Tim Krohn «Bäcker am Ofenpass»

Der Ofenpass ist beliebt bei Jungs mit schweren Maschinen. Na ja, nicht nur der Ofenpass, der ist nur einer von vierzig Passstrassen im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, und sommers jagen die Jungs (Was heisst Jungs, das Durchschnittsalter liegt bei 70.) dort gern Rekorde. Deshalb wollte Hein, als er vor einigen Jahren auf der Höhe des Ofenpasses kurz austreten musste, dafür auch nicht extra ins Restaurant, sondern querte, nachdem er die Maschine geparkt hatte, nur eben die Strasse, um sich ins Gebüsch zu schlagen. Dort treffen allerdings gleich so einige Wanderwege zusammen, entsprechend gross war das Geläuf. Während Heins Not immer grösser wurde, folgte er dem dünnsten Weglein und hoffte, recht bald zu einem ungestörten Plätzchen zu kommen. Sein Problem war, dass inzwischen ein grosses Geschäft rief, das hiess den Overall ausziehen, und sowas macht man macht man doch lieber im Privaten.
Nachdem er eine ganze Weile dem Schafsberg entlang gegangen war, entdeckte er in der Bergflanke eine Höhle, die er auch gleich eroberte. Mit herrlichem Blick über die Bündner Alpen gab er seinem Drang nach. Doch schlagartig wurde er dabei todmüde, schlief ein und wachte erst in tiefer Nacht wieder auf.
Es war kalt – er kauerte noch immer mit barem Hinterteil an einen Felsvorsprung gelehnt –, und aus dem Berg vernahm er ein Rumoren. Während er sich noch bemühte, die steifen Glieder zu strecken, sah er sich plötzlich von weissen, matt aus sich heraus leuchtenden Gestalten umringt, Bäckergesellen offenbar. Da blieb er doch lieber hocken und hoffte, dass sie ihn übersahen.
Das schienen sie auch zu tun.„Was backen wir heute?“, fragte der eine die anderen.
„Schaiblettas“, schlug der zweite vor.
„Wer heizt den Ofen ein?“, fragte wieder der erste.
Der ist schon heiss“, stellte der dritte fest, „ich muss ihn nur noch öffnen.“ Und während er das sagte, schlug er dem Hein mit einer Brotschaufel ganz unspektakulär die Schädeldecke ab. Jetzt konnte Hein sich überhaupt nicht mehr regen, selbst wenn er gewollt hätte. Und offenbar glomm in seinem Schädel wirklich eine Glut, denn seit jenem Schlag war die Höhle in mattes, rotes Licht getaucht. Er musste mit ansehen, wie die Gesellen in einer Vertifung im Fels, einer Art Wanne, Mehl, Zucker, Eier und Nüsse, dass es nur so stob, dann formten sie daraus Plätzchen und backten sie dort, wo Heins Hirn sitzen musste.
Das ging hurtig, und der Anblick hatte auch einen gewissen Zauber. Kurz vergass Hein tatsächlich, wie es um ihn stand, stellte wiederum der erste der Gesellen fest: „Genug gebacken für heute. Wer schliesst den Ofen?“
„Ich“, sagte der dritte, schlug Hein – klack! – die Schädeldecke zu, und im selben Augenblick waren sie verschwunden.
Hein wartete noch eine Weile, dann regte er sich behutsam, tastete den Schädel ab, der zu seiner grossen Erleichterung doch heil schien und sah sich um, im Licht des Feuerzeugs. Die Kekse schienen die Gesellen mitgenommen zu haben, das bedauerte er etwas. Doch dann entdeckte er, dass von seinem Geschäft ein warmer Schimmer ausging: ganz offensichtlich war es vergoldet!
Da nun sein Schädel doch tüchtig brummte, kroch Hein kurz aus der Höhle, um sich tüchtig strecken zu können. Dabei sah er, dass die Gegend dicht verscheit war, und noch immer fielen Flöcklein, fein wie Mehlstaub.
Er robbte zurück, schob sein vergoldetes Geschäft in die Tasche und suchte den Rückweg. Der Schnee leuchtete so hell in der Nacht, dass er den Weg gut fand.
Und weil ihm nicht danach war, mit seiner Suzuki 600 auf einer verschneiten Strasse zu fahren, klopfte er den Wirt der Herberge aus dem Schlaf, der schob ihn unkompliziert ins Massenlager ab. Hein war noch ganz aus dem Häuschen, und als er einen entdeckte, der offensichtlich schlaflos lag, ging er zu ihm und erzählte die aufregende Geschichte. Natürlich zeigte er auch sein vergoldetes Geschäft.
„Wenn das massiv ist, bist du ein gemachter Mann“, sagte der andere, nachdem er das Geschäft in der Hand gewogen hatte.
Daran hatte Hein noch gar nicht gedacht. Er schlug den goldenen Klumpen übers Knie, um zu sehen, was geschah. es zerbrach, und dabei zeigte sich leider, dass es doch nur vergoldet war. Die Stücke rollten unter die Pritschen, es stank gehörig, der andere schimpfte ihn einen Idioten und schlug auf ihn ein, und darüber wieder erwachten die anderen. Zuletzt prügelten sie ihn gemeinsam aus dem Schlafsaal. Das Ende vom Lied war, dass Hein von da an keine Pässe mehr fahren konnte, sein Hirn blieb überaus empfindlich – sei’s von den Schlägen oder den Ereignissen in der Höhle –, der kleinste Höhenunterschied war schmerzhaft. Liftfahren ging gerade noch.
„Und was lernst du daraus?“, fragte seine Freundin, als er heimkam?
„Was soll ich daraus lernen?“, fragte er zurück. „Von nun an gehe ich eben aufs Klo.“ Aber vor allem ärgerte er sich, dass er sein Geschäft nicht einem Museum übergeben hatte, denn in den kommenden Jahren las er immer wieder von Künstlern, die mit Kacke berühmt geworden waren.

Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane «Quatemberkinder» und «Vrenelis Gärtli» machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband «Nachts in Vals». Der Auftaktband des ›Menschliche Regungen‹-Projekts «Herr Brechbühl sucht eine Katze» war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschien der zweite Band «Erich Wyss übt den freien Fall».

Franz Hohler «Enten»

Auf dem Bahnhof Wiedikon, wo ich aus der S-Bahn ausgestiegen bin, hupt die Lokomotive dreimal hintereinander heiser in den Tunnel hinein, bevor sie mit dem Zug darin verschwindet. Den Grund dafür sehe ich wenig später. Auf dem entgegenkommenden Gleis hasten zwei junge Entlein aus dem Tunnel heraus. Wie und warum sie da hineingeraten sind, weiss ich nicht, aber sie haben offenbar gemerkt, dass das nicht ihr Ort sein kann, und suchen nun fiepend irgendeinen Ausstieg aus dem vertieften Bahntrassee. Da steht plötzlich auf dem andern Bahnsteig die Entenmutter, die ihre Jungen sucht und abwechselnd schnattert und hohe Laute ausstösst. Aber weder sieht sie ihre Jungen, noch scheinen ihre Jungen sie zu hören. Man möchte der Alten zurufen: «Da vorn sind sie!», doch sie watschelt in die falsche Richtung.
Eine Frau versucht mit ihrem Handy die Polizei oder die Feuerwehr anzurufen. Gerade erst haben wir schärfere Gesetze gegen den Familiennachzug von Flüchtlingen erlassen, aber das können wir nicht mitansehen, diese kleine Familie müssen wir doch zusammenführen – da naht tonnenschwer ein Zug aus dem Tunnel; das eine Entchen sucht immer noch einen Ausweg zwischen Gleis und Bahnsteigkante, das andere rennt zwischen den Schienen vor der donnernden Gefahr davon. Ich ducke mich, und als der Zug im Bahnhof anhält, sehe ich erleichtert das eine der Jungen immer noch zwischen den Schienen rennen, während das andere immer noch versucht, das Perron zu erklimmen und die Frau immer noch auf der Suche nach Rettern ins Handy spricht und die Entenmutter immer noch auf der falschen Seite am Verzweifeln ist.
Dann muss ich gehen.

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein neuster Roman «Das Päckchen» erscheint wie fast alle seine Bücher im Luchterhand Verlag.

Konrad Pauli «Verweilskizzen»

… In diesen langen Augenblicken scheint alles stillzustehen – und die Schwalben schwirren durchs Himmelblau. Zuweilen rauscht ein Motorrad übermütig auf – es scheint, der Fahrer müsse etwas tun gegen den Stillstand, die sonntägliche Stille. Weitherum wird er, entgegen seiner stummen Absicht, aber nicht kommen – auch er dreht sich im Kreis. Sich selbst entkommt er nicht. Bloss in Kilometern ist seine Ausfahrt belegbar und dokumentiert. Aber das Licht ist eine wunderbare Last auf allem: Die Ziegeldächer, Busch und Baum. Vor lauter Ergriffenheit will sich nichts rühren. Alles wartet ab. Worauf… Man kennt ja die Fortsetzung – oder meint es zumindest. Frau Gerber hat es wohl vorgezogen, die Wärme, ja Hitze zu meiden – sie sitzt zu Hause und macht sich Gedanken über Vieles. Als junges Mädchen, so hat sie erzählt, hat sie früh aufstehen müssen und anpacken. Es war eine erzwungene Selbstverständlichkeit. Gelernt hat sie, Hitze und Kälte auszuhalten. Nicht wohlig am geheizten Ofen, nicht untätig im Schatten. So kann sie nicht verstehen, dass die Heutigen jedes Wehwehchen beklagen und darob fast in Ohnmacht fallen. – Das Licht bringt die Blätter zum Glühen – südlicher geht’s nicht mehr. Das Licht hat die Gegend brutal im Griff. Man bleibt stehen, hält gleichsam den Atem an und ist halbwegs besorgt, nicht in den wunderbaren Strudel gerissen zu werden.

Der weisse Geigenkasten
Ein Mädchen in weissem Sommerkleid geht mit weissem Geigenkasten vorbei. Geradezu respektvoll halten Autofahrer am Fussgängerstreifen. Das Mädchen geht da wie eine lichtdurchflutete Erscheinung. Ist sie wirklich da – oder ist man das Opfer einer Luftspiegelung? Selbst wenn das Mädchen drüben nun in den Hausschatten taucht, überlebt das Lichthafte. Gewiss hat sie sich gut vorbereitet für die Übungsstunde. Ob sie ihrem Instrument treu bleibt, gar Grosses vorhat, weiss keiner. Jetzt ist sie hier ganz Gegenwart. Unangefochten. Was sie geübt und einstudiert hat, wird sich zeigen lassen. Aufmunterung wird Kritikhaftes übertönen. Vielleicht denkt das Mädchen, fähig schon zur Selbstkritik, sie hätte sich noch besser vorbereiten können – aber Verbissenheit ist ihre Sache nicht. Anderes gibt’s auch noch im Alltag. Nicht nur der weisse Geigenkasten verpflichtet. Aber in seinem Weiss verfängt sich die Sonne besonders schön. Schwarz? – Unvorstellbar. Es sieht nicht so aus, als werde das Mädchen zum Geigenspiel gezwungen mit schalen Versprechen, gar Nötigung. Ihr Gang wäre so ein anderer. Sie wird die Geige behalten als Mittel zum höheren Zweck, zur Erforschung der Musik. Noch ahnt sie kaum, welch ein Vorrat an Partituren-Schätze auf sie wartet. Genug für ein langes Leben, zumal man ein Stück nicht bloss einmal spielt. Üben, üben… Noch weiss man nicht, zu welcher Musik sie aufbricht, zu welchem Lied sie einmal fähig sein wird.

Auch das gehört dazu:
Die Kübelpalmen vor dem Ticino gaukeln Südliches vor. Nicht dass man immerfort daran hinge. Es sind die Klischees, die, ohne mein Dazutun, ihre Macht ausüben. Kein Zwang freilich, vielmehr ein Spiel, immer Erinnerungen der Ferne hervorlockend. Genauigkeit ist nicht zwingend. Es ist mehr ein entspanntes Umherstreifen und Zulassen. Greift nun ein kühler Wind über meinen Rücken in die Palmenblätter, ist’s plötzlich auch ein Nördliches. Die Jacke, die man soeben aufgeknöpft hat, wird wieder enggezogen. Harmloses erhält bestimmend Gewicht. So ist das Verweilen gesättigt von Aufmerksamkeit und Gegenwart. Weder geschieht Besonderes noch langweilen die Auftritte der Passanten. Wie Statisten stehen die Wartenden an der Tramstation. Vergeblich zähmen junge Frauen ihr langes Haar im Wind, aber die Geste ist voller Anmut. Ein Kleinkind stolpert über den Gehsteigrand. Die Mama ist froh, dass sie nicht allzu sehr trösten muss. Am Ende der Strassenflucht wachsen weisse Wolken in die Höhe: Vorboten des Sommerlichen. Ein Bus wartet, die Anschrift verlangt: Nicht einsteigen. Soldaten eilen urlaubsfroh zur Station. Der Wind flaut ab, sofort übernimmt die Wärme das Szepter: Die Jacke wird wieder aufgeknöpft. Erwartungen sind stillgelegt; es genügt, wenn gleichwelche Forderungen wieder aufleben. Die Zeit steht still – und eilt doch davon.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen «Ein Heldenleben», «Seit jeher unterwegs», «Marcos Blicke in Seeland», Weitergehen» und «Ein Romantiker in nüchterner Zeit» (Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele).

Urs Mannhart «Nichts rennt wie Rotwild»

Es gibt, und ich bin dankbar dafür, die unterschiedlichsten Lehrer auf dieser Welt. Oft schätzen und würdigen wir jene Lehrpersonen, denen es gelingt, uns mühelos etwas begreiflich zu machen, uns flugs zu Einsichten zu verhelfen, von denen wir zuvor nicht wussten, dass wir sie unbedingt haben wollen. Es finden sich jedoch auch Lehrer, denen es, obwohl nicht unsympathisch, nicht gelingen will, uns etwas beizubringen, die uns, nach einem staunenden, irritierten Zuhören, ratlos zurücklassen. Ich mag diese zweitgenannten Lehrkräfte eigentlich ganz gut, auch weil uns die Dinge, von denen sie erzählen, oft lange noch zärtlich hörbar durch die zelebralen Gänge kriechen.

Neulich bin ich einem Lehrer dieser Art begegnet; er stand, glänzend vor Stolz, vor der Landwirtschaftlichen Genossenschaft. Dieser Lehrer war ein Auto, ein frisch poliertes, auffallend bulliges Modell, wie es in den USA gerne gefahren wird; auf seiner Seitentür waren liebevoll verziert zwei Worte aufgedruckt, die ich gleich ein paar Mal lesen musste: Urban Cowboy.

Diese Worte, das ganze Auto, sein stolzgeblähtes Dastehen vor der mitten im Dorf sich befindenden Landwirtschaftlichen Genossenschaft – ich war paralysiert. Insbesondere das Urban Cowboy gab mir unverzüglich Hausaufgaben mit, die zu lösen ich bis heute beschäftigt bin.

Womöglich, das muss erwähnt sein, hängen das Auto und das Dorf, in dem es geparkt steht, kausal zusammen. Denn Pfaffwil, so das Dorf, gelegen auf knapp 700 Metern über Meer, hockt am Ende einer kleinen Talschaft wie ein beleidigter Erstklässler in der Ecke des Schulhofs; seit je her weht ein apokalyptisch angegammelter Wind um die hiesigen Hausecken. Die mit schnuckligen Steingärten, Sichtschutzwändchen, Plastikmöbeln und funzligen LED-Gartenlämpchen verunzierten Glücksschatullen von Einfamilienhäuschen schmiegen sich hier so eng wie kaum woanders an konventionell geführte Bauernhöfe, die seit Jahren dicht an der Grenze des wirtschaftlichen, kulturellen und seelischen Konkurses entlangschrammen. Trotz dieser Nähe gibt es keinerlei Verbindung zwischen den Einfamilien und den Bauern; die Landwirte produzieren für die Industrie und haben die Beziehung zu ihren Produkten verloren, die jeden Miststock weit von sich weisenden Einfamilien fahren in die nächste Kleinstadt, um ihre homogenisierte, standardisierte Nahrung im Supermarkt einzukaufen. Die letzte Kraft, die das Dorf vor dem Zerfall bewahrt, ist der Charme der Verkäuferin im Volg-Laden, eine Frau, die davon profitiert, ihre kulturellen Hintergründe nicht in der Schweiz eingesammelt zu haben.

Es ist Pfaffwil das Dorf meiner Mutter, und was sie dort seit über zwanzig Jahren macht – ich weiss es nicht. Sie wohnt dort, erledigt den Haushalt eines Mannes, der sich die Abende gerne mit Fernsehprogrammen füllt, während sie, weil sie jene Aufregungen nicht mag, die aus den Spielfilmen heraus in die Stube lärmen, an den Fernsehbildern vorbei auf die Nadeln blickt, mit denen sie Socken strickt. Socken, die sie mir schenkt, Socken, die ich gerne trage, obwohl ich sie nicht tragen kann, ohne daran denken zu müssen, wie meine Mutter lange Abende am Fernseher vorbei auf die Stricknadeln blickend vor dem Fernseher verbringt, in diesem Dorf, in dem in kalten Winternächten die Leblosigkeit aus den Gullideckeln dampft, in diesem Dorf, das zu verstehen mir vielleicht nie vergönnt sein wird.

So ist mir also auch meine Mutter eine gute Lehrerin. Während ich nicht verstehe, wie sie es seit über zwanzig Jahren in einem Dorf aushält, aus dem ich, wenn ich sie besuche, nach spätestens zwanzig Minuten flüchten möchte, scheint sie nicht die geringsten Schwierigkeiten zu haben, meinen nicht sehr bürgerlichen Lebenswandel zu verstehen. Ich möchte mit meiner Unbürgerlichkeit nicht kokettieren, Vieles wurde mir vom Schicksal kostenlos vor die Füsse gespült, aber ich stelle es mir doch etwas abenteuerlich vor, als bald 70-jährige Mutter einen Sohn zu haben, der, obwohl über 40, weder Frau noch Kind noch Auto noch Wohnung noch festen Job hat. Bloss eine Lehrstelle auf einem Bauernhof hat er, sein Stundenlohn beträgt zwei Franken achtzig, und dann ist er auch noch frech genug zu behaupten, er sei glücklich.

Ja, ich sehe ein, ich könnte, verstünde mich meine Mutter nicht so gut, meine Mutter viel besser verstehen, aber sie gehört eben zu diesem Pfaffwil, das ich nicht verstehen kann – kein Wunder eigentlich, dass dort jetzt noch ein Auto steht, das ich nicht verstehe.

Urban Cowboy; wahrscheinlich ist es ja ein Sanitärinstallateur, der dieses Auto fährt, oder ein Metallbauschlosser, viele andere Jobs sind auf dem Land nicht zu haben, und als Cowboy mag er sich fühlen, weil sein Vater noch einen Hof führt und er hin und wieder mit diesem grossen Auto zwei Säcke Ergänzungsfutter aus der Landi holt, während er sonst zum Beispiel sehr geschickt Aussentreppen und Handläufe zusammenschweisst, am Dorfrand, wo sie das Altersheim renovieren, in dem er später einmal wohnen wird.

Anfang zwanzig war ich, als ich, neu an der Uni eingeschrieben und ohne Geld, mit meiner Mutter in dieses Dorf zog. Für mich war Pfaffwil und die vollkommene Abwesenheit von Möglichkeiten, mit denen es gefüllt war, stets die beste Nahrung für phantastische Einfälle. Auch heute fände ich es nur logisch, würden die meisten jungen Menschen, die in hier aufwachsen, den Wunsch entwickeln, später einmal als Pilot in Asien, als Matrose auf dem Indischen Ozean oder als Robotik-Forschungsleiter in China zu arbeiten. Aber dieses Urban Cowboy zeugt von einer anderen Denkweise, es erinnert mich an einen Kollegen aus der Berufsschule, die ich Ende Mai abgeschlossen habe. Ein Kollege aus der Provinz hinter Winterthur war das, der nie zu sehen war ohne ein mit heroischen Silben bedrucktes Kleidungsstück. Meist waren das T-Shirts, die von einem Traktor schwärmten. Nothing runs like a deer, stand dann da zu lesen, und während ich lange noch an Rotwild dachte, war für alle anderen in meiner Klasse vom ersten Augenblick an klar, dass es um John Deere-Traktoren geht. In den letzten Schulwochen hatte er den Unterricht jeweils in einer sehr robusten, knallroten Arbeitshose besucht, die mit dem Schriftzug der Freiwilligen Feuerwehr Unter- und Oberstaffelbach bedruckt war. Ohne je mit ihm darüber zu sprechen, wussten wir also, dass er Mitglied ist in dieser Feuerwehr, und die Hose war so glänzend rot und tadellos sauber, dass er sie unmöglich an einer der Feuerwehrübungen, die er gewiss absolvierte, bereits getragen haben konnte. Er trug diese Hose nur mittwochs, auf der Schulbank, und ich weiss nicht, ob ich ihn beneiden soll dafür, irgendwo so sehr dazuzugehören.

Unter- und Oberstaffelbach sehen Pfaffwil vielleicht ziemlich ähnlich, im Gegensatz zu den meinen sind die Eltern dieses Berufsschulkollegen aber Landwirte, spezialisiert auf Schweinemast. Er hat mit zwanzig eine Lehre als Landmaschinenmechaniker abgeschlossen, hat auf dem Hof seines Vaters gearbeitet, hat geheiratet, ein Kind gezeugt, und bildet sich nun, mit sechsundzwanzig Jahren, im Kanton Bern, noch zum Landwirt aus. Auf einem Betrieb freilich, der Schweine mästet. In diesem ersten Schuljahr war er einer der besten unsere Klasse; so erfahren wie er ist keiner. Er wird, das ist klar, in zehn oder fünfzehn Jahren den elterlichen Betrieb übernehmen.
Wieso eigentlich, wurde er einmal von einem Klassenkollegen gefragt, wieso eigentlich betreibst Du den ganzen Aufwand, um von Winterthur nach Bern zu fahren, wenn Du Dein Lehrjahr auch auf dem elterlichen Hof hättest absolvieren können?
Ich wollte, so antwortete er, ich wollte noch einmal etwas anderes sehen, ehe der Ernst des Lebens beginnt.
Ich stand, wie er das sagte, gleich neben ihm. Gebannt blickte ich in sein Gesicht, suchte die Mundwinkel nach einem Lachen ab, suchte in seinen Augen nach Anzeichen der unbedingt in den nächsten Sekunden hervorbrechen müssenden Ironie. Aber da kam nichts, da war nichts, er meinte den Satz mit dem Ernst des Lebens vollkommen ernst, diese Lehrstelle auf einem bernischen Schweinemastbetrieb ist für ihn tatsächlich die letzte Chance, noch einmal etwas anderes zu erleben, ehe er, für den Rest seines Lebens, auf dem elterlichen Hof Schweine mästen und hin und wieder mit den anderen Mitgliedern der freiwilligen Feuerwehr einen kurzweiligen Abend verbringen wird.

Am liebsten hätte ich ihn heute mitgenommen, damit er, ehe der Ernst des Lebens beginnt, noch die Dala-Schlucht oder eine Lesung von Gospodinov erlebt, aber damit wüsste er wahrscheinlich nichts anzufangen, nothing runs like a deer, und wenn fünf Meter hinter Deinem Schlafzimmer vierhundertfünfzig Mastschweine leben, hast Du andere Sorgen, als der Dala beim Rauschen zuzuhören. Das nächste Mal, wenn Sie im Supermarkt Schweinefleisch kaufen, können Sie also an Stefan denken, an Stefan aus Unter- oder Oberstaffelbach, ich weiss es nicht, aber ich bin sicher, er trägt seine schöne Feuerwehrhose nur, wenn es nicht brennt.

Noch immer aber versuche ich, dieses Urban Cowboy zu verstehen. Um meinen Blick zu wenden, um die Worte von ihren Stühlen zu bitten und sie im Kopfstand vor mir zu haben, stelle ich mir ein Auto vor, das mitten in Bern geparkt steht und auf dem rural officeboy zu lesen ist. Das müsste, weil doppelt entgegenstehend, semantisch wieder dasselbe sein.
Ich nehme also an: Der urban cowboy lebt ein städtisch geprägtes Leben, er kennt die PIN seiner Kreditkarte, weiss, wann welche Ampel auf Grün schaltet, hat aber nicht vergessen, wo, wenn es um eine Kuh geht, vorne und hinten ist. Beim rural officeboy verhält sich das ähnlich: Er kümmert sich zwar jetzt um Software, weiss aber noch immer, wie weich der Fladen einer Kuh ausschaut, deren Darmflora gesund ist. Wieso aber erwartet der Mensch, der diesen Wagen beschriften liess, von den Worten urban cowboy so selbstsicher aus seiner Mitwelt nur positive Reaktionen? Wieso hat er nicht in Betracht gezogen, seine Inhalte in der deutschen Sprache zu transportieren? Städtisch geprägter Agrarpraktiker – wäre das nicht bestrickend?

Es ist anzunehmen, dass es noch andere Dörfer gibt, in welchen solche Autos stehen. Vielleicht zählen sogar Unter- und Oberstaffelbach dazu. Unnütz, in die Dörfer zu blicken, wenn man sieht, was in den Städten passiert? Würden die Menschen, die auf dem Dorf wohnen, nicht dauernd unsere Abstimmungen gewinnen, könnte man zu Recht monieren, es sei hinfällig, über sie zu schreiben.
Um eine Übersicht über das Dorfleben in der Schweiz zu gewinnen, stelle ich mir gerne Landeskarten vor, thematisch koloriert: Verschiedene Farben kennzeichnen durch die Jahre hindurch die verschiedensten kulturellen Einflüsse und machen sichtbar, bis wohin welche Einflüsse haben vordringen können.
Dort, wo Pfaffwil eingetragen ist, sind nicht besonders viele Farben zu finden. Es gibt dort Internet-Anschlüsse, fast so viele wie in den Städten auch, aber das Internet ist bloss ein Kanal, über den Transport von Inhalten, über die Verbreitung von Einsichten sagt das nichts aus. So fühlen sich Pfaffwil und seine Nachbardörfer, die Karte belegt es, seit Winnetou und Old Shatterhand mit Faust und Flinte für Gerechtigkeit gesorgt haben, dem so genannten Wilden Westen kulturell sehr viel näher als zum Beispiel Zürich. Von Brüssel gar nicht zu sprechen. Country music klingt eben auch viel besser als Ländler. Und während die Berliner gegenwärtig von den Koreanern und deren Restaurants schwärmen, sind die Dörfler freilich nicht auf Fremde angewiesen, um ihren Saloon zu betreiben. Man muss nur einen alten Revolver, ein paar Dollar-Noten und ein Bild von einer Harley-Davidson über den Tresen hängen, und alles ist klar. Nach den Abenteuern Winnetous, von denen Pfaffwil nachhaltig beeinflusst wurde, blieb das Dorf lange ohne kulturellen oder mentalitätsgeschichtlichen Wandel. Das änderte sich erst, als der Autohersteller Subaru sich entschied, von einem ihrer Modelle werbewirksam zu behaupten, es sei speziell für die Schweiz entwickelt worden. Bald fuhren so viele Dörfler einen Subaru, dass sich unterbewusst der Glaube etablierte, es handle sich um ein einheimisches Fahrzeug. Das war in den 80er-Jahren. Seither hat sich in diesen Dörfern, einmal abgesehen von der Umstellung auf den verkapselten Kaffee, nichts geändert.
Nein, stimmt nicht ganz: In einigen Dörfern, so die Karte, hat sich noch die Einsicht verankert, dass es sich, wie Bundesrat Adolf Ogi einst im Fernsehen darlegte, lohnt, einen Deckel auf die Pfanne zu legen, wenn man ein Ei kocht.
Fassen wir zusammen: Drei wesentliche kulturelle Einflüsse in fünf Jahrzehnten – das kann nicht erstaunen, denn Bescheidenheit war hier schon immer ein überlebenswichtiger Charakterzug. Daran wird sich offenbar auch demnächst nicht viel ändern, denn die Dorfjugend bleibt dem Motorrad treu und will nichts wissen von den E-Bikes; an einer Batterie gibt es schliesslich nichts zu frisieren!

Nothing runs like a democracy: Zum Glück hört, denke ich jetzt, zum Glück hört der Ernst des Lebens mit dem Witz des Sterbens auf, und ehe das eintritt, soll noch jede und jeder Gelegenheit haben, kluge und wichtige, womöglich identitätsstützende Worte auf Autotüren zu schreiben.

Urs Mannhart hat als Velokurier, Nachtwächter, Journalist und in der Landwirtschaft gearbeitet. 2004 erschien sein Erstling »Luchs«, 2006 dann »Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola«. Als Reporter berichtet Mannhart aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weißrussland und der Ukraine. »Bergsteigen im Flachland« ist sein dritter Roman, für den er 2016 mit dem Conrad Ferdinand Meyer-Preis ausgezeichnet wurde.

Dominique Anne Schuetz «Wohnblock – Kino – Coiffeur»

Der Wohnblock

Stockwerke übereinander gestapelt wie Kartonschachteln, voll mit Plüschsofas und Fernsehgeräten, Kuckucksuhren, Aquarien und Gummibäumen. Vierundzwanzigmal ein Stück gemietete Heimat mit Grenzen aus dünnhäutigen Wänden. Namensschilder statt Menschen. Türen im Multipack. Fenster in Reih und Glied. Verstopfte Abläufe und defekte Storen gehören zum Alltag. Die Hausordnung hat mehr als zehn Gebote. Du sollst nicht Lärm machen zur Unzeit. An den Treppenhausmief gewöhnt man sich, an den Waschküchenplan nicht. Die Frau des Hausverwalters wischt die Stufen. Im Winter ist die Fassade leer. Im Sommer ergiessen sich Geranien wie bunter Badeschaum über die Balkone, und aus den Radios scheppern Pavarotti, Ramazzotti und Kaleb. Ganz oben scheint die Sonne länger. Unten rauscht das Meer aus Blech.

Kino

Irgendwo am Sunset Boulevard. Die letzte Vorstellung. Zwei Tickets für eine Hand voll Dollar. Eine Tüte Popcorn und eine Coke, bitte. Thelma & Louise weisen den Weg zu den Plätzen aus rotem Plüsch. Lange Beine, kurze Röcke. Manche mögen’s heiss. In den Rängen hält ein Midnight Cowboy seine pretty Woman im Arm. Der stramme Goldjunge Oscar sitzt in der ersten Reihe. Auf den billigen Plätzen tummeln sich die nervigen Poltergeister. Jean-Paul Belmondo und Jane Seberg sind wie immer zu spät und völlig ausser Atem. Das Licht geht aus, doch die Men in Black behalten ihre Sonnenbrillen auf. Der Projektor surrt, ein Löwe brüllt. Nur noch 12 Sekunden bis zur Ewigkeit. Endlich beginnen die Stars zu leuchten. In den Hauptrollen: der blaue Engel, des Teufels General und Dr. Mabuse. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Das Publikum vergisst die Realität, wird zurück in die Zukunft geworfen, hört den Fluch der Karibik, verliert sich in 3D, ist jenseits von Eden. Liebe, Verrat und Tod allenthalben. The End. Der Saal leert sich. Wollen wir noch in Rick’s Café? Im Regen vor dem Filmpalast wartet ein Taxi Driver. Er sieht aus wie Robert De Niro.

Damals beim Coiffeur

Zwei Schaufenster, vier Stufen, eine Tür. Dahinter öffnet sich die Welt der Scheren, Bürsten und Kämme, der Shampoos, Lockenwickler und Haarfarben. Waschen, legen, frisieren seit 35 Jahren. Alles alte Schule. An den Wänden Reklameplakate, ausgebleicht von der Zeit. In der Mitte zwei Frisierstühle mit Polstern aus Plastik, rot und glänzend wie lackierte Fingernägel. Spiegel zeigen eine verkehrte Wirklichkeit. Einmal aussehen wie Doris Day. Die Trockenhaube hat viel zu tun. An der Decke surrt ein Ventilator, und aus dem Radio scherbelt Frank Sinatra. I did it my way. Eine Wolke aus Haarspray schwebt im Raum. Hochsteckfrisuren wachsen bis zur Decke. Die Monroes der Vorstadt wollen immer dasselbe: Wasserstoffblond. Gern doch, eine Maniküre für Madame, und eine gründliche Rasur mit dem Messer für den gepflegten Herrn, Dampfkompresse inklusive. Ein Salon vom Scheitel bis zur Sohle.

Dominique Anne Schuetz, geboren in Winterthur (CH), ist aufgewachsen in St. Gallen. Studium Graphic Design an der Schule für Gestaltung St. Gallen. Zunächst Art Director, dann Konzepterin/Texterin und Creative Director in namhaften Kommunikationsagenturen.
Seit 2007 Ausrichtung auf das Schreiben von Romanen, die Entwicklung von Kulturprojekten und die Arbeit als Konzepterin / Texterin. Ihre beiden letzten Romane «Die unsichtbare Grenze» und «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» sind beim Europa Verlag erschienen. Ein neuer Roman ist unterwegs!

Michèle Minelli & Peter Höner „Aufs Land gezogen“

Dialoge

1 Aufs Land gezogen

Grauenhaft, dieses Wetter. Hochnebel, Regen, ein eisiger Wind. Und das schon den dritten Tag.
Stinklaune?
Ach, was. Stinklaune, Stinklaune. Mir fällt die Decke auf den Kopf.
Kino? – Wir könnten ins Kino gehen. Ins „Luna“ kann man immer, die zeigen nur gute Filme.
Ach ja?
Wir waren schon Ewigkeiten nicht mehr im Kino.
Kino. – Und nachher liegt Schnee, und die Strassen sind vereist.
Seit wann hast du Angst vor dem Winter?
Hab ich nicht. Trotzdem. Das geht nicht.
Warum nicht?
Sommerreifen.
Was, Sommerreifen?
Sommerreifen. Und dann kommen wir hier nicht mehr hoch.
Du wirst doch nicht, ich meine… Du fährst immer noch mit Sommerreifen? Bist du blöd, vor einem Monat habe ich dir gesagt, du sollst die Reifen wechseln…
Nun schrei hier nicht rum. Letzten Winter gab es nicht einen Tag, an dem wir Winterreifen gebraucht hätten.
Dann nehmen wir den Bus.
Nach dem Kino kannst du fast zwei Stunden warten, in einer Beiz neben dem Bahnhof, Soldaten und Besoffene, Rentner mit ihren Geschichten, die kaum auszuhalten sind, Ausländer …
Du solltest dich einmal hören…
Was sollte ich?
Ja, du solltest dir einmal zuhören müssen, was für einen Stuss du daher schwafelst. Hock dich an einen Stammtisch, im Frohsinn, in der Traube, im Hecht. Vom Wetter zu den Ausländern! Da bist du zumindest in Gesellschaft.
Du weisst genau, dass wir mit Sommerreifen… Das Risiko ist einfach zu gross. Und: Einen ganzen Abend unter Leuten ohne ein Bier, ein Glas Wein, ohne einen Schnaps, das hält man doch gar nicht aus.
Man?
Und dann stehen wir da kurz vor Mitternacht an der Abzweige und haben noch einmal eine halbe Stunde, bis wir zu Hause sind. Ich meine, damit wird das ganze Elend ja geradezu auf die Spitze getrieben. Im Kino friert man, weil es schlecht besucht ist, und sie an Heizung sparen, oder man sitzt neben jemanden, der ohne Schirm durch den Regen gelaufen ist. Und dann immer diese Pause, entweder soll ich ein Eis fressen oder ihren billigen Wein trinken, das hat doch keine Atmosphäre, auf jeden Fall, nachdem sie diesen schrecklichen Neubau gleich nebenan hochgezogen haben. Und immer kennt man jemanden, mit dem man reden sollte. Ich will doch nicht reden müssen, wenn ich nichts zu sagen habe. Übers Wetter? Über den Film? Sicher nicht. Dass sie nichts verstehen, merkt man ja schon an ihren Reaktionen, wo und warum die Leute immer lachen, das möchte ich auch gerne einmal wissen. Ich meine, dieses ländliche Publikum. Die lachen doch immer an den falschen Stellen. Wenn überhaupt. Wo sie nichts verstehen, über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben. Dafür umso lauter. Als müsste ihr Lachen Verstärkung einfordern. Es gibt eben keine Filme über Traktoren, Düngemittel und Zuckerrüben. Gibt es nicht. Und die Stadt. Wie, wo oder was? Was ist eine Stadt? Einmal im Jahr Konstanz und einmal Winterthur. Bertheli habe ich gefragt, wann sie das letzte Mal in Zürich war? Zürich? Hat sie gefragt? Was soll ich denn in Zürich? – Haben wir eigentlich noch Schokolade?
Schokolade? Hast du vergessen, dass wir einen Garten haben?
Ich kann doch nicht, immer nur Quitten… Roh gelten sie sowieso für ungeniessbar. – Was ist jetzt? Gehen wir jetzt ins Kino, oder willst du hier versauern?
In ein Auto ohne Winterreifen? Ohne mich, da setz‘ ich mich nicht rein. – Überhaupt hast du das Wasser abgestellt, die Leitungen geleert, sind die Dachfenster zu? Das letzte Mal hat es voll in meine alte Schallplattensammlung geregnet. Ist der Sonnenschirm im Haus, die Gartenstühle? Die neuen Tulpenzwiebeln sind auch noch nicht im Boden. Und hast du nun endlich meinen Löwenzahnstecher gefunden. Ein Glück gibt es dieses Jahr keine Nüsse…
Kino, Sommerreifen, Wintergemüse! Vergiss es. Los komm! Annis Rinder sind wieder einmal durch den Hag in unseren Garten gebrochen.

2 Besuch

Wie schön ihr es hier habt! So ein prächtiger Garten! Und dann diese Aussicht!
Naja, das Restaurant ist öfter geschlossen als offen.
Wie meinst du?
Das Restaurant. Die Aussicht. Sie ist nur an knapp drei Tagen die Woche geöffnet.
Aber ihr ernährt euch doch ohnehin aus dem eigenen Garten? Also wenn ich einen solchen Garten hätte – schau nur, das Werk lobt seinen Schöpfer!
Ist das ein Zitat?
Wie du willst. – Ich habe noch nie so dralle Tomaten gesehen. Und das im November. Ein Wunder.
Ah, die Tomaten. Das war ein Kampf, sag ich dir, zuerst die Rinder, die durch den Zaun brechen, und dann die Braunfäule…
Oh, und diese Feigen! Da nehme ich mir gleich zwei, gell, ich darf mich doch bedienen? Feigen, das ist ja das reinste Paradies hier!
… hat fast alles befallen.
Was seh ich da: Letzte Himbeeren! In dieser Jahreszeit!
Ja. Himbeeren im November.
Das wäre doch ein wunderhübscher Buchtitel? Himbeeren im November. – Hier oben schreibt sich bestimmt ganz herrlich. All die kleinen Plätzchen…
Die gejätet werden müssen.
… die ihr habt. Die hat alle Peter gemacht, ja? Die Trockenmäuerchen, die lauschigen Eckchen, die poetischen Nischen?
Äh, nein, ich werkle da…
Ein Multitalent!
… wacker mit.
Wo man hinblickt, ist Idylle. So, so schön, dass du es so schön hier hast, Michèle, macht mich ganz froh. Du schreibst bestimmt in einem Mordstempo an deinem nächsten Roman, das kann ich gut verstehen, bei dieser Lage, dieser Stimmung, da kommt man unweigerlich in den Flow, das flutscht doch nur so hier, sieh nur, dort drüben das Abendrot, nein, wie schön aber auch, einfach nur schön, sag ich.
Hm, schön schon, ja.
Wann bist du fertig?
Womit? Dem Abräumen im…
Deinem Roman, womit denn sonst?
… Garten?
Garten? Einen Gartenroman! Wie schön, wann feierst du Vernissage, wann kann ich es lesen?
Lesen? Ich weiss nicht.
Wie, du weißt nicht? Wie heisst es denn, das neue Werk?
Hm. Lass mich überlegen.
So schön hier!
Vielleicht nenne ich es….
Gell, ich darf doch noch einmal, die schmecken alle so köstlich!
… Himbeeren im November.

3 Sonntag früh im Bett

Komm, machen wir das Fenster auf.
Hmm?
Hörst du den Regen?
Wmkissen?
Küssen?
Wo ist mein Kissen?
Warte, ich werde dein Kissen sein. So. Liegst du gut?
Hmm.
Hörst du wie er prasselt?
Ichhrnero.
Hm?
Ich höre nur Nero.
Ach der. Lass doch den Stier.
Sinddkatzndrn?
Hm?
Sind die Katzen drin?
Hm, hab sie vorhin gesehen, als ich aufs Klo ging. Alle drei.
Wmstduheute?
Hm?
Was machst du heute?
Heute?
Schreibst du?
Jetzt liege ich erst noch ein bisschen.
Schrbnleben.
Hm?
Wir wollten doch fürs Schreiben leben?
Ja, schon, aber… Hörst du, wie schön der Regen prasselt?
Michèle Minelli, geb. 1968 in Zürich, freischaffende Schriftstellerin, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Verschiedene Auszeichnungen und Stipendien. Zuletzt erschienen „Die Verlorene“, ein historischer Roman über das Leben der Thurgauerin Frieda Keller, Aufbau Verlag 2015. 2017 erscheint die Publikation „Schreiblexikon, das:“, für das Minelli zusammen mit Peter Höner als Herausgeber zeichnet.
Peter Höner, aus Winterthur, geboren 1947 in Eupen/Belgien, freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg im Kanton Thurgau. 2017 erscheint im Limmat Verlag der fünfte und letzte Kriminalroman Kenia Leaks mit den beiden Ermittlern Mettler und Tetu. Und der Schelmenroman Der seltsame Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt.

Eva Roth «Zur Unzeit»

.
die Monduhr zählt​​​​​
die verreckte Zeit die verzehrte
Zeit die vergangene
Zeit auf nicht mal einem
halben Kreis

.
wie verdrehtes Reh liege ich
Vorderläufe und Hinterläufe
von mir gestreckt
den Kopf im Himmel
und erwarte Morgen

.
meine Mulde dreht
die Matte dreht
die Ebene kippt
die Südkette dreht
die Glocke dreht
das Silber dreht
es zieht das Segel

das Zelt
flattert

ich ziehe hinaus
ich drehe
Punkt

.
schön
wenn der Schlaf mich entlässt wie das Meer
wenn eine Welle ein Stück
Holz auf den Strand schiebt
aber
legt der Schlaf mich bloss auf die Schwelle
wie die Katze eine Maus –

.
Blaulicht
schreit durch deinen Schlaf
deine Wände zucken
dreh dich um
verschliess dein Ohr
lass uns
das Unerhörte suchen

Eva Roth, 1974 im Appenzellerland geboren, lebt und arbeitet mit ihrer Familie in Zürich. 2015 erschienen zusammen mit dem Illustrator Artem Kostyukewitsch das Bilderbuch «Unter Bodos Bett» und im gleichen Jahr ihr erster Roman «Blanko» bei der edition 8:
Ayleen ist an einem Wendepunkt in ihrem jungen Leben; der Kindheit entwachsen, auf dem Weg, sich abzunabeln. Aber wovon? Ihre Mutter Silvia gab die Vergangenheit nie preis, obwohl sie sich in keinem Augenblick leugnen liess, denn Ayleen hat dunkle Haut und schwarzes, krauses Haar. Ayleen macht sich auf gegen das Schweigen, auf die Suche nach ihren Wurzeln, nach Familie und Herkunft. Es werden Schichten abgetragen, Proben aus der Vergangenheit analysiert, genau wie bei der Tiefenbohrung, einer Arbeit, bei der Ayleen während der Ferien ihr Taschengeld aufbessert. Und weil das Erkunden der eigenen Herkunft kein lineares Entdecken ist, sich auch im Erdinnern Schichten überlagern, ist Eva Roths Roman kein lineares Erzählen. «Blanko» ist ein Roman mit Tiefenwirkung, erstaunlich reif und kunstvoll konstruiert.

Christine Fischer „Ihre nexten Anschlüsse“

Eine Wolke am Himmel.
An der Wolke ein Himmel.

In die Stunde gegossen mein Körper.
Die Stunde in meinen Körper gegossen.

Stimmen dringen an mein Ohr.
Ohren dringen an meine Stimme. Münder, Augen.

Eine Frau wartet mit den Händen.
Die Hände warten mit der Frau.

Die wartenden Menschen schauen nach Osten.
Der wartende Osten schaut nach den Menschen.
Die haben’s gut. Haben’s die gut?

Im Tunnel öffnet die Erinnerung die Augen.
In der Erinnerung öffnet der Tunnel die Augen.
In den Augen öffnet der Tunnel die Erinnerung.

Das Licht ist müde geworden in der Zeit.
Die Zeit ist müde geworden im Licht.

Meine Hand schreibt über das Licht
und das Licht schreibt über meine Hand.
Eine Erzählung vom Alter.

Eine Frau zeigt ihrem Kind, wie Winken geht.
Ein Winken zeigt der Frau, wie ihr Kind geht.
Wie behände es geht, wie anmutig!

Ich sehe nur, was existiert.
Es existiert nur, was ich sehe.

Die automatische Türverriegelung hat einen Defekt.
Der Defekt hat eine automatische Türverriegelung.
Was bin ich froh darüber!

Christine Fischer

gemalt von Philipp Frei
«Wort», Philipp Frei, Tempera und Ölfarbe auf Papier, 37 x 18.5 cm, 2016

Wer mehr Bilder des Malers Philipp Frei sehen will, findet Informationen unter philippfrei.ch!