Peter Weibel «Der Schmetterling schläft»

Ich weiss nicht genau, was es zu bedeuten hat, dass ich jetzt jeden Tag Leas Fragen höre. Die Fragen sind lauter geworden, seit sie nicht mehr da ist, lange bin ich an ihnen vorbeigegangen, jetzt sind sie wieder da. Manchmal entfernen sie mich von Lea, führen mich an einen fernen Ort, wo ich nie war, und bringen mich doch immer wieder zu ihr zurück. Wenn ich am Fluss unterwegs bin, kann ich die Fragen überall hören, sie sind eine verborgene Spur, Lea hat hier eine Spur hinterlassen. Überall liegen Zeichen, die von ihr erzählen, aber vielleicht werden sie nur deshalb zu Zeichen, weil ich an eine Verbindung glauben will. Und es kann vorkommen, dass ich Lea sehe, in einem Bild: Da ist sie noch, da geht sie und fragt nach dem Vergessenwerden. Da kommt sie mir entgegen, mit ihrer Wollmütze über der zerschundenen Haut, mit der verpackten Stummelhand. Mit ihren kurzen, sperrigen Schritten, dem gekrümmten rücken, mit diesem scheuen und prüfenden Blick von unten, aus den Lidwinkeln heraus. Da kommt sie und fragt mich, wie ist es in einem gesunden Leben, wie ist das, wenn die Haut noch lieben kann? Wie ist das, wenn die Engel jeden Morgen zu Tisch sitzen, wenn der Mond seine Versprechungen hält?

Vielleicht ist es eine Täuschung, wenn wir uns versichern, dass wir nie vergessen werden. Das Vergessen ist ein grosser Meister. Auch das Erinnern, das Bilder häutet, Bilder schluckt und verändert, ist eine Form des Vergessens. Die Erinnerung ist ein Brennglas, das Glas brennt Bilder ein, blendet aus, was ausserhalb der Bilder ist. Das Brennglas bestimmt, was bleibt, eingebrannte Lebensstücke, nicht das ganze Leben. Das Leben bleibt unauffindbar.

Schmetterlingskind. Die Haut ist filigrandünn, zerreisslich wie die Flügelhaut des Schmetterlings. Nicht leuchtend wie die ausgespannten Flügel, nur schutzlos wie sie. Lea braucht das Wort nie, es ist ihr zu leicht, zu verheissungsvoll. Sie weiss, dass ihr Leben als Schmetterlingsfrau kein Schmetterlingsleben ist.

Ich habe Lea gesagt, dass ich ihre Fragen dem Fluss überbringen will; sie hat ihn geliebt. Aber der Fluss hält keine Antworten bereit. Nur immer neue Fragen.

Das Bootshaus sieht am Ende des Sommers verlassen aus, die Planen für das Vordach sind weg, die Leute vom Bootsfahrverein haben alles geräumt. Nur der Kater Graupp ist noch da, er streicht mir um die Füsse, er hat Hunger. Er ist der letzte, der geblieben ist. Im Sommer waren es fünf oder sechs Katzen. Sie waren immer da, wenn Feste gefeiert wurden, wenn die Bootsfahrer zu singen begannen und ihnen ein paar Fleischbrocken zuwarfen. Unten schaukelt ein einsamer Kahn im Fluss, der fast stillsteht; er hat eine silberne Haut. Man kann jeden Stein am Flussgrund sehen. Auch die beiden Schwäne sind wieder da, sie sind schon heimisch geworden, sie stelzen die Treppe hoch und besetzen das Revier. Für sie ist es ein Anfang, wenn die Menschen gegangen sind.

aus «Der Schmetterling schläft», Waldgut Verlag

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmäßig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013). Peter Weibel lebt in Bern.

Claudia Schreiber „Die Brautmutter“

​Sie führte die Friseurin zu dem Mädchen ins Badezimmer, schminken und den Schleier am Hinterkopf befestigen, für zehn Euro schwarz, da konnte man nicht meckern. Das Kleid hing auf einem Bügel, bodenlange Spitze aus Polyester, dazu Schmuck, Schuhe, Täschchen, Blumenstrauß, alles war bereit. Make-up bitte dezent, bestimmte sie. Allenfalls getönte Tagescreme mit etwas Puder, Gloss auf den Lippen, die Augen betont. Mehr nicht. Eine gesunde Röte stand einer Braut eh im Gesicht. Sie verließ den Raum. In einer Stunde würde ihre einzige Tochter verheiratet sein.

Es war ein warmer Maitag und sie schwitzte stark, wegen des Wetters, der bevorstehenden Ereignisse oder der Wechseljahre, sie wusste es nicht: Ihre Haare waren regelrecht nass, ihre Frisur zerzaust. Ihre Augen hatten dunkle Ränder. Seit Tagen schlief sie erst nach Mitternacht ein und wachte morgens viel zu früh auf, immer in Gedanken an die Dinge, die noch zu erledigen waren.
Draußen auf der Straße sammelten sich die ersten Gäste, Autos formierten sich zu einem Konvoi, angeführt vom Wagen für das Brautpaar mit einem Blumenbouquet auf der Motorhaube. Die anderen waren an den Außenspiegeln oder Antennen mit weißen Schleifen geschmückt, wie das so üblich war.
Sie atmete schwer, weil der neue Body-Shaper ihren Leib eine Konfektionsgröße kleiner quetschte. Sie musste es aushalten, öffnete das Flurfenster, schnappte erschöpft nach Luft.
Vor zwanzig Jahren waren sie von hier aus in dieselbe Kirche gefahren, auch damals Schleifen, Blumenschmuck, Konvoi. Sie seufzte. Wo war bloß die Zeit geblieben? Da war die Hochzeitsreise nach Tirol gewesen. Gut. Dann die Einschulung des Mädchens. Süß. Drei Jahre später der Lotteriegewinn, das Auto. Krass. Und sonst, so richtig selige Stunden? Sie warf einen Blick in Richtung des Mannes, dem sie ihr Jawort gegeben hatte. Er stand mit zusammengekniffenen Augen hastig rauchend bei den Blumenmädchen, die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt, als wollte er sie jeden Moment wegwerfen. Er zog an der Filterlosen, bis die Glut der Haut gefährlich nah kam. Schaute abwesend, als ginge ihn das alles nichts an. Griff zwischen seine Beine, er fühlte sich offenbar unbeobachtet, trotz der vielen Leute.
Sie schüttelte den Kopf. Für ihn hatte sie sich seinerzeit die Haare hochstecken lassen, in demselben Bad, Schleier am Hinterkopf. Sie durfte gar nicht dran denken!
Dieselben Rituale und Lieder, derselbe Vers aus dem 1. Korinther: „Die Liebe ist“ und so weiter, sogar derselbe Pfarrer. Aufmarsch in zwei Reihen, auch heute würden alle auf Blüten treten, von Kindern gestreut. Willst du, danke, willst du, bitte, bis dass der Tod euch scheidet. Für andere mochte das eine Floskel sein, wenn’s nicht lief, lief’s halt nicht, fertig, aus. Doch bei ihnen daheim nahm man noch ernst, was man in Kirchen versprach. Zum Schluss würde heute das Halleluja gesungen, in der Shrek-Version, Disneyfilm, vom Kinderchor. Hatte sich Mr. Pickel gewünscht. War das einzig feierliche Lied, das er kannte, ansonsten nur Gedröhne.

Ihrer stand damals auf Wolfgang Petry, der mit den Bändern am Handgelenk. Hölle! Hölle! Hölle! Im Bett benahm er sich, als müsste er den letzten Bus erreichen. Sie hätte gern einfach nur dagelegen, damit er sie streichelte. Fünf Minuten hatte er eben so ihre Haut gerieben, dann wurde es ihm zu langweilig. Nach der Geburt der Tochter lief es noch schlechter, die Entbindung war so fürchterlich gewesen, dass sie nie mehr schwanger werden wollte, aber Lust hatte sie doch. Hatte ihm Kotelett mit Bratkartoffeln gebraten und endlich schüchtern gefragt, ob er sie mal untenrum streicheln könnte, sie ist beinahe gestorben vor Scham, aber sie wünschte es sich so, mit der Zunge, wenn’s ging.
Er hatte sie groß angesehen: „Jetzt?“
Mehr links oder weiter unten bitte. Sie fürchtete, dass er es nie wieder versuchen würde. Er war nicht zärtlich genug. Mach es wie ein Schmetterling. Ein Schmetterling, der fliegt. Er mühte sich minutenlang, sie war ihm dankbar, so könnte es klappen! Ein Wohlgefühl schlich sich an, bald, nur ein ganz klein wenig länger. Sie wünschte sich, dass er es mochte, dass es ihm nichts ausmachte, es ihr zuliebe zu tun. Ein letzter Schmetterlingsschlag, dann! Da tauchte sein Kopf zwischen ihren Beinen auf, und er fragte kühl: „Wie lang dauert’s denn noch?“

Sie war in derselben Sekunde aufgesprungen, aus dem Schlafzimmer gerannt, hatte die Tür geknallt und laut geschrien, durchs ganze Haus. Das Kind war wach geworden. Sie hatte es in den Arm genommen, getröstet, seinen süßen Geruch eingeatmet und auf seinen Kopf geweint.
Seitdem war es vorbei mit der Liebe. Er fand eine andere, irgendwo. Hauptsache, die Leute bekamen es nicht mit. Das war Bedingung. Warum hatte eine Frau was mit dem? Ihr Herz war seitdem schwer. Im Hals ein Gefühl, als hätte sie mehrere Knödel verschluckt. Seit Jahren kein Mensch mehr in ihren Armen, bloß tausend Wünsche, die nie über ihre Lippen kamen.

Sie hat alles allein vorbereitet: Torte, Deko, DJ und Spiele. Auf dem Rasen vor dem Festsaal stand der Holzbock bereit, mit einem Stamm, den das Brautpaar gemeinsam zersägen musste. Die Freiwillige Feuerwehr stand Spalier, danach würden sie zum Dank einen Schnaps bekommen, bloß nicht die Flasche vergessen.
Noch fünf Minuten bis zur Abfahrt. Ihre Kopfhaut war inzwischen wieder trocken, sie drückte ihre Frisur mit beiden Händen in Form. Blieb am offenen Fenster stehen. Sie mochte frische Luft, und dennoch hätte sie jetzt gern eine geraucht. Hatte sie längst aufgegeben, der Gesundheit zuliebe, aber die Gier danach war geblieben.
Als ihre Schwiegereltern goldene Hochzeit feierten und die Gäste endlich aus dem Haus waren, saß sie mit der alten Dame im Wohnzimmer auf eine letzte Zigarette. Da sagte die, den goldenen Brautkranz noch im Haar: „Wenn es nach mir gegangen wär, ich hätte ihn schon vor vierzig Jahren verlassen.“
Was für ein Satz: vor vierzig Jahren! Warum war sie um Himmels Willen geblieben? Die Kinder, das Geld. Was würden die Leute sagen. Alle faselten dasselbe.

Ihr war das Gerede nicht wichtig, sie hätte ihn so gern an ihrer Seite gewusst. Als das damals anfing mit seinen Geschichten, was hatte er da für einen Unsinn zusammengelogen! Er müsse ein Klassentreffen organisieren in einer Vorbereitungsgruppe, mittwochabends. Dann später, man plane nun gar gemeinsam eine Reise nach Wien. Die Schulkameraden wussten von nichts, sie hatte sich erkundigt. Ihrem Mann schließlich die Pistole auf die Brust gesetzt, da rückte er damit raus. Es gäbe da eine Arbeitskollegin. Mit ihr hat er gemacht, was sie selbst zu gern erlebt hätte: einen Ausflug an die Nordsee, eine Wanderung am Strand. Wie er es wohl mit ihr tat, auch so hastig? Ihre Schwiegermutter winkte ab: „Vergiss die Männer. Genieß den ungestörten Schlaf.“

Es wurde Zeit. Sie klopfte an die Badezimmertür.
„Wir müssen los.“
„Drei Minuten noch.“
„Was braucht ihr denn so lange?“
Sie lugte hinein. Das Kind war grell geschminkt, die Haare hochgetrimmt wie eine Puppe. Sie war schockiert: „Du siehst aus wie eine Nutte.“
Die Braut verscheuchte ihre Mutter mit ausgestrecktem Zeigefinger: „Das ist meine Sache, raus.“

Sie stand im Flur, zitterte. Sie verlor ihre Tochter an allen Fronten. Wollte weinen, konnte nicht. Atmete flach. Nuttig war sie selbst gewesen. Damals, sie war im dritten Lehrjahr, hatte der Chef ihr angeboten, gutes Geld zu machen nach Feierabend. Ein lieber Mann, graue kurze Haare, schlank und hochgewachsen. Hatte sie oft angelächelt, ihre Schulter leicht berührt und auf Zuneigung gehofft. Zuletzt hatte er bitterlich in ihren Nacken geschluchzt, seine Frau sei krank und er sei doch auch nur ein Mann. Und weil sie so schäbig herumlief, hatte sie tröstend genickt und zehn Mark erbeten. Für jedes Mal.
Er war ein großer Küsser, Zunge minutenlang in den Hals, hin und her. Wollte, dass sie ihn in der Hand hielt, bis er kam, das war´s im Grunde. Als die Eltern ahnten, dass da was lief, war Schluss mit allem. Nicht mal die Lehre hat sie beenden können. Hat geheiratet, Ende Gelände.

Sie holte ihre seidene Stola, legte sie sich um die Schultern und betrat das verwaiste Kinderzimmer. Warmes Holz, natürlich die üblichen Poster und ein Schreibtisch mit Blick in den Garten. Einige Sachen hatte die Braut bereits ins neue Heim geschleppt, der Schrank fehlte, Lampe, Kommode.
Das Kind hatte eben erst ihr Abitur gemacht, beste Noten. Schon vor drei Jahren hatten alle gestaunt, dass sie so gut war in Chemie und so, in Bio und Physik auch. Für viele unverständlich, doch das Mädchen hatte seine wahre Freude dran. Ist zu Wettbewerben gefahren, bis zum Landesausscheid gekommen. Hat sich auch in Englisch gemacht. Beim Elternsprechtag meinte der Lehrer, sie könnte mit den Leistungen ohne Probleme ein Stipendium bekommen, ein Jahr Amerika. Danach wiederkommen, Abi machen und studieren. Naturwissenschaftlerinnen würden händeringend gesucht.
Sie waren stolz, die Oma hatte gestaunt, der Pfarrer genickt. Man hatte bereits Fotos von der amerikanischen Familie in Händen gehabt, wo sie leben würde. Anständige Leute, Jimmy und Susanna aus Milwaukee mit drei Töchtern. Doch plötzlich wollte sie nicht mehr weg.
„Ich hab mich verliebt!“
Und nun heiratete sie den, obwohl sie nicht mal schwanger war.

Draußen hupten die Fahrer, starteten ihre Motoren. Verdammt noch mal, was brauchte die so lange im Bad! Alle warteten auf das Fräulein.
Hat sich für diesen Tag partout runterhungern müssen auf Größe 34, so ein Irrsinn. Hat ihr für Amerika angespartes Geld in das Brautkleid gesteckt. Einmal Prinzessin sein im Leben, mit allem drum und dran.

Sie sah auf die Uhr, jetzt reichte es aber. Sie riss die Tür auf. Die Friseurin packte eben ihre Sachen zusammen, nickte dem Mädchen lächelnd zu und verließ den Raum.
Die Kolonne wartete draußen, hin zum Jawort. Da platzte der Brautmutter der Kragen. Die holte aus, und knallte ihrer Tochter eine links und eine rechts, dass es nur so klatschte. Ein Schrei, die Wangen rot, der Schleier schief, der Haarknoten aufgelöst. Tränen verschmierten das Mascara der Braut.

Claudia Schreiber, 1958 geboren, war Redakteurin, Reporterin und Moderatorin für den SWF und das ZDF, bevor sie Romane, Sach- und Kinderbücher schrieb. Ihre Texte wurden fürs Theater, TV und Kino adaptiert. 2004 erschien ihr Kinderbuchdebüt „Sultan und Kotzbrocken“ bei Hanser. 2014 folgte mit „Sultan und Kotzbrocken in einer Welt ohne Kissen“ die Fortsetzung der Geschichte. Ihr Bestseller-Roman „Emmas Glück“ wurde 2005 u. a. mit Jürgen Vogel und Jördis Triebel verfilmt. Gemeinsam mit Yayo Kawamura realisierte sie das Bilderbuchprojekt „Ich, Luisa, Königin der ganzen Welt“ (2015). 2016 folgte ihr Jugendbuch „Solo für Clara“. Claudia Schreiber wurde u. a. mit dem »Journalistenpreis Entwicklungspolitik« des Bundespräsidenten ausgezeichnet. Sie lebt in Köln.

Foto: Tim Löbbert

Rolf Hermann „Üff nach Gondo“

Vam Donald Trump inschpiriärt, hätt där Büüunnärnämär und Präsidänt va där Helvetischu Vollpfoschtu Partii, där Franz Fondü usum Wallis, ä 10 Meetär hochi Müüru rund um d Schwiiz wällu büübu. Är hät 40 Tonnä Ziägilschteina und 20 Tonnä Beto uf schiinu Gamio gladu und hätt schi üffgmacht, Richtig Gondo. Will är abär ds Navigationsgrät uff dum Bürotisch värgässu hätt, hätt är wädär där Simplopass no Gondo, wädär Domodossola no Mailand gfunnu.

Är isch eifach immär wiitär gfaaru, bis nu schliässli ds Genua ä seer frindlichä, schwaarzä Haafuarbeitär aghaaltu hätt. Beidi hent änandär teif in d Oigä glüegt und hent värlägu glächlu. Dä sindsch gaa z Mittag ässu und hent bischlossu, fär immär zämu z bliibu. Und wasch am friäjiu Naamittag, Arm in Arm, wiidär Richtig Haafu schpaziärt sind, hätt där Franz Fondü gseit: Dass Gondo gaad äso grooss isch, hätti scho nit gideicht. Und där Makélélé Ruppu hätt lachändu gantwoortu: Oi miär isch Natärsch schoo immär ä biz z chlei gsi.

Auf nach Gondo

Von Donald Trump inspiriert, wollte der Bauunternehmer und Präsident der Helvetischen Vollpfosten Partei, der Walliser Franz Fondü, eine 10 Meter hohe Mauer rund um die Schweiz bauen. Er lud 40 Tonnen Ziegelsteine und 20 Tonnen Beton auf seinen Lastwagen und machte sich auf, Richtung Gondo. Weil er aber sein Navigationsgerät zuhause auf dem Bürotisch vergessen hatte, konnte er weder den Simplonpass noch Gondo, weder Domodossola noch Mailand finden.

Er fuhr einfach immer weiter, bis ihm schliesslich in Genua ein freundlicher, schwarzer Hafenarbeiter per Handzeichen bedeutete anzuhalten. Sie schauten einander tief in die Augen und lächelten verlegen. Dann gingen sie gemeinsam Mittagessen und beschlossen, für immer zusammen zu bleiben. Als sie am frühen Nachmittag, Arm in Arm, wieder zurück zum Hafen spazierten, sagte Franz Fondü: Dass Gondo so gross ist, hätte ich nicht gedacht. Und Makélélé Ruppen fügte lachend hinzu: Auch mir war Naters schon immer etwas zu eng.

Vers Gondo

Inspiré par Donald Trump, l’entrepreneur de construction et président de l’Union Démagogique du Centre, le Valaisan François Fondue, voulait construire un mur de 10 mètres de hauteur autour de la Suisse. Il a mis 40 tonnes de briques et 20 tonnes de béton sur son camion pour partir vers Gondo. Parce qu’il avait oublié son GPS à la maison sur la table du bureau, il n’a pu trouver ni le col du Simplon, ni Gondo, ni Domodossola, ni Milan.

Il a simplement continué à rouler jusqu’à Gênes, où un Noir amical, en débardeur, lui a demandé, par signes, avec ses mains, de s’arrêter. Ils se sont regardés droit dans les yeux et se sont souris d’un air penaud. Ensuite, ils sont allés déjeuner et ont décidé de rester ensemble pour toujours. Quand, en début d’après-midi, ils sont retournés au port, bras dessus bras dessous, François Fondue a dit: Je ne pensais pas que Gondo était si grand. Et Makélélé Ruppen d’ajouter, en riant: Oui, pour moi aussi, Naters a toujours été un peu coincé.

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo „Die Gebirgspoeten“. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit einem Literaturpreis des Kantons Bern (2015). Im Verlag „Der gesunde Menschenversand“ erschien 2017 „Das Leben ist ein Steilhang“, ein sprachlicher Hochgenuss voller Witz und Doppelbödigkeiten!

Margrit Schriber «Die Verrücktheiten in meinem Leben»

Die verrückteste Tat meines Lebens war der Kauf einer Autowaschanlage. Wozu braucht eine Schriftstellerin eine solche, da sie durch ihre Phantasie flaniert? Die Antwort ist einfach. Man muss essen, man hat eine Aufgabe, in meinem Fall eine Reihe von Aufgaben. Ich muss aus dem Reich der Phantasie zurückkehren und von einem zum andern Moment mit beiden Füssen auf dem Boden stehen, denn ich betreue ein Areal. Darauf gab es in den 80er Jahren eine kleine Autowerkstatt mit handbetriebenen Benzinsäulen. Da rundum Grosstankstellen aus dem Boden schossen, kämpfte der Betrieb ums Überleben. Seine Waschstrasse war veraltet. Und es existierte ein bindender Vertrag mit einem weltweiten Benzinkonzern, der diesem eine funktionierende Waschanlage garantierte.
Die Situation war verzwickt!
Es musste eine Autowaschanlage gekauft werden, die mehr Autos in kürzerer Zeit sauberer wäscht. Die Finanzierung von mehr als einer Viertelmillion Franken machte mir Bauchweh. Schreiben ist vergleichsweise erholsam, Geld spielt da nie eine Rolle. Doch jetzt, im Leben?
Ich beschloss das Risiko einzugehen. Der Benzinkonzern schickte mir einen Mann aus der Direktion. Er verhandelte ungern mit einer Frau, die nichts vom Business verstand. Autowaschanlagen waren seine Domäne. Er holte für die Kleingarage eine Offerte ein. Die schickte er mir. Und übersah, dass er auch die Offerte einpackte, die das Fabrikationswerk an ihn gerichtet hatte. Sie belief sich auf den halben Preis. Dies alarmierte mich. Ich suchte nach einem Anbieter ohne Verknüpfung mit dem Benzinkonzern. In Mailand wurde ich fündig. Der Mann aus der Direktion zweifelte, dass Italiener eine solche Anlage bauen können, wollte mich aber zum Werk begleiten. Doch ich wartete vergeblich am Bahnhof und fuhr schliesslich allein dem Gotthard zu.
Der Ingenieur führte mir seine zischende, spritzende Anlage vor. Ich erinnere mich, dass er sich vorbeugte, um im Lärm meine Meinung zu hören und ich nur sein triefendes pechschwarzes Haar anstarrte. Ich hatte keine Meinung. Danach legte er farbige Bürstenfäden vor mich hin. Man könne Duft beifügen, sagte er eifrig. Minze, Jasmin, Vanille, was immer ich möge. Dies liess mich lächeln. Da hielt er mir den Federhalter hin. Und ich unterschrieb.

Die Monteure beeindruckten mit ihren immer sauberen Überkleidern und ihren Arien, die aus dem Tunnel klangen. Der Autowaschtunnel nahm den Betrieb auf. Bald alarmierte eine Störung. Die Mailänder reisten an, behoben sie, wuschen die Hände und reisten in blitzsauberen Überkleidern wieder ab. Eine Freundin erzählte, sie habe beim Autowaschen ein Knacken gehört. Da sei sie aus dem Tunnel gerannt. „Ich wollte nicht im Auto zerdrückt werden.“ Sie übertrieb masslos. Das Gerücht verbreitete sich, diese Autowaschanlage sei lebensgefährlich. Das war fatal geschäftsschädigend. Vor Schreck vermochte ich mich nicht einmal ans Schreiben zu klammern, obwohl mir das in schlimmen Situationen ein Trost ist, da ich mir mit Wörtern erbitterte Feindinnen vom Hals schaffen kann. Das Verschrotten der Autowaschanlage war dann meine zweitverrückteste Tat.
Manchmal weht die Erinnerung mich an. In meinem Roman „Glänzende Aussichten“ habe ich aus dieser Erinnerung eine neue und ganz eigene Welt geschaffen.

27.10.2017

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk. Ihr letzter Roman „Schwestern wie Tag und Nacht“ ist bei ProLobro erschienen, eine raffinierte Beziehungsgeschichte in Krimiform. Ende Januar erscheint bei Nagel & Kimche ihr neuer Roman. Erste Informationen finden sich auf der Webseite der Autorin:

Zu ihrem neuen Roman, der Enda Januar bei Nagel & Kimche erscheinen wird: Seit dem Tod ihres Vaters Anfang der 80er Jahre betreibt Pia die außerhalb gelegene Tankstelle allein: Benzin, Super, leichte Reparaturen, Kiosk mit Imbiss. Aber mittlerweile haben sich die Kunden an das zeitsparende Tanken woanders gewöhnt und kommen nicht mehr extra zu ihr. Pias beste Kundin ist auch ihre beste Freundin, Luisa, Versicherungsangestellte und Geliebte des örtlichen Baulöwen Holzer. Auch Pias Exfreund Luc taucht immer wieder auf — weil er zur Stelle sein möchte, wenn Pia das Geschäft verkaufen muss: Er glaubt, ihm stehe ein Anteil zu. Pia plant die Flucht nach vorn: den weitherum größten Autowaschsalon, ein Pflegeereignis der besonderen Art, das vollautomatische Schneiden-Waschen-Fönen des geliebten täglichen Gefährten. Dazu braucht sie Holzer als Investor; um seine Zusage kümmert sich Luisa. In Mailand wird die modernste Waschstraße bestellt. Die Einweihung wird eine furiose, erotische Feier, die das Dorf in Aufruhr versetzt.

„Ich glaube ans Leben als ein Geschenk. Aber ich glaube auch an die Phantasie als ein hohes Gut. Und ans Buch. Bücher besitzen die magische Kraft, im Kopf eines jeden Lesers eine ganz eigene Welt erstehen zu lassen. Darin liegt ihre einzigartige Sensation.“

Titelfoto: Yvonne Böhler

Marianne Künzle «Drama am Waldrand»

Am Waldrand liegt eine flach getretene Aludose.
Red Bull Energy Drink. Belebt Geist und Körper und hebt die Stimmung. Das steht da drauf, Blau auf Silbern, die Schrift vom Wetter verwaschen.
Die Dose hat ein Mann gekauft, der die Fahrprüfung bestanden hat. Zwei Mal durchgerasselt, nun hat es geklappt. Seine Haut zieren Pickel, aber Autofahren kann er jetzt und das tut er jetzt. Er fährt zu seinem Freund auf dem Bauernhof, mit dem er in die Lehre geht. Er trinkt am Steuer Red Bull und das Fenster steht offen, der Wind bläst ihm durchs Haar und er fühlt sich gut, er trinkt Red Bull, Bier dann später, Wodka auch. Bier wär schon besser, aber ist er ein Baby oder was, er trinkt doch nicht wenn er autofährt. Er nimmt den letzten Schluck, zerdrückt die Dose in seiner linken Hand, die rechte locker am Lenkrad. Schmeisst die Dose aus dem Fenster, ihm gehört die Welt. Die Dose fliegt umständlich durch die Luft, ihre Leichtigkeit ist unübertrefflich. Da haben sich die Verpackungsmaterialingenieure was wirklich Gutes einfallen lassen. Fünf Gramm Leergewicht.

Unter einem Grasbüschel sitzt eine Spitzmaus. Sie wartet dort geduldig, seit zwanzig Minuten. Sie hat aufmerksam gelauscht und geschaut und gewartet und wieder geschaut und gelauscht, geschnuppert. Der Himmel nun wieder grenzenlos blau, der kreisende Schatten des Mäusebussards verschwunden. Der Warnruf der Blaumeise ist in regelmässiges Tschilpen übergegangen. Ein Motorengeräusch nähert sich, das beunruhigt die Spitzmaus aber kaum. Diese lauten Blechkisten sind riesig und tatsächlich beeindruckend, aber sie haben keine Zähne und Krallen und auch wenn sie plötzlich aus dem Nichts auftauchen: die sind sofort wieder weg.
Die Spitzmaus streckt ihre spitze Nase in die Luft, auch der Fuchs scheint nicht in der Nähe zu sein. Die Luft ist rein. Sie trippelt los. Zuversichtlich, emsig, ab nach Hause ins Nest.
Ein dumpfer Schlag.

Drama am Waldrand: Red Bull erschlägt Spitzmaus!

Marianne Künzle, 1973 in Bern geboren, ist gelernte Buchhändlerin, war Kampagnenleiterin im Bereich «Ökologische Landwirtschaft» bei Greenpeace. Seit Ende 2015 arbeitet sie in einer Teilzeitanstellung bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. „Uns Menschen in den Weg gestreut“, ihr erster Roman, ist bei Zytglogge erschienen und absolut lesenswert, auch wenn man mit Heilkunde nichts am Hut hat.

 

Tim Krohn «Bäcker am Ofenpass»

Der Ofenpass ist beliebt bei Jungs mit schweren Maschinen. Na ja, nicht nur der Ofenpass, der ist nur einer von vierzig Passstrassen im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, und sommers jagen die Jungs (Was heisst Jungs, das Durchschnittsalter liegt bei 70.) dort gern Rekorde. Deshalb wollte Hein, als er vor einigen Jahren auf der Höhe des Ofenpasses kurz austreten musste, dafür auch nicht extra ins Restaurant, sondern querte, nachdem er die Maschine geparkt hatte, nur eben die Strasse, um sich ins Gebüsch zu schlagen. Dort treffen allerdings gleich so einige Wanderwege zusammen, entsprechend gross war das Geläuf. Während Heins Not immer grösser wurde, folgte er dem dünnsten Weglein und hoffte, recht bald zu einem ungestörten Plätzchen zu kommen. Sein Problem war, dass inzwischen ein grosses Geschäft rief, das hiess den Overall ausziehen, und sowas macht man macht man doch lieber im Privaten.
Nachdem er eine ganze Weile dem Schafsberg entlang gegangen war, entdeckte er in der Bergflanke eine Höhle, die er auch gleich eroberte. Mit herrlichem Blick über die Bündner Alpen gab er seinem Drang nach. Doch schlagartig wurde er dabei todmüde, schlief ein und wachte erst in tiefer Nacht wieder auf.
Es war kalt – er kauerte noch immer mit barem Hinterteil an einen Felsvorsprung gelehnt –, und aus dem Berg vernahm er ein Rumoren. Während er sich noch bemühte, die steifen Glieder zu strecken, sah er sich plötzlich von weissen, matt aus sich heraus leuchtenden Gestalten umringt, Bäckergesellen offenbar. Da blieb er doch lieber hocken und hoffte, dass sie ihn übersahen.
Das schienen sie auch zu tun.„Was backen wir heute?“, fragte der eine die anderen.
„Schaiblettas“, schlug der zweite vor.
„Wer heizt den Ofen ein?“, fragte wieder der erste.
Der ist schon heiss“, stellte der dritte fest, „ich muss ihn nur noch öffnen.“ Und während er das sagte, schlug er dem Hein mit einer Brotschaufel ganz unspektakulär die Schädeldecke ab. Jetzt konnte Hein sich überhaupt nicht mehr regen, selbst wenn er gewollt hätte. Und offenbar glomm in seinem Schädel wirklich eine Glut, denn seit jenem Schlag war die Höhle in mattes, rotes Licht getaucht. Er musste mit ansehen, wie die Gesellen in einer Vertifung im Fels, einer Art Wanne, Mehl, Zucker, Eier und Nüsse, dass es nur so stob, dann formten sie daraus Plätzchen und backten sie dort, wo Heins Hirn sitzen musste.
Das ging hurtig, und der Anblick hatte auch einen gewissen Zauber. Kurz vergass Hein tatsächlich, wie es um ihn stand, stellte wiederum der erste der Gesellen fest: „Genug gebacken für heute. Wer schliesst den Ofen?“
„Ich“, sagte der dritte, schlug Hein – klack! – die Schädeldecke zu, und im selben Augenblick waren sie verschwunden.
Hein wartete noch eine Weile, dann regte er sich behutsam, tastete den Schädel ab, der zu seiner grossen Erleichterung doch heil schien und sah sich um, im Licht des Feuerzeugs. Die Kekse schienen die Gesellen mitgenommen zu haben, das bedauerte er etwas. Doch dann entdeckte er, dass von seinem Geschäft ein warmer Schimmer ausging: ganz offensichtlich war es vergoldet!
Da nun sein Schädel doch tüchtig brummte, kroch Hein kurz aus der Höhle, um sich tüchtig strecken zu können. Dabei sah er, dass die Gegend dicht verscheit war, und noch immer fielen Flöcklein, fein wie Mehlstaub.
Er robbte zurück, schob sein vergoldetes Geschäft in die Tasche und suchte den Rückweg. Der Schnee leuchtete so hell in der Nacht, dass er den Weg gut fand.
Und weil ihm nicht danach war, mit seiner Suzuki 600 auf einer verschneiten Strasse zu fahren, klopfte er den Wirt der Herberge aus dem Schlaf, der schob ihn unkompliziert ins Massenlager ab. Hein war noch ganz aus dem Häuschen, und als er einen entdeckte, der offensichtlich schlaflos lag, ging er zu ihm und erzählte die aufregende Geschichte. Natürlich zeigte er auch sein vergoldetes Geschäft.
„Wenn das massiv ist, bist du ein gemachter Mann“, sagte der andere, nachdem er das Geschäft in der Hand gewogen hatte.
Daran hatte Hein noch gar nicht gedacht. Er schlug den goldenen Klumpen übers Knie, um zu sehen, was geschah. es zerbrach, und dabei zeigte sich leider, dass es doch nur vergoldet war. Die Stücke rollten unter die Pritschen, es stank gehörig, der andere schimpfte ihn einen Idioten und schlug auf ihn ein, und darüber wieder erwachten die anderen. Zuletzt prügelten sie ihn gemeinsam aus dem Schlafsaal. Das Ende vom Lied war, dass Hein von da an keine Pässe mehr fahren konnte, sein Hirn blieb überaus empfindlich – sei’s von den Schlägen oder den Ereignissen in der Höhle –, der kleinste Höhenunterschied war schmerzhaft. Liftfahren ging gerade noch.
„Und was lernst du daraus?“, fragte seine Freundin, als er heimkam?
„Was soll ich daraus lernen?“, fragte er zurück. „Von nun an gehe ich eben aufs Klo.“ Aber vor allem ärgerte er sich, dass er sein Geschäft nicht einem Museum übergeben hatte, denn in den kommenden Jahren las er immer wieder von Künstlern, die mit Kacke berühmt geworden waren.

Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane «Quatemberkinder» und «Vrenelis Gärtli» machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband «Nachts in Vals». Der Auftaktband des ›Menschliche Regungen‹-Projekts «Herr Brechbühl sucht eine Katze» war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschien der zweite Band «Erich Wyss übt den freien Fall».

Franz Hohler «Enten»

Auf dem Bahnhof Wiedikon, wo ich aus der S-Bahn ausgestiegen bin, hupt die Lokomotive dreimal hintereinander heiser in den Tunnel hinein, bevor sie mit dem Zug darin verschwindet. Den Grund dafür sehe ich wenig später. Auf dem entgegenkommenden Gleis hasten zwei junge Entlein aus dem Tunnel heraus. Wie und warum sie da hineingeraten sind, weiss ich nicht, aber sie haben offenbar gemerkt, dass das nicht ihr Ort sein kann, und suchen nun fiepend irgendeinen Ausstieg aus dem vertieften Bahntrassee. Da steht plötzlich auf dem andern Bahnsteig die Entenmutter, die ihre Jungen sucht und abwechselnd schnattert und hohe Laute ausstösst. Aber weder sieht sie ihre Jungen, noch scheinen ihre Jungen sie zu hören. Man möchte der Alten zurufen: «Da vorn sind sie!», doch sie watschelt in die falsche Richtung.
Eine Frau versucht mit ihrem Handy die Polizei oder die Feuerwehr anzurufen. Gerade erst haben wir schärfere Gesetze gegen den Familiennachzug von Flüchtlingen erlassen, aber das können wir nicht mitansehen, diese kleine Familie müssen wir doch zusammenführen – da naht tonnenschwer ein Zug aus dem Tunnel; das eine Entchen sucht immer noch einen Ausweg zwischen Gleis und Bahnsteigkante, das andere rennt zwischen den Schienen vor der donnernden Gefahr davon. Ich ducke mich, und als der Zug im Bahnhof anhält, sehe ich erleichtert das eine der Jungen immer noch zwischen den Schienen rennen, während das andere immer noch versucht, das Perron zu erklimmen und die Frau immer noch auf der Suche nach Rettern ins Handy spricht und die Entenmutter immer noch auf der falschen Seite am Verzweifeln ist.
Dann muss ich gehen.

Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Alice-Salomon-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein neuster Roman «Das Päckchen» erscheint wie fast alle seine Bücher im Luchterhand Verlag.

Konrad Pauli «Verweilskizzen»

… In diesen langen Augenblicken scheint alles stillzustehen – und die Schwalben schwirren durchs Himmelblau. Zuweilen rauscht ein Motorrad übermütig auf – es scheint, der Fahrer müsse etwas tun gegen den Stillstand, die sonntägliche Stille. Weitherum wird er, entgegen seiner stummen Absicht, aber nicht kommen – auch er dreht sich im Kreis. Sich selbst entkommt er nicht. Bloss in Kilometern ist seine Ausfahrt belegbar und dokumentiert. Aber das Licht ist eine wunderbare Last auf allem: Die Ziegeldächer, Busch und Baum. Vor lauter Ergriffenheit will sich nichts rühren. Alles wartet ab. Worauf… Man kennt ja die Fortsetzung – oder meint es zumindest. Frau Gerber hat es wohl vorgezogen, die Wärme, ja Hitze zu meiden – sie sitzt zu Hause und macht sich Gedanken über Vieles. Als junges Mädchen, so hat sie erzählt, hat sie früh aufstehen müssen und anpacken. Es war eine erzwungene Selbstverständlichkeit. Gelernt hat sie, Hitze und Kälte auszuhalten. Nicht wohlig am geheizten Ofen, nicht untätig im Schatten. So kann sie nicht verstehen, dass die Heutigen jedes Wehwehchen beklagen und darob fast in Ohnmacht fallen. – Das Licht bringt die Blätter zum Glühen – südlicher geht’s nicht mehr. Das Licht hat die Gegend brutal im Griff. Man bleibt stehen, hält gleichsam den Atem an und ist halbwegs besorgt, nicht in den wunderbaren Strudel gerissen zu werden.

Der weisse Geigenkasten
Ein Mädchen in weissem Sommerkleid geht mit weissem Geigenkasten vorbei. Geradezu respektvoll halten Autofahrer am Fussgängerstreifen. Das Mädchen geht da wie eine lichtdurchflutete Erscheinung. Ist sie wirklich da – oder ist man das Opfer einer Luftspiegelung? Selbst wenn das Mädchen drüben nun in den Hausschatten taucht, überlebt das Lichthafte. Gewiss hat sie sich gut vorbereitet für die Übungsstunde. Ob sie ihrem Instrument treu bleibt, gar Grosses vorhat, weiss keiner. Jetzt ist sie hier ganz Gegenwart. Unangefochten. Was sie geübt und einstudiert hat, wird sich zeigen lassen. Aufmunterung wird Kritikhaftes übertönen. Vielleicht denkt das Mädchen, fähig schon zur Selbstkritik, sie hätte sich noch besser vorbereiten können – aber Verbissenheit ist ihre Sache nicht. Anderes gibt’s auch noch im Alltag. Nicht nur der weisse Geigenkasten verpflichtet. Aber in seinem Weiss verfängt sich die Sonne besonders schön. Schwarz? – Unvorstellbar. Es sieht nicht so aus, als werde das Mädchen zum Geigenspiel gezwungen mit schalen Versprechen, gar Nötigung. Ihr Gang wäre so ein anderer. Sie wird die Geige behalten als Mittel zum höheren Zweck, zur Erforschung der Musik. Noch ahnt sie kaum, welch ein Vorrat an Partituren-Schätze auf sie wartet. Genug für ein langes Leben, zumal man ein Stück nicht bloss einmal spielt. Üben, üben… Noch weiss man nicht, zu welcher Musik sie aufbricht, zu welchem Lied sie einmal fähig sein wird.

Auch das gehört dazu:
Die Kübelpalmen vor dem Ticino gaukeln Südliches vor. Nicht dass man immerfort daran hinge. Es sind die Klischees, die, ohne mein Dazutun, ihre Macht ausüben. Kein Zwang freilich, vielmehr ein Spiel, immer Erinnerungen der Ferne hervorlockend. Genauigkeit ist nicht zwingend. Es ist mehr ein entspanntes Umherstreifen und Zulassen. Greift nun ein kühler Wind über meinen Rücken in die Palmenblätter, ist’s plötzlich auch ein Nördliches. Die Jacke, die man soeben aufgeknöpft hat, wird wieder enggezogen. Harmloses erhält bestimmend Gewicht. So ist das Verweilen gesättigt von Aufmerksamkeit und Gegenwart. Weder geschieht Besonderes noch langweilen die Auftritte der Passanten. Wie Statisten stehen die Wartenden an der Tramstation. Vergeblich zähmen junge Frauen ihr langes Haar im Wind, aber die Geste ist voller Anmut. Ein Kleinkind stolpert über den Gehsteigrand. Die Mama ist froh, dass sie nicht allzu sehr trösten muss. Am Ende der Strassenflucht wachsen weisse Wolken in die Höhe: Vorboten des Sommerlichen. Ein Bus wartet, die Anschrift verlangt: Nicht einsteigen. Soldaten eilen urlaubsfroh zur Station. Der Wind flaut ab, sofort übernimmt die Wärme das Szepter: Die Jacke wird wieder aufgeknöpft. Erwartungen sind stillgelegt; es genügt, wenn gleichwelche Forderungen wieder aufleben. Die Zeit steht still – und eilt doch davon.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen «Ein Heldenleben», «Seit jeher unterwegs», «Marcos Blicke in Seeland», Weitergehen» und «Ein Romantiker in nüchterner Zeit» (Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele).

Urs Mannhart «Nichts rennt wie Rotwild»

Es gibt, und ich bin dankbar dafür, die unterschiedlichsten Lehrer auf dieser Welt. Oft schätzen und würdigen wir jene Lehrpersonen, denen es gelingt, uns mühelos etwas begreiflich zu machen, uns flugs zu Einsichten zu verhelfen, von denen wir zuvor nicht wussten, dass wir sie unbedingt haben wollen. Es finden sich jedoch auch Lehrer, denen es, obwohl nicht unsympathisch, nicht gelingen will, uns etwas beizubringen, die uns, nach einem staunenden, irritierten Zuhören, ratlos zurücklassen. Ich mag diese zweitgenannten Lehrkräfte eigentlich ganz gut, auch weil uns die Dinge, von denen sie erzählen, oft lange noch zärtlich hörbar durch die zelebralen Gänge kriechen.

Neulich bin ich einem Lehrer dieser Art begegnet; er stand, glänzend vor Stolz, vor der Landwirtschaftlichen Genossenschaft. Dieser Lehrer war ein Auto, ein frisch poliertes, auffallend bulliges Modell, wie es in den USA gerne gefahren wird; auf seiner Seitentür waren liebevoll verziert zwei Worte aufgedruckt, die ich gleich ein paar Mal lesen musste: Urban Cowboy.

Diese Worte, das ganze Auto, sein stolzgeblähtes Dastehen vor der mitten im Dorf sich befindenden Landwirtschaftlichen Genossenschaft – ich war paralysiert. Insbesondere das Urban Cowboy gab mir unverzüglich Hausaufgaben mit, die zu lösen ich bis heute beschäftigt bin.

Womöglich, das muss erwähnt sein, hängen das Auto und das Dorf, in dem es geparkt steht, kausal zusammen. Denn Pfaffwil, so das Dorf, gelegen auf knapp 700 Metern über Meer, hockt am Ende einer kleinen Talschaft wie ein beleidigter Erstklässler in der Ecke des Schulhofs; seit je her weht ein apokalyptisch angegammelter Wind um die hiesigen Hausecken. Die mit schnuckligen Steingärten, Sichtschutzwändchen, Plastikmöbeln und funzligen LED-Gartenlämpchen verunzierten Glücksschatullen von Einfamilienhäuschen schmiegen sich hier so eng wie kaum woanders an konventionell geführte Bauernhöfe, die seit Jahren dicht an der Grenze des wirtschaftlichen, kulturellen und seelischen Konkurses entlangschrammen. Trotz dieser Nähe gibt es keinerlei Verbindung zwischen den Einfamilien und den Bauern; die Landwirte produzieren für die Industrie und haben die Beziehung zu ihren Produkten verloren, die jeden Miststock weit von sich weisenden Einfamilien fahren in die nächste Kleinstadt, um ihre homogenisierte, standardisierte Nahrung im Supermarkt einzukaufen. Die letzte Kraft, die das Dorf vor dem Zerfall bewahrt, ist der Charme der Verkäuferin im Volg-Laden, eine Frau, die davon profitiert, ihre kulturellen Hintergründe nicht in der Schweiz eingesammelt zu haben.

Es ist Pfaffwil das Dorf meiner Mutter, und was sie dort seit über zwanzig Jahren macht – ich weiss es nicht. Sie wohnt dort, erledigt den Haushalt eines Mannes, der sich die Abende gerne mit Fernsehprogrammen füllt, während sie, weil sie jene Aufregungen nicht mag, die aus den Spielfilmen heraus in die Stube lärmen, an den Fernsehbildern vorbei auf die Nadeln blickt, mit denen sie Socken strickt. Socken, die sie mir schenkt, Socken, die ich gerne trage, obwohl ich sie nicht tragen kann, ohne daran denken zu müssen, wie meine Mutter lange Abende am Fernseher vorbei auf die Stricknadeln blickend vor dem Fernseher verbringt, in diesem Dorf, in dem in kalten Winternächten die Leblosigkeit aus den Gullideckeln dampft, in diesem Dorf, das zu verstehen mir vielleicht nie vergönnt sein wird.

So ist mir also auch meine Mutter eine gute Lehrerin. Während ich nicht verstehe, wie sie es seit über zwanzig Jahren in einem Dorf aushält, aus dem ich, wenn ich sie besuche, nach spätestens zwanzig Minuten flüchten möchte, scheint sie nicht die geringsten Schwierigkeiten zu haben, meinen nicht sehr bürgerlichen Lebenswandel zu verstehen. Ich möchte mit meiner Unbürgerlichkeit nicht kokettieren, Vieles wurde mir vom Schicksal kostenlos vor die Füsse gespült, aber ich stelle es mir doch etwas abenteuerlich vor, als bald 70-jährige Mutter einen Sohn zu haben, der, obwohl über 40, weder Frau noch Kind noch Auto noch Wohnung noch festen Job hat. Bloss eine Lehrstelle auf einem Bauernhof hat er, sein Stundenlohn beträgt zwei Franken achtzig, und dann ist er auch noch frech genug zu behaupten, er sei glücklich.

Ja, ich sehe ein, ich könnte, verstünde mich meine Mutter nicht so gut, meine Mutter viel besser verstehen, aber sie gehört eben zu diesem Pfaffwil, das ich nicht verstehen kann – kein Wunder eigentlich, dass dort jetzt noch ein Auto steht, das ich nicht verstehe.

Urban Cowboy; wahrscheinlich ist es ja ein Sanitärinstallateur, der dieses Auto fährt, oder ein Metallbauschlosser, viele andere Jobs sind auf dem Land nicht zu haben, und als Cowboy mag er sich fühlen, weil sein Vater noch einen Hof führt und er hin und wieder mit diesem grossen Auto zwei Säcke Ergänzungsfutter aus der Landi holt, während er sonst zum Beispiel sehr geschickt Aussentreppen und Handläufe zusammenschweisst, am Dorfrand, wo sie das Altersheim renovieren, in dem er später einmal wohnen wird.

Anfang zwanzig war ich, als ich, neu an der Uni eingeschrieben und ohne Geld, mit meiner Mutter in dieses Dorf zog. Für mich war Pfaffwil und die vollkommene Abwesenheit von Möglichkeiten, mit denen es gefüllt war, stets die beste Nahrung für phantastische Einfälle. Auch heute fände ich es nur logisch, würden die meisten jungen Menschen, die in hier aufwachsen, den Wunsch entwickeln, später einmal als Pilot in Asien, als Matrose auf dem Indischen Ozean oder als Robotik-Forschungsleiter in China zu arbeiten. Aber dieses Urban Cowboy zeugt von einer anderen Denkweise, es erinnert mich an einen Kollegen aus der Berufsschule, die ich Ende Mai abgeschlossen habe. Ein Kollege aus der Provinz hinter Winterthur war das, der nie zu sehen war ohne ein mit heroischen Silben bedrucktes Kleidungsstück. Meist waren das T-Shirts, die von einem Traktor schwärmten. Nothing runs like a deer, stand dann da zu lesen, und während ich lange noch an Rotwild dachte, war für alle anderen in meiner Klasse vom ersten Augenblick an klar, dass es um John Deere-Traktoren geht. In den letzten Schulwochen hatte er den Unterricht jeweils in einer sehr robusten, knallroten Arbeitshose besucht, die mit dem Schriftzug der Freiwilligen Feuerwehr Unter- und Oberstaffelbach bedruckt war. Ohne je mit ihm darüber zu sprechen, wussten wir also, dass er Mitglied ist in dieser Feuerwehr, und die Hose war so glänzend rot und tadellos sauber, dass er sie unmöglich an einer der Feuerwehrübungen, die er gewiss absolvierte, bereits getragen haben konnte. Er trug diese Hose nur mittwochs, auf der Schulbank, und ich weiss nicht, ob ich ihn beneiden soll dafür, irgendwo so sehr dazuzugehören.

Unter- und Oberstaffelbach sehen Pfaffwil vielleicht ziemlich ähnlich, im Gegensatz zu den meinen sind die Eltern dieses Berufsschulkollegen aber Landwirte, spezialisiert auf Schweinemast. Er hat mit zwanzig eine Lehre als Landmaschinenmechaniker abgeschlossen, hat auf dem Hof seines Vaters gearbeitet, hat geheiratet, ein Kind gezeugt, und bildet sich nun, mit sechsundzwanzig Jahren, im Kanton Bern, noch zum Landwirt aus. Auf einem Betrieb freilich, der Schweine mästet. In diesem ersten Schuljahr war er einer der besten unsere Klasse; so erfahren wie er ist keiner. Er wird, das ist klar, in zehn oder fünfzehn Jahren den elterlichen Betrieb übernehmen.
Wieso eigentlich, wurde er einmal von einem Klassenkollegen gefragt, wieso eigentlich betreibst Du den ganzen Aufwand, um von Winterthur nach Bern zu fahren, wenn Du Dein Lehrjahr auch auf dem elterlichen Hof hättest absolvieren können?
Ich wollte, so antwortete er, ich wollte noch einmal etwas anderes sehen, ehe der Ernst des Lebens beginnt.
Ich stand, wie er das sagte, gleich neben ihm. Gebannt blickte ich in sein Gesicht, suchte die Mundwinkel nach einem Lachen ab, suchte in seinen Augen nach Anzeichen der unbedingt in den nächsten Sekunden hervorbrechen müssenden Ironie. Aber da kam nichts, da war nichts, er meinte den Satz mit dem Ernst des Lebens vollkommen ernst, diese Lehrstelle auf einem bernischen Schweinemastbetrieb ist für ihn tatsächlich die letzte Chance, noch einmal etwas anderes zu erleben, ehe er, für den Rest seines Lebens, auf dem elterlichen Hof Schweine mästen und hin und wieder mit den anderen Mitgliedern der freiwilligen Feuerwehr einen kurzweiligen Abend verbringen wird.

Am liebsten hätte ich ihn heute mitgenommen, damit er, ehe der Ernst des Lebens beginnt, noch die Dala-Schlucht oder eine Lesung von Gospodinov erlebt, aber damit wüsste er wahrscheinlich nichts anzufangen, nothing runs like a deer, und wenn fünf Meter hinter Deinem Schlafzimmer vierhundertfünfzig Mastschweine leben, hast Du andere Sorgen, als der Dala beim Rauschen zuzuhören. Das nächste Mal, wenn Sie im Supermarkt Schweinefleisch kaufen, können Sie also an Stefan denken, an Stefan aus Unter- oder Oberstaffelbach, ich weiss es nicht, aber ich bin sicher, er trägt seine schöne Feuerwehrhose nur, wenn es nicht brennt.

Noch immer aber versuche ich, dieses Urban Cowboy zu verstehen. Um meinen Blick zu wenden, um die Worte von ihren Stühlen zu bitten und sie im Kopfstand vor mir zu haben, stelle ich mir ein Auto vor, das mitten in Bern geparkt steht und auf dem rural officeboy zu lesen ist. Das müsste, weil doppelt entgegenstehend, semantisch wieder dasselbe sein.
Ich nehme also an: Der urban cowboy lebt ein städtisch geprägtes Leben, er kennt die PIN seiner Kreditkarte, weiss, wann welche Ampel auf Grün schaltet, hat aber nicht vergessen, wo, wenn es um eine Kuh geht, vorne und hinten ist. Beim rural officeboy verhält sich das ähnlich: Er kümmert sich zwar jetzt um Software, weiss aber noch immer, wie weich der Fladen einer Kuh ausschaut, deren Darmflora gesund ist. Wieso aber erwartet der Mensch, der diesen Wagen beschriften liess, von den Worten urban cowboy so selbstsicher aus seiner Mitwelt nur positive Reaktionen? Wieso hat er nicht in Betracht gezogen, seine Inhalte in der deutschen Sprache zu transportieren? Städtisch geprägter Agrarpraktiker – wäre das nicht bestrickend?

Es ist anzunehmen, dass es noch andere Dörfer gibt, in welchen solche Autos stehen. Vielleicht zählen sogar Unter- und Oberstaffelbach dazu. Unnütz, in die Dörfer zu blicken, wenn man sieht, was in den Städten passiert? Würden die Menschen, die auf dem Dorf wohnen, nicht dauernd unsere Abstimmungen gewinnen, könnte man zu Recht monieren, es sei hinfällig, über sie zu schreiben.
Um eine Übersicht über das Dorfleben in der Schweiz zu gewinnen, stelle ich mir gerne Landeskarten vor, thematisch koloriert: Verschiedene Farben kennzeichnen durch die Jahre hindurch die verschiedensten kulturellen Einflüsse und machen sichtbar, bis wohin welche Einflüsse haben vordringen können.
Dort, wo Pfaffwil eingetragen ist, sind nicht besonders viele Farben zu finden. Es gibt dort Internet-Anschlüsse, fast so viele wie in den Städten auch, aber das Internet ist bloss ein Kanal, über den Transport von Inhalten, über die Verbreitung von Einsichten sagt das nichts aus. So fühlen sich Pfaffwil und seine Nachbardörfer, die Karte belegt es, seit Winnetou und Old Shatterhand mit Faust und Flinte für Gerechtigkeit gesorgt haben, dem so genannten Wilden Westen kulturell sehr viel näher als zum Beispiel Zürich. Von Brüssel gar nicht zu sprechen. Country music klingt eben auch viel besser als Ländler. Und während die Berliner gegenwärtig von den Koreanern und deren Restaurants schwärmen, sind die Dörfler freilich nicht auf Fremde angewiesen, um ihren Saloon zu betreiben. Man muss nur einen alten Revolver, ein paar Dollar-Noten und ein Bild von einer Harley-Davidson über den Tresen hängen, und alles ist klar. Nach den Abenteuern Winnetous, von denen Pfaffwil nachhaltig beeinflusst wurde, blieb das Dorf lange ohne kulturellen oder mentalitätsgeschichtlichen Wandel. Das änderte sich erst, als der Autohersteller Subaru sich entschied, von einem ihrer Modelle werbewirksam zu behaupten, es sei speziell für die Schweiz entwickelt worden. Bald fuhren so viele Dörfler einen Subaru, dass sich unterbewusst der Glaube etablierte, es handle sich um ein einheimisches Fahrzeug. Das war in den 80er-Jahren. Seither hat sich in diesen Dörfern, einmal abgesehen von der Umstellung auf den verkapselten Kaffee, nichts geändert.
Nein, stimmt nicht ganz: In einigen Dörfern, so die Karte, hat sich noch die Einsicht verankert, dass es sich, wie Bundesrat Adolf Ogi einst im Fernsehen darlegte, lohnt, einen Deckel auf die Pfanne zu legen, wenn man ein Ei kocht.
Fassen wir zusammen: Drei wesentliche kulturelle Einflüsse in fünf Jahrzehnten – das kann nicht erstaunen, denn Bescheidenheit war hier schon immer ein überlebenswichtiger Charakterzug. Daran wird sich offenbar auch demnächst nicht viel ändern, denn die Dorfjugend bleibt dem Motorrad treu und will nichts wissen von den E-Bikes; an einer Batterie gibt es schliesslich nichts zu frisieren!

Nothing runs like a democracy: Zum Glück hört, denke ich jetzt, zum Glück hört der Ernst des Lebens mit dem Witz des Sterbens auf, und ehe das eintritt, soll noch jede und jeder Gelegenheit haben, kluge und wichtige, womöglich identitätsstützende Worte auf Autotüren zu schreiben.

Urs Mannhart hat als Velokurier, Nachtwächter, Journalist und in der Landwirtschaft gearbeitet. 2004 erschien sein Erstling »Luchs«, 2006 dann »Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola«. Als Reporter berichtet Mannhart aus Ungarn, Serbien, Kosovo, Rumänien, Russland, Weißrussland und der Ukraine. »Bergsteigen im Flachland« ist sein dritter Roman, für den er 2016 mit dem Conrad Ferdinand Meyer-Preis ausgezeichnet wurde.

Dominique Anne Schuetz «Wohnblock – Kino – Coiffeur»

Der Wohnblock

Stockwerke übereinander gestapelt wie Kartonschachteln, voll mit Plüschsofas und Fernsehgeräten, Kuckucksuhren, Aquarien und Gummibäumen. Vierundzwanzigmal ein Stück gemietete Heimat mit Grenzen aus dünnhäutigen Wänden. Namensschilder statt Menschen. Türen im Multipack. Fenster in Reih und Glied. Verstopfte Abläufe und defekte Storen gehören zum Alltag. Die Hausordnung hat mehr als zehn Gebote. Du sollst nicht Lärm machen zur Unzeit. An den Treppenhausmief gewöhnt man sich, an den Waschküchenplan nicht. Die Frau des Hausverwalters wischt die Stufen. Im Winter ist die Fassade leer. Im Sommer ergiessen sich Geranien wie bunter Badeschaum über die Balkone, und aus den Radios scheppern Pavarotti, Ramazzotti und Kaleb. Ganz oben scheint die Sonne länger. Unten rauscht das Meer aus Blech.

Kino

Irgendwo am Sunset Boulevard. Die letzte Vorstellung. Zwei Tickets für eine Hand voll Dollar. Eine Tüte Popcorn und eine Coke, bitte. Thelma & Louise weisen den Weg zu den Plätzen aus rotem Plüsch. Lange Beine, kurze Röcke. Manche mögen’s heiss. In den Rängen hält ein Midnight Cowboy seine pretty Woman im Arm. Der stramme Goldjunge Oscar sitzt in der ersten Reihe. Auf den billigen Plätzen tummeln sich die nervigen Poltergeister. Jean-Paul Belmondo und Jane Seberg sind wie immer zu spät und völlig ausser Atem. Das Licht geht aus, doch die Men in Black behalten ihre Sonnenbrillen auf. Der Projektor surrt, ein Löwe brüllt. Nur noch 12 Sekunden bis zur Ewigkeit. Endlich beginnen die Stars zu leuchten. In den Hauptrollen: der blaue Engel, des Teufels General und Dr. Mabuse. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Das Publikum vergisst die Realität, wird zurück in die Zukunft geworfen, hört den Fluch der Karibik, verliert sich in 3D, ist jenseits von Eden. Liebe, Verrat und Tod allenthalben. The End. Der Saal leert sich. Wollen wir noch in Rick’s Café? Im Regen vor dem Filmpalast wartet ein Taxi Driver. Er sieht aus wie Robert De Niro.

Damals beim Coiffeur

Zwei Schaufenster, vier Stufen, eine Tür. Dahinter öffnet sich die Welt der Scheren, Bürsten und Kämme, der Shampoos, Lockenwickler und Haarfarben. Waschen, legen, frisieren seit 35 Jahren. Alles alte Schule. An den Wänden Reklameplakate, ausgebleicht von der Zeit. In der Mitte zwei Frisierstühle mit Polstern aus Plastik, rot und glänzend wie lackierte Fingernägel. Spiegel zeigen eine verkehrte Wirklichkeit. Einmal aussehen wie Doris Day. Die Trockenhaube hat viel zu tun. An der Decke surrt ein Ventilator, und aus dem Radio scherbelt Frank Sinatra. I did it my way. Eine Wolke aus Haarspray schwebt im Raum. Hochsteckfrisuren wachsen bis zur Decke. Die Monroes der Vorstadt wollen immer dasselbe: Wasserstoffblond. Gern doch, eine Maniküre für Madame, und eine gründliche Rasur mit dem Messer für den gepflegten Herrn, Dampfkompresse inklusive. Ein Salon vom Scheitel bis zur Sohle.

Dominique Anne Schuetz, geboren in Winterthur (CH), ist aufgewachsen in St. Gallen. Studium Graphic Design an der Schule für Gestaltung St. Gallen. Zunächst Art Director, dann Konzepterin/Texterin und Creative Director in namhaften Kommunikationsagenturen.
Seit 2007 Ausrichtung auf das Schreiben von Romanen, die Entwicklung von Kulturprojekten und die Arbeit als Konzepterin / Texterin. Ihre beiden letzten Romane «Die unsichtbare Grenze» und «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» sind beim Europa Verlag erschienen. Ein neuer Roman ist unterwegs!