen die Fähigkeit, uns selbst zu fesseln, zu blockieren – bis zur vollkommenen Lähmung?
Wir alle sind Teil eines Gefüges – da sind zwischenmenschlich Beziehungen, die über Jahre wachsen und uns prägen, ein soziales, berufliches, familiäres Umfeld, das uns ebenso formt wie wir unseren Platz in der Welt mitformen. In manchen Situationen verspricht das Verharren im Bekannten mehr Sicherheit als eine Verschiebung ins Unbekannte. Gleichzeitig geschehen manche Veränderungen, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn die Situation eng aussieht, wenn es scheint, dass alles stillsteht, gibt es einen kleinen Spielraum. Ich mag das englische Wort für Spielraum, «wiggle room», wiggle heisst wackeln oder schlängeln, ich stelle mir einen ganz kleinen Raum vor, der sich durch konstante, kleine Bewegungen verändern und erweitern lässt. Ich mag dieses Bild, darin ist eine Zuversicht.

Warum schaffen wir es nicht, Veränderungen selbst zu provozieren? Warum gelingt uns eine Veränderung meist erst dann, wenn wir sie im Windschatten anderer Ereignisse vollziehen können, wenn das Beben bereits stattgefunden hat, wenn die Risse in den Versteinerungen aufgebrochen sind?
Wir können alle nicht aus unserer Haut. Unser bisheriges Leben hat sich in uns eingeschrieben, hat unsere Möglichkeiten und Grenzen geformt. Tiefgreifende Veränderungen geschehen nicht notwendigerweise mit Pauken und Trompeten und einem einzigen umgelegten Hebel, sondern leise, über eine lange Zeit, unter der Oberfläche. 
Für meine Figuren kommt das Beben nicht plötzlich. Auf den ersten Blick vielleicht, aber bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich das schon lange angebahnt hat. Wie die tektonischen Verschiebungen, die lange bevor wir sie begreifen konnten, stattgefunden haben, braucht es manchmal Zeit, die Risse, die Aufbrüche als solche wahrzunehmen.

Ich bin tief beeindruckt von der Sprache und der Erzähltechnik Deines Romans. Wie weit bist Du Deiner Intuition gefolgt? Oder war da eine Strategie, ein Plan? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Roman das Resultat eines chronologischen Schreibens sein kann. Viel mehr macht er den Eindruck, als wäre es der Sud eines langen Entstehungsprozesses, ohne dass der Roman dabei seine Leichtigkeit eingebüsst hätte.
Der Entstehungsprozess war alles andere als geradlinig. Ich bin im Arbeitsleben die, die für alles eine Liste und einen Plan erstellt. Im Schreiben funktioniere ich offenbar anders. Erst ganz am Schluss gab es eine Liste, die mir den Überblick über die Kapitel erleichterte und die Struktur, die Schichtung, zeigte. 
Davor war alles in Bewegung. So viel in der Schwebe zu halten, war manchmal schwer erträglich, im Nachhinein aber wichtig: Ich konnte Szenen, die nicht funktionieren wollten, an einen anderen Ort schieben, in ein anderes Lebensalter der Figur – oder sie einer ganz anderen Figur zuordnen. So wurde manchmal ein scheinbar unwichtiges Motiv, von dem ich mich nicht recht trennen konnte, wie die Narbe an Alois’ Finger, zentral. Bei jeder Figur gab es einen – manchmal ziemlich ausgedehnten – Moment, wo es nicht weiter ging, wo sich etwas in meiner Wahrnehmung verschieben musste, damit etwas, das ich nicht geplant und manchmal nicht einmal geahnt hatte, Form annehmen konnte. Auf das Geologische bin ich per Zufall gestossen. Ich bin staunend in diese Sprache eingetaucht, die mir genau die Bilder und Prozesse geliefert hat, die mir fehlten. 
Der Text hat die lange Gärphase gebraucht, ich habe sie gebraucht, um besser zu verstehen, was ich schreibe und wie ich schreibe. Welche Möglichkeiten ich habe und wie ich sie nutzen kann. Dem Prozess zu vertrauen und nichts voreilig festzumachen.

© Mariann Bühler

Da gibt es Szenen in der Backstube oder im Stall, die unmöglich ohne persönliche Erfahrungen hätten entstehen können. Ganz offensichtlich wolltest Du nicht nur bei deinen ProtagonistInnen nah rangehen, sondern auch in dem, was sie tun. Kannst Du melken und grosse Mengen Brot backen?
Mir war es wichtig, diese Arbeitsprozesse abzubilden, weil sie viel über die Figuren erzählen und auch als Gegenstück zu den geologischen Verschiebungen. Das Backen und Melken sind auf den ersten Blick repetitive Arbeiten, die jeden Tag gleich geschehen. Gleichzeitig verändern sie sich dauernd: Wer backt oder melkt, braucht ein grosses Erfahrungswissen und ist sich einer Vielzahl von Faktoren bewusst, trifft dauernd kleinste Entscheidungen, um den Prozess an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen, führt also dauernd die für das Gelingen nötigen Veränderungen herbei. So durch und durch gekonntes Handeln finde ich sehr schön – fast wie ein Tanz. 
Ich habe selbst zwar einmal gelernt, ein Melkmaschinenaggregat an ein Euter zu hängen, und würde von Hand etwas Milch aus einer Kuh bekommen, aber wirklich melken kann ich nicht. Beim Backen ist es ähnlich, ich backe gerne mal einen Zopf, aber in grossen Mengen Brot backen, das kann ich nicht. Da war ich beim Schreiben auf das Wissen anderer angewiesen. Ich habe zum Beispiel eine Bäuerin besucht, die jede Woche aus mehreren hundert Kilo Mehl Brot backt, konnte ihr bei der Arbeit zuschauen und Fragen stellen. Das war sehr wichtig: Den blossen Ablauf dieser Arbeit hätte ich aus Texten und Videos zusammenschustern können, aber beim Beobachten wurden die Bewegungen, Konsistenzen, Materialitäten, das ganze verkörperte Wissen, wahrnehmbar. 
Beim Melken und auch beim Holzen war es ähnlich: Die Bewegungen und Körperhaltungen kenne ich seit meiner Kindheit, meinte, mich an die Abläufe erinnern zu können – und musste dann feststellen, dass meine Erinnerung ungenau war. Zum Glück hatte ich einen Testleser für die landwirtschaftlichen Dinge, der mir Reihenfolgen und Aufgabenteilungen geradegerückt hat. Das lässt sich nicht googeln, um das zu vermitteln braucht es Menschen mit entsprechendem Wissen.

Was mich ebenfalls beeindruckte, sind beschriebene Stimmungen. Seien es Stimmungen in Szenerien oder solche in den Innenwelten deiner ProtagonistInnen. Klar ist Empathie eine Voraussetzung, um sich in solche Innenwelten hineinzubegeben. Wann merkst Du, dass das Gleichgewicht zwischen Nähe und der nötigen Erzähldistanz erreicht ist?
Da muss ich nachdenken. Die Stimmungen waren mir wichtig, vielleicht, weil sich damit manchmal die Innenwelten nach aussen übersetzen lassen, wenn den Figuren nicht nach Reden ist. Die können und wollen nicht alles in Worte fassen, was in ihnen vorgeht. Da habe ich versucht, ihre Umgebung so zu beschreiben, dass nachvollziehbar wird, was in den Figuren vorgeht. 
Ich glaube, bei den Figuren entsteht das Gleichgewicht in der Bewegung, im Wechsel zwischen Nähe und Distanz. Die richtige Erzähldistanz zu finden war nicht ganz einfach. Der Vorteil war, dass ich zwischen den Strängen hin und her wechseln konnte. Wenn ich bei Elisabeth nicht weiterkam, konnte ich beispielsweise zu Alois wechseln und schauen, ob der gerade gesprächiger ist. Das brauchte Geduld: So, wie wir anderen Menschen nicht im ersten Gespräch unsere tiefsten Geheimnisse verraten, musste ich die Figuren erst kennenlernen, langsam erarbeiten, was sie umtreibt und mich manchmal ebenso selbst überraschen lassen wie auch mal einzugreifen als Autorin, bewusst eine Weiche stellen im Text. 
Die Distanz zu den Figuren verändert sich noch immer: Anfangs war es nicht leicht, ihnen nah genug zu kommen. Kurz vor dem Ende der zweiten Fassung waren sie mir so nah, dass ich abends nicht einschlafen konnte vor Sorge um sie, ob das alles gut kommt – eigentlich absurd, schliesslich gab es sie nur in meinem Kopf und in einer Datei. Und jetzt, wo das Buch da ist, gehen sie ihre eigenen Wege.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. «Verschiebung im Gestein» ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Weinfelder Buchtage 2024

Webseite der Autorin

«Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» (13) #SchweizerBuchpreis 24/08

Lieber Gallus

Nein, «Favorita» von Michelle Steinbeck habe ich bisher nicht gelesen. Meine jetzige Lektüre ist wahrlich ein Gegenpol: «Mitten im Wind» von Thomas Röthlisberger, der vor zwei Jahren mit «Steine zählen» auch für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde.

«Mitten im Wind» beschäftigt sich mit den gleichen, inzwischen älter gewordenen Akteuren und spielt ebenso in Finnland. Fast alle Protagonisten blicken zurück auf Lebensabschnitte, wo sie Weichen gestellt und mehr oder wenig überlegte Entscheidungen getroffen haben. Oft folgten unerwartete Schwierigkeiten und drohendes Scheitern. In Kapiteln aus wechselnden Perspektiven erfahren wir, wie Matti mit seiner unerfreulichen Situation, da Märta ihn nach vierzig Jahren verlassen hat, umgeht. Oder wie Pekka auf der Suche nach seinem verschollenen leiblichen Vater in die einsame Gegend im Norden Finnlands aufbricht. Hendrik als Polizeibeamter wagt Beziehungen zum illegalen Pelzhandel an der Grenze zu Russland. Der verkiffte Olli erlebt unerwartet Unterstützung aus unbekannter Hand, um sein Leben zu ordnen. Nach und nach werden Zusammenhänge deutlich. Ein einrahmendes und in mehreren kurzen Einwürfen auftauchendes Auftreten einer schwarzen Katze spiegelt das Leben von Matti, seinen Umgang mit Unerwartetem, Ungerechtem und Verletzendem.

In «Mitten im Wind» bleibt vieles offen, in der Schwebe. Mich hat die melancholische, oft an die Musik von Sibelius anklingende Atmosphäre der abgeschiedenen Landstriche, Häuser und Gasthöfe Finnlands berührt, ich habe das Buch gerne gelesen und ich bin den Schicksalen von Matti, Märta, Olli, Pekka und Henrik (um die Wichtigsten zu nennen) mit Interesse gefolgt.

Insgesamt ein ruhiges, durchaus auch spannendes und lesenswertes Buch.

Hast du das Buch auch gelesen?

Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein, 2024, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-98816-000-3

Vielleicht liest Du «Favorita» ja doch noch, auch wenn das Buch nicht bloss unterhalten will. Aber ich weiss, dass Du zu den Feinschmeckern gehörst und dass Du daran interessiert bist, beim Lesen neue Welten aufzutun. Michelle Steinbeck tut genau dies. Und zwar weit über die Themen des Buches hinaus. Schon in ihrem Debüt «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» schaffte sie es, in einem ganz eigenen Ton zu erzählen. Ein Umstand, der ihr viel Respekt schenkte, es wiederum manchen Leser*innen schwer machte, einen Zugang zu ihrem Buch zu finden. Elke Heidenreich meinte damals im SRF-Literaturclub: Wenn das die neue Generation ist, dann Gnade uns Gott – ein Satz, der dem Buch mit Sicherheit nicht geschadet hat und beweist, dass sich selbst eingefleischte Literaturkritiker*innen ins Offsite manövrieren können. Im Zusammenhang mit einer Buchbesprechung zu ihrem Lyrikband «Eingesperrte Vögel singen mehr» schrieb mir Michelle Steinbeck: Michael Fehr hat mir mal doziert, ich solle in der Lyrik dahin, wo es wehtut. Wo es unangenehm wird. Diese Maxime scheint der Autorin auch in ihrem Roman «Favorita» wichtig gewesen zu sein. Literatur, die nur schmeichelt und in einen leicht entrückten Zustand versetzt, interessiert die Autorin nicht.

«Mitten im Wind» von Thomas Röthlisberger ist eines der Bücher, das ich nicht zu Ende las, das ich weglegte. Wenn ich das schreibe, bedeutet das nicht, dass das Buch kein gutes gewesen war. Die Gründe, warum ich ein Buch weglege, sind subjektiv. Ich weiss aus Erfahrung, dass Bücher bei mir manchmal einfach nicht den richtigen Zeitpunkt erwischen. «Favorita» von Michelle Steinbeck ist das beste Beispiel dafür. Erst beim zweiten Versuch waren meine Geschmacksnerven dafür offen. Erst beim zweiten Mal stiess das Buch auf die Resonanz, die es erzeugen will. Das Buch vor «Mitten im Wind» fand ich äusserst beeindruckend. «Steine zählen» war eine Offenbarung, nicht zuletzt, weil da ein Schweizer fast skandinavisch erzählt. Vielleicht hatte meine Leseblockade auch damit zu tun, dass ich Büchern, die Geschichten einfach wieder aufnehmen, die nach Fortsetzung riechen, nicht traue, auch wenn es Schriftsteller*innen gibt, die ihrem Personal ein Leben lang treu bleiben. Wenn Du schreibst, das Buch hätte dich an die Musik von Sibelius, an die Atmosphäre abgeschiedener Landstriche, Häuser und Gasthöfe Finnlands erinnert, dann ist das genau das, was es braucht. Resonanzräume in der Leserin, im Leser. Und da wir alle so sehr verschieden sind, ist es auch nicht verwunderlich, dass es im Empfinden der Qualitäten eines Buches keine Allgemeingültigkeiten gibt. Ich kenne Menschen, für die ist der Nobelpreisträger Jon Fosse das Mass aller Dinge. Aber ich kenne auch Menschen, die es mehrfach mit Jon Fosse versuchten – und scheiterten. Ich bin kolossal gescheitert an Robert Musils «Der Mann ohne Eigenschaften», würde aber nie und nimmer an den Qualitäten dieses Buches zweifeln.

Liebe Grüsse

Gallus

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein #SchweizerBuchpreis 24/09

Eine Geschichte aus Wirklichkeit und Traum, Wahn, Fantasie und Halluzination. Angeschrieben gegen die Realität nicht ernst genommener Femizide, erzählt in einer Sprache, die funkelt und blendet, in Bildern, die sich festsetzen und bleiben. „Favorita“ ist ein literarisches Schwergewicht.

Als hätte Michelle Steinbeck eine Weile an der Seite von Quentin Tarantino geschrieben. Fila, eine junge Frau, die bei ihrer italienischen Grossmutter in der Schweiz aufgewachsen ist, bekommt einen Anruf aus einem Spital in Neapel, dass ihre Mutter getötet worden sei. Sie solle der aufgetischten Diagnose „Schrumpfleber“ nur ja nicht trauen. Fila macht sich auf nach Italien auf der Suche nach Erklärungen, Spuren, Hinweisen über ihre Mutter. Eine Mutter, die nie für sie da war, von der sie und ihre Grossmutter nur hie und da Postkarten von immer wechselnden Grossstädten bekamen, von der die Grossmutter nur immer und immer wieder warnte, sie Fila solle nicht so werden wie die vom Weg abgekommene, gefallene Mutter.

Fila taucht in die Zwischenwelt Neapels, mit der Urne ihrer Mutter. Dort trifft sie im Milieu auf Frauen, die ihre Mutter nicht nur kennen, sondern in ihrem Dienst standen, die Fila ziemlich schnell klar machen, dass ihre Mutter durch die Hände ihres siebten Ehemannes starb und es nur einen Weg zur Klärung geben würde, wenn sich Fila an ihre hochhackigen Fersen kleben würde. Fila taucht in eine Welt der Abgründe. Nach einer wilden Flucht und einem Inferno in einer besetzten, ehemaligen Salamifabrik wird Fila im Auto eines fremden Mannes in ein abgelegenes Dorf gefahren, in ein grosses Haus, in eine Villa, in der sie sich verstecken soll.

Michelle Steinbeck «Favorita», park x ullstein, 2024, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-98816-000-3

In jenem Dorf erfährt Fila vom Schicksal einer jungen Frau, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Wald bei eben diesem Dorf ermordet wurde. Ein kleines, unscheinbares Mahnmal erinnert an den grausamen Tod und an die Tatsache, dass nie abschliessend ermittelt werden konnte, wer der hübschen jungen Frau unmittelbar vor ihrer Hochzeit die Kehle durchgeschnitten hatte. Fila beginnt in den Archiven zu forschen und erfährt von einem Prozess gegen den Verlobten der damals Getöteten, der wohl verurteilt, aber nicht einmal zwei Jahre nach dem Urteil bei Wiederaufnahme des Prozesses aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen wurde. Nicht nur weil die Beweise gegen ihn nicht hieb- und stichfest gewesen wären, sondern weil der Druck der Öffentlichkeit, die nicht haben wollte, dass so ein «armer» Mann im Gefängnis schmort, weil seine Verlobte die Finger nicht von anderen Männern lassen konnte, immer grösser wurde.

Für Fila wird das Schicksal jener jungen Frau untrennbar verwoben mit dem Schicksal ihrer Mutter, denn es wird immer deutlicher, dass ein Mann, der letzte Mann ihrer Mutter, die Ursache für den Tod ihrer Mutter war und man alles daran setzte, diesen Mord zu vertuschen. Fila lässt nicht locker, erst recht nicht, als sich „ihr Vater“, jener Mann im Gefolge eines ganzen Trosses neofaschistischer Gesinnungsgenossen zu einem geheimen Treffen in jener Villa ankündigt, in die man Fila versteckt hatte. Fila wird zum Racheengel. Was sich über 450 Seiten zuspitzt, wird in den letzten Seiten zu einem Finale, an dem auch Tarantino seine Freude hätte.

Das ist die Geschichte, eine Geschichte, für die es aber nicht unbedingt 450 Seiten gebraucht hätte. Da ist auch das mit eingeschriebener Wut gegen eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen nicht ernst nimmt, die die Schuld fast reflexartig in den Opfern selbst sieht und Täter nie wirklich zur Rechenschaft zieht. Aber dafür hätte es auch nicht 450 Seiten gebraucht. Was mich diesen Roman über 450 Seiten mit Hochgenuss lesen lässt, und das ist als Mann nicht ganz einfach, ist die Sprache, dieses Mäandern zwischen den verschiedensten Ebenen der Wahrnehmung. Da sprechen Geister, da driftet das Geschehen ins Fantastische ab, da schillern Spiegelungen. Man spürt neben der Wut die Lust. Es knallen die Farben ebenso wie die Dichte überzeugt. Michelle Steinbeck will weder gefallen noch unterhalten. Sie malt ein Sittenbild der Gegenwart, auf das man sich einlassen muss – und für das es sich mehrfach lohnt, 450 Seiten zu lesen!

Michelle Steinbeck, geboren 1990, aufgewachsen in Zürich, schreibt Prosa, Lyrik, und für Theater, Magazine und Zeitungen. Ihr Debütroman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war nominiert für den Schweizer sowie den Deutschen Buchpreis 2016; 2018 folgte der Gedichtband «Eingesperrte Vögel singen mehr«. Ihre Bücher und Reportagen wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Sie ist Kolumnistin der WOZ – Die Wochenzeitung und Mitbegründerin des Autorinnenkollektivs RAUF in Zürich. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Paris, Hamburg lebt sie zurzeit in Basel.

Illustrationen © leale.ch

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck #SchweizerBuchpreis 24/08

Zora del Buonos Roman „Seinetwegen“ ist ein Vaterbuch. Vaterbücher gibt es viele. Aber weil sie damals, als ihr Vater nach einem Autounfall starb, noch nicht einmal ein Jahr alt war, blieb dieser wie ein Geist im Hintergrund verborgen. „Seinetwegen“ ist eine literarische Vergegenwärtigung, eine vielfache Auseinandersetzung zwischen Opfer und Täter – der Roman in seiner Art ganz eigen.

Das Unglück, den Vater mit acht Monaten zu verlieren, bleibt nicht nur an der Tochter ein ganzes Leben haften. Damals verlor sie ihren Vater. Ihre Mutter ihren Mann. Er wurde 33 Jahre alt und war vielversprechender Radiologe am Kantonsspital in Zürich. Ihre Mutter heiratete nie mehr. Und während die Autorin mit ihrem 60. Geburtstag immer mehr den Wunsch nach Klärung verspürt, sinkt ihre Mutter im Heim in eine Demenz. Wer war der Mann, der bei einem waghalsigen Überholmanöver mit dem Auto ihres Vaters kollidierte? Lebt er noch? Wie lebt es sich, wenn man vor Gericht seine Schuld bekennt? Und wie konnte es sein, dass jener Mann, der mutmasslich zu schnell und mit ungenügenden Bremsen unterwegs war, mit 200 Franken Busse und einer bedingten Strafe davonkam? Warum war der Tod des Vaters nie ein Thema zwischen Mutter und Tochter?

Zora del Buono «Seinetwegen», C. H. Beck, 2024, 204 Seiten, mit Abbildungen, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-406-82240-7

Am Steuer jenes weissen VW-Käfers sass damals der Bruder der Mutter. Er überlebte schwer verletzt, während Zora del Buonos Vater im Spital nach einer Woche an seinen Verletzungen starb. Vom Unfallverursacher, den die Autorin nicht Täter, sondern Töter nennt, weiss sie, dass er ebenso alt war wie ihr Vater damals und sie kennt seine Initialen; E. T. Was die Tochter über ihren Vater weiss, ist, das, was man sich erzählt, nicht die Mutter, aber in der Familie. Einige Fotos, aus denen mit den Jahren Erinnerungen werden. Zora del Buono besucht ihre demente Mutter, eine Frau, die ein ganzes Leben eine elegante Erscheinung war, attraktiv, die sich aber nie mehr wirklich auf einen Mann einliess, geschah das doch in einer Zeit, in der man erwartet hätte, dass die Witwe noch einmal heiraten würde, nur schon wegen der kleinen Tochter.

Zora del Buono macht sich auf die Suche. Auf die Suche nach Antworten auf immer und immer wieder gestellte Fragen, nach Klärung, nach jenem Mann, der sich hinter den Initialen E.T. verbirgt, nach Gründen, warum die Geschichte ihrer Familie und ihre eigene Geschichte jene Richtung eingeschlagen hatte. Warum das Schweigen überall durchbrochen werden muss. Warum das Wohin ins Wanken gerät, wenn das Woher im Dunkeln bleibt. Was wäre geworden, wenn der Unfall nicht passiert wäre? Was wäre aus ihrem Leben geworden, einem Leben, das in keine Familie münden sollte?

Aber „Seinetwegen“ ist nicht einfach eine literarische Recherche. Zora del Buono mäandert. Ihre Suche ist alles andere als geradlinig, manchmal durchaus entschlossen, mutig und unnachgibig. Dann wieder zerstreut, auf Nebenstrassen und Umwegen, zögerlich. Eine Mischung aus Fragmenten aus Leben, die aus dem Nebel auftauchen, Recherchefetzen, die hängen bleiben, Notaten, die nur noch rudimentär mit dem Ursprünglichen zu tun haben, bis hin zu Statistiken über Verkehrstote, in denen sich die Autorin Fingerzeige erhofft oder Geschichten prominenter Opfer wie Albert Camus oder James Dean. Sie macht sich auch örtlich auf den Weg, mit dem Auto auf jener Strasse, auf der die beiden Autos zusammenkrachten, bis in den Kanton Glarus, jenes Tal, aus dem der Töter gefahren kam, mit seinem protzigen Chevrolet. Sie fragt nach, im Tal, auf Ämtern, in Archiven. Bis aus dem Töter ein Mensch wird. Bis aus den Initialen ein Name wird. Aus der Untat ein Leben.

„Seinetwegen“ ist voller Spiegelungen in die Lebensgeschichte der Autorin, ihre Vergangenheit in Bari, ihre Familie, das Leben ihres Vaters, der aus dem grossgeschrieben Del ein kleingeschriebens machte, das Leben ihrer Mutter bis in die Demenz der Gegenwart und jenen Moment, wo eine Einweisung ins Heim unausweichlich wird. „Seinetwegen“ ist weder Abrechnung noch Anklage. Dafür ein vielstimmiges Eintauchen, eine beinahe zärtliche Annäherung, nicht nur an den Vater, auch an die Mutter und all die Schicksale ihrer Familie.

Grossartig geschrieben und eine Einladung!

Interview

Du mäanderst, Du lauscht allen Stimmen, auch jenen, die Dich nicht zielgenau auf den Punkt bringen. Und Du stellst Dich Fragen, denen sich viele nicht stellen wollen, Fragen gegen das Schweigen. Auch dein letzter Roman „Die Marschallin“ beschäftigt sich mit Deiner Familie, Deiner Herkunft. Es gibt zwei Philosophien, sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Die eine sagt „Blick nach vorne“, „Bloss keinen Dreck aufwühlen“, „Lass die Vergangenheit ruhen“. Die andere mahnt, dass es keinen klaren Blick nach vorne gibt, wenn das Woher vernebelt ist. Die Politik zeigt uns sehr gut, was mit vernebelten Blicken in die Vergangenheit geschieht. Steckt in Deinem Buch auch ein Stück Mahnung?
Als Mahnung ist es nicht gedacht, höchstens als Mahnung an Autofahrer, verantwortungsvoll zu sein, weil ein Moment der Unaufmerksamkeit viele Leben zerstören oder beenden kann – ein Thema, das in unserer Gesellschaft zu wenig beachtet wird. Das Auto ist eine heilige Kuh. Deswegen habe ich auch Statistiken eingebaut. Aber ja, ich denke, es ist meistens besser, sich dem Vergangenen zu stellen. Allerdings gibt es auch gute Gründe, Dinge ruhen zu lassen, zum Beispiel, wenn sie zu mächtig sind für einen, zu angsteinflössend, einen zu überwölben drohen. Dann kommt vielleicht später der Zeitpunkt, sich ihrer anzunehmen.

Mich erstaunt die Resonanz, die seit dem Erscheinen Deines Romans die Scheinwerfer lenkt. Ist es das Vaterthema? Die Vielfalt an Themen, mit denen Du Dich in Deinem Buch auseinandersetzt?
Das musst du eigentlich die LeserInnen und das Feuilleton fragen. 
Ich denke nicht, dass es das Vaterthema ist, sondern eher die Vielfalt, die daraus folgende Architektur des Textes. Die Konzentration. Die Ehrlichkeit. Und die Dynamik. Es ist ja ein schnelles Buch. Ich versuche, die Leser und Leserinnen mitzunehmen auf meine Reise, lade sie gewissermassen dazu ein, mit mir die Welt zu entdecken, die äussere und die innere, das spüren sie vielleicht. Und es ist versöhnlich (in diesen so unversöhnlichen Zeiten), das haben mir Leute nach der Lektüre geschrieben, tröstlich auch. Es spricht viele Themen an: Verlust, Tod, Alleinsein, Mut, Schuld, Lebenslust, Liebe, Liebe auch zur Landschaft (und zu Hunden), aber auch Dinge wie der Umgang mit demenzkranken Angehörigen und Familie überhaupt. Das sind Themen, die uns alle betreffen, universelle Themen. Da geht es um viel mehr als um meine eigene kleine Biografie. 

Literatur beschäftigt sich immer mit der Frage, dem Thema „Was wäre wenn“. Auch wenn in der Gegenwart das autofiktionale Schreiben die reine Fiktion fast zu verdrängen scheint. So wie in Filmen mit „nach einer wahren Begebenheit“ Sentimentalitäten noch gefühlsschwerer werden. Obwohl Du Dich mit Deiner Geschichte beschäftigst, vermeidest Du alles, was emotional abdriften könnte. Ist dieses „Mäandern“ ein Stilmittel gegen zu viel Emotion?
Sehr schön gesagt. Ich versachliche zu emotionale Themen, zum Beispiel mit der «Liste der eigenen Deformationen». Das wird dann nüchterner. Hätte ich diese Stelle als Fliesstext geschrieben, hätte es ins Weinerliche umschlagen können, ins Sentimentale. So betrachte ich mich von Aussen, nüchtern eben. Ich mag Nüchternheit.

© Zora del Buono

Der „Töter“ Deines Vaters macht im Buch eine erstaunliche Wandlung durch. Nicht er als Person, aber Deine Wahrnehmung, Deine Sicht. War das für Dich im Schreibprozess überraschend? Geschah die Wandlung während des Schreibens oder war sie Teil Deiner Absicht?
Es war für mich die grosse Überraschung. Was ich über ihn rausgefunden habe, hat ihn mir näher gebracht. Ein zeitlebens negativ besetztes Phantom wird im Laufe der Recherche Mensch. Das war bewegend. Auch traurig. Weil ich sah, was die Schuld mit ihm angerichtet hat. 
Es hat sich alles während des Schreibens entwickelt. Drum war das Schreiben auch so schön, weil es für mich selber überraschend war, immer wieder passierten neue Dinge, knüpften sich verblüffende Fäden, geschahen unglaubliche Zufälle, wahrscheinlich, weil ich ganz offen war. Das ganze Buch war ein einziges schnelles Abenteuer. 

Du mischst ganz verschiedene Stilmittel. Manches liest sich wie ein Essay, anderes wie eine Reportage. Man findet Protokolle neben Erinnerungen. Du wolltest nicht in erster Linie die Geschichte Deiner Familie nachzeichnen. Schon gar nicht Verlustschmerz oder den Fall einer fahrlässigen Tötung und deren Auswirkungen beschreiben. War das geplante Absicht oder begann das Buch erst an einem gewissen Punkt Gestalt anzunehmen?
Ich bin eine sprunghafte Person. Diese Textform entspricht meinem Wesen sehr. Ich hüpfe von hier nach da, finde etwas Interessantes, gehe dem nach, kehre wieder zurück und nehme den roten Faden wieder auf, finde wieder etwas Neues, sause hin (auch im wörtlichen Sinn, gehe also raus in die Welt, schaue mir Orte an, rede mit Leuten). So ist auch der Text geworden, das hat sich ganz organisch entwickelt. Zudem liebe ich Bücher mit kurzen Absätzen. Habe ich immer geliebt, das gehört zu meiner literarischen Sozialisation. Das zweite Tagebuch von Max Frisch etwa. Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes oder Träume von Räumen von George Perec. Ich habe sowieso mehrere Seelen in meiner Brust, ich bin Architektin, Redakteurin, Reporterin, Schriftstellerin. Jede von ihnen schaut anders, schreibt anders. Grundsätzlich hat sowieso jede Textform ihre Berechtigung und Schönheit. Und ich konnte einige davon in einem Buch vereinigen, das war herrlich. 

Mit diesem Roman schaust Du in einen Spiegel. Es gibt Menschen, die brauchen den Spiegel bloss, um Pickel auszudrücken oder die Haare zu richten. Die Politik ist voller Menschen, die den Spiegel nur noch für die Frage brauchen „Wer ist die/der Schönste im Land?“. Dein Schreiben ist Selbstreflexion in Reinkultur. War da nie ein bisschen Angst, zu viel preiszugeben?
Doch, natürlich hatte (und habe) ich Angst davor, zu viel preiszugeben. Ich bin sehr nackt in dem Buch. Aber das gehört zum autofiktionalen Schreiben eben dazu. Dass man ein Risiko eingeht.

© Zora del Buono

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Autorin von Romanen und Reisebüchern.

Zora del Buono „Die Marschallin“, Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buoni «Hinter den Büschen die Hauswand», Rezension auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Death Valley coffee shock», Gastbeitrag auf der Plattform Gegenzauber

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Beitragsbild © Stefan Bohrer / Illustration © leale.ch

«Wir glauben, Erfahrungen zu machen, aber die Erfahrungen machen uns.» (12) #SchweizerBuchpreis 24/07

Lieber Gallus

Nach «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler habe ich als zweites Buch (auch aus dem Atlantis Verlag!) der für den Schweizer Buchpreis 2024 Nominierten das aktuelle Werk «Tabak und Schokolade» von Martin R.Dean gelesen.

Dass auf dem schön gestalteten Cover «Roman» steht, stört mich nicht, dass die Halbgeschwister nur als Erben vorkommen ebenso wenig. Meiner und meiner Mutter Geschichte, diese Worte beschliessen das Buch, eine sehr berührende und anregende Recherche des Autors nach seinen karibischen Wurzeln. Es beginnt mit einer eindrücklichen Szene, wo die zwanzigjährige Mutter mit dem kaum einjährigen Kind vor dem betrunkenen, gewalttätigen Ehemann flieht, weil er seine Zigarette auf dem Baby ausdrücken will. Die Ehe zerbricht, die Mutter kommt nach mehreren Jahren Arbeit in Plantagen mit dem Kind in die Schweiz zurück. Damals war ein kaffeebraunes Kind in einem aargauischen Dorf eine Sensation. Die Mutter heiratet erneut einen Mann aus der Karibik, einen Arzt und verlor seither kaum ein Wort über die ersten Jahre mit «Martin» auf Trinidad. Als die Mutter stirbt, bleibt dem vom Pflegevater abgelehnten und von den Erben nicht berücksichtigten Autor nur «Die Geschichte». Sogar seinen Familiennamen musste er in der Primarschule ohne Erklärung ändern. Der Willensvollstrecker des nicht unbeträchtlichen Erbes teilt ihm mit, er sei nicht in der Erbengemeinschaft inbegriffen. Zufällig bemerkt er in der Schublade mit dem weggeschafften Schmuck der Mutter ein rotes Fotoalbum, das er heimlich zu sich nimmt. Anstelle von Gold und Silber entdeckt er so Bilder aus der versunkenen Welt seiner Kindheit.

In einer klaren genauen Sprache und fotografisch belegt breitet sich vor uns ein dichtes Kaleidoskop aus, in mehreren Erzählsträngen begleiten wir den Autor auf der Recherche seiner Kindheit, seiner Herkunft. Und nebenbei erfahren wir aus authentischer Sicht einen Teil der Kolonialgeschichte, die auch die Schweiz betrifft. Meisterhaft ist diese Suche nach Identität, nach Herkunft, nach Anerkennung beziehungsweise Ausgrenzung mit der Familiengeschichte verwoben.

Der Autor besucht nach dem Tod der Mutter erstmals seine Verwandten in Trinidad, die sich als Kontraktarbeiter im 19.Jahrhundert aus Indien in den Plantagen unter sklavenähnlichen Bedingungen hochgearbeitet hatten. Die Auswanderer konnten nur das nackte Leben mitnehmen, alle sozialen Bindungen gingen verloren. Millionen von Schwarzen Leibern wurden in süsse weisse Materie (Zuckerrohrplantagen) umgewandelt, damit Wirtschaft und Wohlstand in Europa in Schwung blieben. Kastenwesen und Rassismus lasteten auf diesen Menschen, erklären die Anfälligkeit für Alkoholismus und Gewalt.

«Tabak und Schokolade»: Tabak bezieht sich auf die Herkunftsfamilie der Mutter. Diese Grosseltern lebten und starben für die Zigarrenindustrie. Sie trugen den Tabakstaub aus den Fabriken nach Hause, nicht nur in den Kleidern, sondern auch in ihren Lungen. Mein Grossvater sog unentwegt an seinem Stumpen, wenn er im Garten Erde aushob, Unkraut jätete oder in der Werkstatt hämmerte, auch wenn er auf seinem Moped über Land fuhr.

Vor dem Rückflug in die Schweiz besucht der Autor eine Buchhandlung: Es berührt mich seltsam, mitten in Port of Spain auf eine Person zu stossen, die mir den Schriftsteller Edgar Mittelholzer als Schweizer vorstellt. Dies ein weiterer Erzählstrang, der den Lebensbericht des Protagonisten ergänzt und spiegelt. 

Bei ihrem achtzigsten Geburtstag bezeichnet seine Mutter die erste Zeit mit ihrem ersten Kind in Trinidad als ihre glücklichste. Ein kleiner Trost, da ihm nach deren Tod von den Erben nicht einmal das Tischchen, worauf er mit ihr bei seinen Besuchen Kaffee getrunken hat, überlassen wird.

Das Buch macht betroffen, liest sich aber weil, dass es Martin R. Dean gelungen ist, seine reiche, auch schwierige Biografie ohne anklagende Töne in Sprache zu fassen.

Was sind deine Eindrücke nach der Lektüre?

Herzlich

Bär

NB Meine Favoriten für den Schweizer Buchpreis 2024 sind diese beiden Bücher, an erster Stelle «Verschiebung im Gestein».

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Lieber Bär

Martin R. Dean «Tabak und Schokolade», Atlantis, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, 2024, ISBN 978-3-7152-5039-7

Meine Leseeindrücke schilderte ich schon in meiner Rezension vom 17. September. «Tabak und Schokolade» ist ein Buch der Stunde, ein Buch über Mütter und Väter, ein autobiographischer Roman, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, eine Auseinandersetzung, die Martin R. Dean durch seine Hautfarbe aufgezwungen wurde, dieses Anderssein, Nicht-der-Norm-Entsprechen.

Das Besondere an diesem Buch; Martin R. Dean betreibt nicht blosse Nabelschau. Obwohl er sich verletzt und gekränkt fühlt, weil man ihn nach dem Tod seiner Mutter als Erbe noch einmal als Sohn/Mensch zweiter Klasse degradiert, ist das Buch nicht nur Ahnenforschung oder sanfte Abrechnung, sondern ein Sittengemälde der Nachkriegszeit, die Geschichte unerfüllter Wünsche in einer Gesellschaft, in der für (fast) alle alles möglich, Erfolg und Aufschwung Norm schien. In einer Gesellschaft, die mit der Schwarzenbachinitiative seine Vorbehalte gegenüber «anderen» ganz offen artikulierte und sich in ihrer Argumentation nicht allzu sehr von der Fremdenfeindlichkeit in der Gegenwart unterscheidet. Eine grosse Mehrheit von Wählerinnen und Wählern in ganz Europa macht das in der Gegenwart mehr als deutlich.

Martin R. Dean macht mit seinem Buch auch bewusst, wie sehr der Reichtum unseres Landes, hier beispielhaft mit der Tabak- und Schokoladenproduktion, auf den Schultern und Rücken Ausgebeuteter, Vergessener, Entwurzelter gewachsen ist. Noch immer stehen Denkmäler von Grossen aus Wirtschaft und Politik unkommentiert auf Plätzen bedeutender Schweizer Städte, deren Erfolg und Wichtigkeit ins Blut von Sklaverei und Ausbeutung getaucht ist.

Martin R. Dean kreist schon lange um das Thema «Fremdsein». Mit Sicherheit ist dies sein persönlichstes Buch in dem er überraschend viel über seine Geschichte und Herkunft erzählt und verrät. Ob das Buch nun mit Recht «Roman» genannt werden kann, darüber fehlt mir die Lust zu diskutieren. Wahrscheinlich eine Strategie des Verlags. Es lässt sich schlicht mehr Umsatz generieren, wenn auf einem Cover «Roman» steht.

In jeder Familie, in jeder Geschichte gäbe es Gründe genug, die Türen zur Vergangenheit zu öffnen. Letztlich versteckt sich dort immer ein Schatz, Reichtum, ein Fundament, auch wenn mit Überraschungen zu rechnen ist. Der Blick zurück stärkt den Schritt nach vorn, weil er Richtung gibt.

Ich bin nicht überrascht, dass Dir das Buch gefällt! Hast Du «Favorita» von Michelle Steinbeck schon gelesen? Nach einer Veranstaltung an den Solothurner Literaturtagen verging mir eigentlich die Lust. Und nun war ich doch ziemlich baff!

Freundschaftliche Grüsse
Gallus