Levin Westermann «Parti sans laisser d’adresse / unbekannt verzogen», Plattform Gegenzauber

Levin Westermann: Die Gedichte in »unbekannt verzogen« habe ich in den Jahren 2009 bis 2012 geschrieben. Im Winter 2012 ist das Buch dann bei Luxbooks (Wiesbaden) erschienen. Es war mein Debüt. Der Titel war recht schnell vergriffen und wurde nie nachgedruckt. (Ab 2016 hat Luxbooks keine Bücher mehr publiziert, 2020 wurde die GmbH aufgelöst.) 
 
Ich bin mit meinem zweiten Gedichtband zu Matthes & Seitz Berlin gegangen. M&S hat sich dann vor ein paar Jahren auch die Rechte an »unbekannt verzogen« gesichert. So ist nun alles unter einem Dach. 
 
Marina Skalova hat vor vier Jahren erstmals einzelne Gedichte aus »unbekannt verzogen« für Literaturmagazine übersetzt. Es war ihre Idee, das gesamte Buch zu übersetzen, und sie hat das Projekt dann auch auf die Beine gestellt und mit Cheyne einen wirklich tollen Verlag für die Publikation gewinnen können. 
 
Wir haben uns über die Jahre mehrfach getroffen und via eMails über Details in der Übersetzung ausgetauscht, aber ich muss unbedingt betonen: der Credit für »Parti sans laisser d’adresse« gebührt ganz klar Marina! Denn sie spricht Deutsch und Französisch fliessend, publiziert in beiden Sprachen, und hat bereits viele andere literarische Werke übersetzt. Mein Französisch ist leider eher schlecht — und somit habe ich Marina voll und ganz vertraut. Da lief sehr viel über den Klang der Sätze, den Fluss der Zeilen. Denn ich schreibe vor allem mit dem Ohr. Und der Klang der Gedichte funktioniert über die Sprachgrenze hinweg.  Dafür bin ich Marina ungemein dankbar. Sind es noch meine Gedichte? Es sind unsere Gedichte. Denn jede Übersetzung ist schlussendlich eine Kollaboration. Davon bin ich überzeugt.
 

 

Die Zerlegung der Zeit

WIE EIN FRESKO, das vom rand her eitert,
sagst du. drei mal drei entsprechungen entfernt,
auf dem grund des sees. wir schalten um auf kiemenatmung.
somnambulismus from this point forward. zunehmender druck,
bei abnehmender sicht. die welt wird immer kleinerkleiner.
das schroffe antlitz eines quastenflossers, hängende gärten,
triefend vor nass. stille, oder: die abwesenheit von lauten,
sagst du.

DISKUSSFISCHE UND QUITTEN, suspended in time,
mid-flight. einer ahnung folgend, spiegelverkehrt.
je schwarze raucher, desto rochen. schiffsleichen
wie in kupfer gestochen. ach, sagst du, und dann:
manche farben zählt man besser nicht. sedimenthorizonte,
fernab des wetterleuchtens. immer eine rostige reling
und immer daran pulen. noch leiser: das rauschen,
auch knistern genannt.

UNDERTOW

tiefensog jade-
gestirn blei-
westen-beige f-
dur alpha ten
fragment tao
mangokranz-
glutorange
begradigt d-dur
alpha lavasaft
fragment lava
begradigt d-dur
zeta quark–
korallen farbe
komma dunkel
gewicht kappa
element saft
klammer zu

NICHTS IST KLAR, niemals nur einfach.
blicke als ornament wahrnehmen, abstrakte muster,
die ordnung der nelken. mit dem finger auf die eleganz
im flug einer möwe deuten. keine flötenklänge, keine bekenntnisse,
auch kein liebesanspruch, nicht in diesem foto. ich kenne die menschen,
sie tragen die körper, in denen sie sterben, sagst du. wahn
oder dialektik,
oder beides? immerhin, das gewicht des herzens unter wasser,
die wiederholung
der wellen vor der steilküste von ravlunda.

EINE GLEICHUNG mit einer unzahl
von unbekannten: nesseltiere, plastiktüten,
unsere fussspuren im sand. einst meinten wir, die ausnahme zu sein,
die sich dem metrischen muster entzieht, doch jetzt wissen wir,
dass sich türen automatisch schliessen, auf der nachtseite der worte.
die ablation der sinne beim wiedereintritt in die atmosphäre,
sagst du. und der kaffee in den tassen ist noch schwarz,
die zerlegung der zeit in mundgerechte trümmer.

 

La décomposition du temps

COMME UNE FRESQUE dont les bords suppurent,
dis-tu. à une distance de trois fois trois équivalences,
au fond du lac. nous basculons en respiration branchiale.
somnambulisme à partir de ce point. la pression augmente,
à mesure que la vue décline. le monde toujours plus petitpetit.
la figure rude d’un coelacanthe, jardins suspendus,
à l’humidité ruisselante. silence, ou l’absence de sons,
dis-tu.

DISCUS ET COINGS, suspendus dans le temps,
en plein vol. ils suivent une idée, à l’envers des reflets.
vers les fumeurs, les raies pullulent. épaves de navires,
comme gravées dans le cuivre. bah, soupires-tu et tu dis :
certaines couleurs ne valent pas le coup. horizons sédimentés,
loin des éclairs de chaleur. et toujours un bastingage rouillé
où toujours farfouiller. tout doucement, un bruissement,
on dit aussi : grésillement.

UNDERTOW

abysses air
cage impossible
JT jadis nul
jade constell-
ation bi-plomb
alpha net dur
fragment tao
à l’ouest du b
eige do ré mi si
fragment aval
aquarium PC
zeta quark
couleur nef
poids corail
à élément kappa
X silence fin
de parenthèse

RIEN N’EST CLAIR, jamais juste simple,
percevoir les regards en ornements, des motifs abstraits,
l’agencement des oeillets. renvoyer du doigt à l’éléganc
du vol d’une mouette. pas de sons de flûtes, pas de confessions,
ni demande d’amour, pas sur cette photo. je connais les gens,
ils portent les corps dans lesquels ils meurent, dis-tu. folie
ou dialectique,
ou les deux ? au moins, le poids du coeur sous l’eau, la répétition
des vagues, au pied de la côte abrupte de ravlunda.

UNE ÉQUATION avec une myriade
d’inconnues : corail, méduses, sacs en plastique,
nos traces de pas dans le sable. jadis nous pensions être l’exception
qui se dérobe au schéma métrique, à présent nous savons
que des portes ferment automatiquement, au verso des mots.
l’érosion des sens lors du retour dans l’atmosphère,
dis-tu. et le café dans les tasses est encore noir,
la décomposition du temps, débris à la mesure des bouches.

 

Levin Westermann, 1980 in Meerbusch geboren, studierte an der Hochschule der Künste Bern und lebt als freier Schriftsteller in Biel. 2020 wurde er mit dem renommierten Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg ausgezeichnet, 2021 mit den Schweizer Literaturpreis, 2022 mit dem Deutschen Preis für Nature Writing.

Marina Skalova, 1988 in Moskau geboren, lebt in Genf. Sie ist Übersetzerin und Schriftstellerin. Auf Deutsch liegt bisher der zweisprachige Band „Atemnot (Souffle court)“ (2016) sowie das Theaterstück „Der Sturz der Kometen und der Kosmonauten“ (2019) vor. „Exploration du flux“ erschien 2018 bei Le Seuil, Paris.

Webseite der Autorin und Übersetzerin

Beitragsbild © Bettina Wohlfender

Julia Trompeter «Selbst ist der Text», Plattform Gegenzauber

Wer schreibt angesichts von Klimakrise und Krieg, bitteschön, noch über sich selbst und falls ja, über wie viele denn überhaupt, und wenn das hier schon am Anfang so kompliziert wird, wird doch jede anständige Leserin den Tab sowieso gleich wieder schließen, und du kannst dir die ganze Schreiberei sparen.

Um es kurz zu machen:  Ein Text, in dem jemand irgendwann einen Marathon läuft und dann alles besser wird, wird das hier nicht werden. Die Entscheidung, ob jemand deinen Text lesen will, wird sicher keine drei Sekunden in Anspruch nehmen. Die Person wird sich vermutlich fragen: „Habe ich Lust, das hier zu lesen?“; „Habe ich überhaupt die Zeit dazu?“ und zack, weiß sie Bescheid. In deine Lage hingegen versetzt sich kaum einer. In dich, die du jetzt und hier entscheiden sollst, ob du diesen Text schreiben sollst – oder lieber nicht. Dabei geht es hier um eine Entscheidung, die extrem weitreichend ist, weil sie deine ganze schreibende Zukunft betrifft.

Du weißt es also noch nicht, du zauderst noch. Und selbst wenn du dich zum Innersten entscheiden solltest, bleibt fraglich, ob du es überhaupt noch kannst. Solltest du ihn aber irgendwann doch geschrieben haben werden, heißt dies noch lange nicht, dass ihn jemand lesen wird.

Es sind also, um den Gedanken ein wenig abzukürzen, recht viele Zufälle und Wunder von Nöten, damit ein Text seinen Weg geht. Und wenn er tatsächlich einst geschrieben worden sein wird und Sie ihn bis zu diesem Punkt gelesen haben sollte, dann sollten Sie ihn schon deshalb bis zum Ende lesen, weil sein Entstehen mindestens so unwahrscheinlich war, wie mit Mitte vierzig noch spontan schwanger zu werden.

Einen Text über sich selbst schreiben zu wollen und das auch noch öffentlich kundzutun, statt es nur heimlich als Möglichkeit zu denken, ist ein ziemliches Wagnis. Um nicht zu sagen, reichlich hirnverbrannt. Kurzum, die Frage „Warum dieser Text?“ wäre noch kurzfristig zu klären.

Du versuchst es mal.  Am Abend und in der Nacht, wenn dein Kind schläft und wilde Träume hat von Piraten und Schildkröten und seiner Oma. Du hast festgestellt, dass etwas in dir leckt, und Sie dürfen sich nun gerne eine Zunge vorstellen, so eine rote wie die der Rolling Stones, falsch ist das sicher nicht, doch du dachtest eher an ein Schiff, das langsam mit Wasser vollläuft, um dann irgendwann Schlagseite zu bekommen und zu sinken. Du bist also, um im Bild zu bleiben, die Kapitänin eines beunruhigend schlingernden Schiffs. Und da hast du dir gedacht, weil ja Selbstfindungstexte gemeinhin recht erfolgreich sind, dass du vielleicht auch einen schreiben solltest. Natürlich nicht irgendeinen. Texte, die die Welt nicht braucht, gibt es bekanntlich schon genug. Wenn also, dann gilt es einen zu produzieren, den sie braucht. Einen, der Anfang, Mitte und Ende hat und bei dem man beim Lesen irgendwie verändert herauskommt. Ein Text der Nächte, des Dunklen und Verdrängten. Aber auch dessen, was inwendig leuchtet und strahlt. So wie die Seele.

Dazu fändest du gerne eine Sprache wie Wasser, transparent, warm in der Sonne und im Schatten kühl, mit kleinen Fischen darin, die allesamt nicht mehr bedeuten, als was sie sind: kleine Fische in einem klaren Bach. Sprachflüsse sind etwas Herrliches, und wer sich je als Ursache eines solchen Flusses erlebt hat, wird deine Sehnsucht verstehen, diese Quelle im Inneren wiederanzapfen zu wollen. Insbesondere dann, wenn sie lange ausgetrocknet war und versiegt und verloren schien.

Quellen sind, neben den Menschen, wohl die eigenwilligsten Geschöpfe Gottes. Die ewige Quelle, die du Gott nennst, schafft auch andere Quellen. Solche, die sich, längst versickert und vergessen, plötzlich wiederbeleben können. Auch der nichtswürdigste Schreiberling kann jederzeit mit einem neuen Buch reüssieren, kann plötzlich wieder Götterliebling sein. Dass Gott seine Quellen (ebenso wie die Dichter) besonders liebt, sieht man daran, dass er ihnen die Fähigkeit zum Schöpfen quasi vererbt hat – und schon bist du kurz davor, dich selbst als gottähnliches Wesen darzustellen, was sicherlich dem ein oder der anderen sauer aufstoßen mag, aber dafür kannst du nichts. Möge man den herabfließenden Sprachfluss des Hochmuts bezichtigen und dich verschonen.

Es liegen also Jahre der Dürre hinter dir, Jahre, in denen du kaum etwas Gescheites zu Papier brachtest und kein Brünnlein floss. Stattdessen spiest du dann und wann wütende Sprachbrocken aufs Papier, zähe Ungeheuer, die sich später nur im Geheimen und unter großer innerer Pein von ihrer Schöpferin lesen ließen. Inkognito ergo non sum, wie der stümpernde Lateiner in dir sagt: Solange du dich nicht mit deinem Geschriebenen identifizierst, gibt es dich nicht.

Doch dann hast du dir eines schönen Tages gedacht, dass du es eigentlich nicht einsiehst dich auszulöschen. Du hast es satt, deinen Kopf in den Sand eines zugekackten Spielplatzes zu stecken. Du fühlst endlich wieder etwas in dir. Und lass es einfach Wut sein.

Moment bitte, es klingelt.

An der Tür war ein junger Mann von der Telekom, der eine Glasfaserleitung verlegen wollte, also natürlich nicht sofort, sondern demnächst. FTTH heißt diese Faser, was dich an die unzähligen FDH-Diäten deiner gottlosen Jugend erinnert, aber die Unterschrift über den Vertrag, der besagt, dass du dann die nächsten zwei Jahre dein Internet bei der Telekom bezahlst, die wollte er sofort.

„Entschuldigung, aber das kann ich nicht so schnell entscheiden“, hast du gesagt, du bräuchtest eigentlich keine so schnelle Leitung.

Wobei du natürlich nicht weißt, ob du sie nicht doch brauchst, solange du sie nicht getestet hast. Der menschliche Geist gewöhnt sich ja an nichts schneller als an Komfort, Schnelligkeit und Bequemlichkeit. Und eine schnelle Leitung, die wäre ja vielleicht doch gut, gibt es die auch für den Kopf, das hättest du den jungen Mann einmal fragen sollen.

Jedenfalls warst du noch nie gut im Abwimmeln, weshalb ihr sicher zehn Minuten im Flur herumstandet, und vielleicht hättest du ihm einen Kaffee anbieten sollen. Und ihn dann fragen, ob er sich nicht ein bisschen ausruhen will bei dir auf dem grauen Sofa, wo man W-Lan Empfang hat. Vom Feinsten. Kupfer wird gemeinhin unterschätzt, man denke nur an die Spirale zur Verhütung; und dein Internet mit seinen Kupferdrähten, das funktioniert wirklich tadellos.

Jetzt ist er jedenfalls wieder gegangen, aber nur kurz, da du sagtest, dass du erst deinen Bruder anrufen müssest, der sei nämlich Glasfaserspezialist und kenne sich mit allen Einzelheiten aus. Bloß hat der Bruder gerade keine Zeit und jetzt liegt das Handy neben der Tastatur, und gleich wird der junge Mann wieder an der Tür klingeln, und du fühlst dich wie diese tapfere, weißgelockte Lady in Herbie, deren Haus in einer riesigen Baubrache als einziges noch steht ,aber von Alonzo Hawks Abrissbirne bedroht wird, der ein 130 Stock hohes Plaza just an der Stelle bauen will, wo die gute alte Frau Steinmetz schon seit vielen Jahrzehnten zu Hause ist. Nicht, dass das Haus, in dem deine Wohnung sich befindet, abgerissen werden soll, nein, so ist es nicht. Doch betrachtet man es, könnte man meinen, es wäre vielleicht besser, wenn es jemand täte.

Nun denn, das ist viele Stunden her. Hallo zurück. Du kannst leider nicht sagen, ob der Junge nochmal wiedergekommen ist, denn zwischendurch warst du beim Italiener und hast deinen Entschluss, den Text zu schreiben, komme was wolle, gefeiert. Hast einen großen Teller Pasta gegessen und einen mezzo litre vino della casa und mehrere Grappas getrunken, und jetzt willst du nur kurz gucken, ob das Brünnlein noch fließt oder schon wieder Ebbe eingesetzt hat. Dein Vertrauen in deine Fähigkeiten ist nämlich durch die Negativerfahrungen der letzten Jahre, gelinde gesagt, ein wenig erschüttert.

Wer weiß eigentlich, dass die Themse einer winzigen Quelle in einem Kaff namens Trewsbury Mead entspringt? Einer Quelle, die so winzig ist, dass Wanderer sie regelmäßig für eine Pfütze am Wegesrand halten? Hätte nicht jemand einen dicken, grauen Stein zum Gedenken am Wegesrand aufgestellt, wüsste kein Schwein, dass hier ein bedeutender Fluss entspringt. Nun, die Schweine wissen es wahrscheinlich noch am ehesten, wenn sie sich an heißen Sommertagen an dem kleinen Rinnsal laben.

Du selbst bist auch auf einem Kaff aufgewachsen, in einem Zimmer voller Spinnen, und hattest dabei Haare so lang wie der Arm eines normalgroßen, ausgewachsenen Mannes. Deine Zeit vertriebst du dir zu je einem Drittel mit Schule, mit der minutiösen Dokumentation deines Lebens in Tagebüchern sowie Besuchen bei deiner besten Freundin im Fachwerkhaus gegenüber, deren Haar ebenso lang war wie deines. Ihr hattet einander wirklich gern, auch wenn ihr euch selbst hasstet und somit, nach landläufiger Sicht, gar keine Liebe hätten empfinden dürfen, denn Liebe gründet ja auf Selbstliebe. Das wusstest du aus den Büchern über das Selbstbewusstsein, die du damals last, weil du hofftest, die würden dich weiterbringen. Tagebuchschreiben gleicht einem sehr langen Blick in einen blinden Spiegel, es ist weder befreiend noch bringt es einen weiter. Und Jahre später, sollte man es denn mit viel Überwindung wagen, noch mal in eins dieser Bücher hineinzulesen, packt einen ein würgendes Gefühl des Ungenügens. Dein Schreiben von damals war aus heutiger Sicht ein Akt der Selbstvergewisserung und Identitätserzeugung. Wer warst du und wer wolltest du sein?

In deinem Kopf geisterten die Vorstellungen aus der Werbeindustrie, aus MTV und der Brigitte Young Miss, und generierten in dir jene oberflächlichen Zerrbilder der Schönheit, jene Ungetüme der Modewelt, die das pubertäre Selbst umkreisen und anzugreifen trachten, indem sie es von jenen Werten entfernen, an die es sich eigentlich schmiegen sollte: Liebe und Achtung und Respekt und Bewusstsein. Als Kind hattest du, um dein Ungenügen zu vergessen, in eskapistischer Weise Mädchenbücher gelesen, anschließend schriebst du Tagebücher voll. Später Bücher.

Der wichtigste Unterschied zwischen dem Konsum und der Produktion von Literatur ist wohl der, dass man beim Schreiben, theoretisch zumindest, die Möglichkeit hat, zu produzieren, was man selbst gerne lesen würde. Denn Schreiben und Lesen sind eng verknüpft. Der Akt des Schreibens wird durch das gleichzeitige Lesen selbst zu einem ästhetischen, einem wahrnehmenden Akt. So last du also beim Tagebuchschreiben tagtäglich dein eigenes Leben, du erzeugtest es und schufst dein Dasein, indem du Worte suchtest für dein Suchen, deine Verzweiflung und deine Sehnsucht nach Besserung.

Die Katalogmädchen, denen du so gerne ähneln wolltest, wurden nachmittags in die Eis-Disco eingeladen oder tänzelten beim Leistungsturnen auf Schwebebalken herum. Du lagst nach der Schule auf dem Sofa, aßt Schokolade und schriebst.

Heute, da die zweite Lebenshälfte angebrochen ist und ein Gefühl der Endlichkeit den Horizont deiner Erfahrungswelt begrenzt, liegt dir viel daran, dem Augenblick auf die Schliche zu kommen. Beim Schreiben jedes einzelnen Wortes zeigt sich die gerade vergangene Vergangenheit, während die Zukunft – das wartende, immer schon in den Startlöchern des Vorbewussten sitzende Wort – eben dabei ist sich zu erfüllen. Und zwischen beidem liegt das Ungreifbare, Unfassbare, das wir Gegenwart nennen. Jener Augenblick, der nie ganz da ist, sollte man meinen, da er, wenn man ihn fassen will, schon wieder verflossen ist. Du siehst also die Wörter vor dir wie durch Zauberhand entstehen, denn die Signale, die vom Gehirn zu den Muskeln führen und so die Gedanken in etwas Lesbares verwandeln, bleiben unsichtbar. Man kann sie nicht beobachten, diese Impulse, die aus Gedanken Sprache oder sogar Literatur machen. Vielleicht hat ja die ganze Schriftstellerei weniger mit Begabung zu tun als mit dem Entdecken dieses Mechanismus, jener eigentümlichen Lust, die den Schreibenden überkommt, wenn er bemerkt, dass er nicht mehr und nicht weniger ist als der Mittler eines notwendigerweise verborgen bleibenden Prozesses, den du für ein zentrales Moment jener Tätigkeit hältst, die du jetzt und hier, an diesem herbstlichen Vormittag, ausführst.

Und so sitzt du heute, so viele Jahre nach deinem letzten Tagebucheintrag, wieder da und weigerst dich, dich thematisch zu veräußern, dich irgendwo ‚reinzulesen‘ oder ‚reinzufühlen‘, um dann irgendeinen Lebensweg darzustellen oder ähnliches, weil du, wie du gestehen musst, beim Schreiben nach wie vor am liebsten in deiner eigenen Gesellschaft bist. Es ist sicher nicht besonders schlau, über sich selbst zu schreiben. Andererseits schreiben in letzter Instanz alle über sich selbst. Es ist ihr eigener Erfahrungsschatz, den sie dem vermeintlich Anderen überstülpen. Wer hingegen über sich selbst schreibt, schreibt zugleich immer auch über das Andere.

„Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut“, stellten Horkheimer und Adorno in Dialektik der Aufklärung klar, und im Umkehrschluss wird das Eigene bei näherer Betrachtung unvertraut – was das Schreiben über sich selbst zu einer Reise in völlig unbekannte Gefilde machen kann.

Wer eine Reise beginnt, ohne zu wissen, wo sie enden wird, geht das Risiko ein, sich zu verirren und für immer verloren zu gehen. Die große Chance aber besteht darin, auf Reisen einen Schatz zu finden. Dir wurde unlängst ans Herz gelegt, eine Therapie zu machen, und du hast dich dagegen entschieden. „Liebe dein Symptom wie dich selbst“, ruft der Zizek in dir. Es lässt sich ja nicht ausschließen, dass eine Therapie negative Konsequenzen für das weitere Leben hätte. Sie könnte zum Beispiel einer Beamtenlaufbahn im Wege stehen, falls du doch noch Lehrerin werden musst, oder, schlimmer noch, deinen gerade erst wiedererwachten Schreibimpuls abwürgen. Und es wäre doch schade, wenn Trewsbury Mead auf einmal trocken bliebe und keine Themse mehr ins Meer flösse. Auch der kleine Bär und der kleine Tiger finden einen Schatz, wähnen sich kurz im Reichtum und kehren letztlich mit leeren Händen nach Hause zurück. Ihre Erkenntnis: Zu Hause ist‘s am Schönsten.

Seit du diese Geschichte kennst, stellst du dir das mit dem Schatz der Selbsterkenntnis nicht mehr so hochtrabend vor. Eher so, wie Lacan sagt, dass ein Brief immer seinen Bestimmungsort finde. Wenn du ihn recht verstehst, meint er damit, dass es nicht so sehr auf die Botschaft ankommt, sondern darauf, sie zu verfassen. Und wenn du einen Brief schreibst, ohne ihn abzuschicken, dann ist seine Botschaft wahrscheinlich an dich selbst gerichtet. Du solltest dir also vielleicht die Tagebücher von damals noch einmal vornehmen und sie lesen wie nicht abgeschickte Briefe an dein heutiges Ich. Und dann folgt die Selbsterkenntnis? Eher nicht. Du jedenfalls rechnest nicht damit, dass dich plötzlich ein Spotlight erleuchtet und jene initialen Ereignisse deines Lebens sichtbar macht, die dazu geführt haben, dass du heute die bist, die du eben bist. Vielleicht gleicht deshalb auch dieser Text hier am ehesten einer Botschaft, die dich irgendwann ebenso zufällig erreichen wird wie Sie heute. Wichtig ist aber, dass das, was die Empfänger aus der Botschaft machen, nicht mehr in deiner Hand liegt. Aber genug der Abschweifungen. Obwohl sie dann gerechtfertigt sind, wenn der Anfang mehr als die Hälfte ist, wie Aristoteles sagte, denn wenn das stimmt, dann muss man sich besonders zu Beginn ordentlich ins Zeug legen. Du bist also jetzt fertig mit der Schilderung der Umstände, in denen du dich befindest und hast die Gründe für diesen Text hinreichend dargelegt. Hast dich entschlossen, die Reise anzutreten. Sie mögen selbst entscheiden, ob Sie dich begleiten wollen – oder lieber nicht.

Julia Trompeter, geboren 1980 in Siegburg, studierte Philosophie und Germanistik in Köln. Nach ihrer Promotion lehrte sie Philosophie in Deutschland und den Niederlanden. Seit Kurzem ist sie an einer Schule in Berlin tätig, wo sie seit der Geburt ihres Kindes lebt. Sie schreibt Lyrik und Romane und arbeitet frei für die FAZ und den WDR. Für ihr Werk wurde sie u. a. mit dem Rolf-Dieter- Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln und dem Förderpreis des Landes NRWausgezeichnet. Ihr erster Gedichtband Zum Begreifen nah erhielt den Poesie-Debüt-Preis der Stadt Düsseldorf.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Peter Susewind

Peter Weibel «Mein Faden ist blau. Für Beat Brechbühl, Lyriker, Verleger, Freund»

Er steht nicht am Bahnhof, nicht wie all die Jahre zuvor, wenn er mich erwartet hat, auch nicht an der Handpresse im Verlagskeller, der kahl geworden ist ohne Geschäftigkeit, ohne Menschen, er sitzt gedankenverloren in seiner Computernische an einem Glücksspiel. Als würde gerade das noch bleiben, nach so viel verlorenem Glück, die Utopie Spielglück. Als würde es einem zustehen, der die Utopie immer eingefordert hat gegen jede Berechnung

Weil ich nicht singen kann,
bin ich Lyriker geworden

Und Verleger. Wenn er aufsteht, geht er gebeugt durch den hallenden Raum, der aussieht wie ein Museum für die vergessene Kunst des Handpressedrucks. Manchmal sucht er etwas, bleibt verloren stehen zwischen Büchern und Bodoniblättern, die ihn umgeben wie eine Aura. Namen, denen er eine Stimme gegeben hat gegen das stumpfe Gedächtnis der Gebrauchswelt. Izet Sarajlic, Galsan Tschinag. Rafik Schami. Er steht da wie ein erratischer Block in einem verlorenen Land, und in Gedanken rufe ich ihm zu, man kann ein Land tilgen, nicht sein Vermächtnis, das Wort als letzter Hort der Utopie lässt sich nicht vernichten

Die Jagd auf dich
ist eröffnet

Er sagt: Was geschieht mit einem, dem alles genommen wird? Kein Verlagshaus mehr, keine Fahrten zur Karthäuse mehr, überhaupt keine Ausfahrten mehr. Keine Freiheit mehr, sich selbst, den eigenen Tag zu wählen, dafür Überwachung durch den Pflegedienst, am Morgen um acht, am Abend um Viertel vor sieben

Hast alles hergegeben: dich,
deine Arbeit, deine Begabung, deine Zeit

Der Verlag hat die Welt weit gemacht, er hat die Welt in die Provinz getragen, er hat alles eingefordert und alles wieder genommen. Und er hat seine Begabung geschluckt – die Stimmen der anderen wurden ihm wichtiger als seine eigene. Wie kann man schreiben, wenn die Stimmen der anderen darauf warten, gehört zu werden, wenn sie in jeden Winkel des Tages drängen, selbst in den Traum?

Ich liebe eine Linde
niemandem sage ich welche

Die alte Holzbank unter der Linde steht noch immer da, ich bin mir sicher, hier hat er auch mit Sarajlic gesessen, hier hat er mit Sarajlic darüber gesprochen, dass es Kriege gibt, solange keiner dagegen anschreibt, solange Kriegsgedichte den Tod des Vergessens sterben wir die Opfer des Krieges. Und hier erklärt er mir, was mit einem geschieht, wenn die verlässlichen Lebenspunkte wegschwimmen, die sicheren Behausungen, wenn man sein Vertrauen an die falschen Menschen verschenkt

Weil ich nicht lügen kann,
bin ich Dichter geworden

Das Lügen hat er anderen überlassen. Freunde können zu Feinden werden, es kann auch sein, dass er zu viele Feinde gesehen hat. Jetzt sieht es aus, als wäre jeder mit ihm befreundet, man begegnet ihm respektvoll, manchmal besorgt, im Areal des Eisenwerks redet man ihn an wie eine Legende, ich weiss nicht, ob es ihn freut oder nicht. Ob es ihn freut, auf die immer gleichen Fragen antworten zu müssen

Weil ich nicht Englisch kann, geriet
ich gleich aus dem Kindergarten nach Italien, dort flog mir
ein Buchverlag entgegen, den ich später gründete

Was geschieht, wenn das Gedächtnis immer schlechter wird? Manchmal sucht er Namen, Bezugspunkte, er weiss, was einen erwartet, der sich langsam verliert, er hat es bei anderen gesehen. Die weit verzweigte Gedankenwelt im Kopf, eine grosse Landschaft ohne Grenzen hat ihn von einem Kontinent zum anderen getragen, jetzt verängstigt sie ihn

Weil ich oft das wuchernde Leben verpasse,
habe ich Lücken in meiner elften Biografie

Ich weiss nicht, was geschieht, wenn man die Handpressen abmontiert und wegschafft wie ein stockendes Herz, das vom Blutkreislauf abgeschnitten wird

Sein mächtiges Lachen ist leise geworden, aber ich höre es noch immer laut über den Seerücken rollen. Auch seine wortgewaltigen Geschichten höre ich noch immer, epische Erzählungen, in denen man hängen bleibt, sie haben ihm Türen geöffnet und manchmal auch wieder verschlossen. Mir bleibt er ein Freund aus Granit – ein Turm von Mensch, der trotzige Bücher formt, die einen Hauch von Anarchie in die Welt hinaus schicken. Ein Unbeugsamer, der sich nicht brechen lässt, auch wenn die Jäger längst freie Schussbahn haben

Türme fallen nicht, sie werden zu Fall gebracht.

Unten sagst du: Dort oben bin ich gewesen. Ich war
oben, ganz sicher – und genau dieser Satz sagt, dass er
sich nicht mehr so sicher ist

Ich frage nicht, warum bist du dir nicht mehr so sicher, ich hätte ihn fragen müssen, bevor ich gehe. Ich hätte sagen müssen, es gibt kein unten für den, der oben gewesen ist, die freie Sicht oben ist nicht verhandelbar – man kann ein Verlagshaus räumen, ein Lebenswerk nicht

Aber mein Faden ist blau
und er ist endlich

Endlich ist nur die physikalische Vermessung, aber die Sprache der Bücher bleibt.

Juni 2021

Die Lyrikzitate sind Beat Brechbühls Lyrikband „Böime, Böime! Permafrost & Halleluia“ entnommen.

Beitragsfoto © Martin Stiefhofer

Alain Claude Sulzer «Auf dem Balkon», Plattform Gegenzauber

Sie stand auf dem Balkon des Theaters, der nichts weiter als ein fussbreiter Mauervorsprung mit einem Sicherheitsgeländer war, und sah auf die Königsallee hinunter, als Dariusz sie anrief und ihr erzählte, er habe von einem Haus in Teheran geträumt, in dem er nie gewesen war, er kannte weder die Stadt noch das Land und also auch kein Haus, aber er träumte in letzter Zeit oft davon, erzählte er ihr. sie hatte zu tun, aber sie hörte ihm zu. Um die anderen nicht zu stören, hatte sie das Gespräch auf dem «Balkon» entgegengenommen, der bloß ein Austritt war. Die Straße, auf die sie sah, war belebt, viele Autos, wenige Fußgänger, ein Hund, der wie wild an der Leine zog und seine Besitzerin fast umgeworfen hätte.

In einem steinernen Garten mit vier Säulen sei er gestanden, in dem es keine Blumen gab, erzählte er ihr. Überall seltsame Tiere, die sich blitzschnell in Ritzen und Spalten unsichtbar machten und nicht mehr auftauchten; er hätte sie gern gesehen und identifiziert. Neuerdings träumte er öfter von Orten, an denen er nie gewesen war: Ein Brunnen unter verkrüppelten Bäumen in einem weissen Innenhof, über den sich ein luftiges Zeltdach spannte. Es ging ein frischer Wind, der wie eine ausgestreckte Hand unter das Zeltdach fuhr. Wie schon als Kind erzählte er ihr auch als Erwachsener Dinge, die andere ihren Müttern verschwiegen hätten, Wichtiges und Unwichtiges. Dariusz, ihr Erstgeborener, war sechsunddreissig und arbeitete in seiner eigenen Anwaltskanzlei. Er hatte eine Frau, zwei Kinder, er kannte die Welt, nur Teheran kannte er nicht.

Seltsame Vögel, bunt und laut, hatte er erzählt. Er erzählte gern farbig und ausführlich. Bücher, die sich in einer Ecke stapelten, religiöse Schriften, vermutete er, in Teheran las man sicher nicht Philip Roth. Er war allein. Welches Teheran war das? Das von damals, das er nicht kannte, oder das von heute, das er auch nicht kannte, das aber bruchstückhaft hin und wieder, wenn irgendetwas passiert war, in den Nachrichten, auf seinem Handy, im Radio, im Fernsehen, in den Zeitungen, auf den News-Bildschirmen der U-Bahn auftauchte?

Wie seine Schwester Jasmin beherrschte Darius nur die paar Sätze Farsi, die er aufgeschnappt hatte, wenn seine Mutter mit ihren Verwandten in Teheran, Los Angeles oder in Köln telefonierte, während sie am Boden saßen und zu ihr aufblickten. Den Sinn dieser Sätze hatte er – wie Jasmin – nur halbwegs oder gar nicht verstanden, doch irgendwann begannen sie wie Blutkörperchen in seinen Blutbahnen zu schweben.

(Romanauszug, in Arbeit)

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel. Alain Claude Sulzer lebt in Basel, Vieux Ferrette und Berlin

Webseite des Autors

mehr über Alain Claude Sulzer auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lucia Hunziker

Biedermann und die Lobstifter #SchweizerBuchpreis 25/02

Alle Zeitungen, die Tagesschau, der Literaturclub und die Sendung «Zwei mit Buch» berichten mit Begeisterung. Von Daniel Kehlman liest man auf dem Umschlag Ein wirklich grosser Schriftsteller betritt die Bühne! Vergleiche mit Thomas Manns Buddenbrocks machen die Runde! Ich, skeptisch ob so viel Lob, frage mich: Muss oder will ich ein solches Buch lesen?

Lieber Gallus

Die Neugier hat gesiegt und ich habe «Lázár» gelesen. Leicht lesbar und unterhaltsam geschrieben erfahre ich vom Schicksal dreier Generationen einer ungarischen Adelsfamilie in den Weltkriegen und in der Sowjetzeit. Sehr romantisch, farbenprächtig und gelegentlich kitschig geschrieben begegne ich dem Werk eines jungen, fantasievollen Erzählers. Was ich vermisse, sind Entwicklungen der Charaktere, Fragestellungen und die Suche nach Antworten, Reflexionen. Mir fehlt eine persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinen Protagonisten, der Geschichte. Nach Weglegen des Buches klingt wenig nach, vergesse ich rasch.

Sie hatte von ihnen geträumt, und tatsächlich waren die Störche zurückgekehrt, reckten ihre weissen Hälse aus den Klatschmohnfeldern, die das Städtchen umgaben, während sie am Fenster verharrte und den milchigblauen  Morgenhimmel, den blütengelben Horizont, die weichen Hügel in der Ferne, den schlichten Kirchturm und das satte Rot der Felder ansah, als wäre bereits alles eine Erinnerung, als wären Sehen und Erinnern dasselbe, sie schloss das Fenster und ging ins Bad,…schminkte sich die Lippen klatschmohnrot, steckte die Perlohrringe, die einst Sandors Mutter gehört hatten, in die Ohrlöcher, öffnete das geflochtene Haar, das wie dunkles Wasser über den weissen Stoff des Nachthemds, ihre schmalen Schultern glitt, stand auf und holte die dunkelblaue Strickjacke aus dem Schrank…

Vor ihnen lag Zürich, der See, die weissen Schwäne und verschneiten Berge.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Ein Wunderkind!? Mir tut dieser begabte junge Autor im Kreuzfeuer dieser Medien-Begeisterung leid. Aus einem Interview erfahre ich, dass er gut mit seinem frühen Ruhm umgehen kann, viel liest und diszipliniert täglich schreibt. So hoffe ich, dass er seine literarischen Fähigkeiten trotz Rummel weiter entwickeln kann. Mit «Lázár» hat Nelio Biedermann gegenüber seinem Erstling «Anton muss bleiben» bereits einen grossen Schritt getan. 

Die grosse Medienpräsenz dieses Autors lässt mich auch unseren Literaturbetrieb hinterfragen. Warum reissen sich die Verlage um dieses Buch und sind die geplanten Übersetzungen in 20 Sprachen dauernd erwähnt. Was ist gute Literatur, wer bekommt einen Preis, wer wird beachtet und gefördert? Eine schwierige Frage bei der riesigen Anzahl von Autorinnen und Autoren. Du, Gallus, hast einen besseren Überblick über die Literaturszene: Was denkst du darüber?

Zufällig ist mir unmittelbar anschliessend der schmale Band «Großmütter» von Melana Mvogdobo in die Hand gekommen. Welch grosser Kontrast! In einer äusserst knappen, ausdrucksstarken Sprache, sorgfältig in zwei verschiedenen Farben gedruckt, erzählen zwei Grossmütter ihr Leben. Eine aus einer armen Schweizer Bauernfamilie, eine aus einer wohlhabenden Familie in Kamerun. Als Grossmütter befreien sie sich nach Demütigungen und Erleiden von seelischer und körperlicher Gewalt von ihren Männern. Wie sie das mit Hilfe ihrer Enkelinnen machen, ist beeindruckend. Ein kluges Buch mit Tiefgang! Mit Nachhall!

Ich muss nachdenken. Ich will verstehen, wieso mein Leben so ist, wie es ist. Und noch viel wichtiger: Weshalb ich nicht in der Lage war, mein Schicksal einfach anzunehmen, wie so viele andere Frauen.

Interessant, dass beide für den Schweizer Buchpreis 2025 nominiert sind. 

Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Danke für deine Einschätzungen, die ich eigentlich nur teile, auch wenn ich bisher nur über Melara Mvagdobos Roman «Großmütter» gelesen habe. Vor ein paar Tagen bekam ich vom Transit Verlag, bei dem ihr Roman erschienen ist, eine Mail, man könne mir den Roman erst in einigen Tagen zusenden, da man nachdrucken müsse. Eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Zum einen zeigt die Situation des Verlags, wie sehr man von dieser Nomination überrascht war und wie gut in der Folge das Buch verkauft wurde, was übrigens auch bei «Die Holländerrinnen» von Dorothee Elmiger geschah, drohte doch eine Lesung in der Ostschweiz ohne Büchertisch mit dem angesagten Titel, was schlussendlich verhindert werden konnte, weil in der Not die eine Buchhandlung der andern aushalf. Ein guter Buchverkauf des einen Buches hilft vielen anderen Büchern des gleichen Verlags, denen es nicht gelingt, die Brieftaschen von LeserInnen aus welchen Gründen auch immer zu öffnen. Zum andern kann der Hunger ausgerechnet in Momenten des grössten Appetits nicht gestillt werden.

Melara Mvogdobo «Großmütter», Transit, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-88747-416-4

Aber nur schon dein kleiner Teaser lockt und steigert die Vorfreude auf «Großmütter», ist doch das Thema «Geschlechterspezifische Gewalt gegen Frauen» aktueller denn je in Zeiten, in denen «Männlichkeit» von politischen Parteien zum Kampfwort gemacht wird, Männerbünde in Medien mit Reichtum und kruden Ansichten protzen, Statistiken über Gewalt gegen Frauen mehr als besorgniserregend aussehen und Errungenschaften wachsender Emanzipation und Akzeptanz gegenüber einem LGBTQ-Bewusstsein offensichtlich immer stärker in Bedrängnis geraten.

Hier die Begründung der Jury des Schweizer Buchpreises für den Roman «Großmütter»: Der Roman handelt von zwei Grossmüttern, die in ganz unterschiedlichen Welten leben und die doch viel gemeinsam haben … Als junge Frauen haben sie Träume. Sie heiraten, werden gedemütigt und spüren die engen Grenzen, die das Patriarchat ihnen setzt. Doch irgendwann setzen sie sich zur Wehr. In einer überraschenden Parallelführung zweier Leben zeigt Mvogdobo das, was Frauen über Kulturen und Kontinente hinweg verbindet. Das Buch besticht durch die knappe, messerscharfe und zugleich bewegende Sprache ebenso wie durch seine Milieuschilderungen.

Ich freue mich auf das Buch!

Und «Lázár»? Wenn der hochdekorierte Grossmeister der Deutschen Literatur Daniel Kehlmann, der sich mit «Die Vermessung der Welt» ins kollektive Bewusstsein einer ganzen Lesegeneration einschrieb, sich zu einer solchen Einschätzung hinreissen lässt und dem Verlag die Erlaubnis gibt, dieses Zitat zu Werbezwecken aufs Buchcover zu drucken, dann muss doch etwas dran sein. Wenn sich Veranstalter um Nelio Biedermann reissen, wenn das Buch eines 22jährigen in mehr als 20 Sprachen gedruckt wird und in Buchhandlungen mit glänzenden Augen um die Wette gestrahlt wird?

Die Frage, was denn gute Literatur sei, treibt mich immer wieder um. Letzthin las ich ein Zitat des Schriftstellers Martin R. Dean: Die Literatur muss am Lack des schönen Scheins kratzen. In einer Zeit, in der Filterblasen und Echoräume sich wie unsichtbare Scheuklappen auf das Subjekt legen, ist der Blick darüber hinaus von grösstem Wert. (aus «In den Echokammern des Fremden» von Martin R. Dean).

Ich habe «Lázár» gelesen und werde mich später differenzierter dazu äussern. Vielleicht sehen wir uns ja wieder an der Preisverleihung des Schweizer Buchpreises im Foyer Theater Basel, 11.00 Uhr, am Sonntag, den 16. November.

In Freundschaft

Gallus 

Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach ­einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien  im Verlag Edition 8 ihr erster Roman «Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden».

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Veronika Sutter «Ohne mich wäre hier Urwald», Plattform Gegenzauber

Kümpel ist tot, ich hoffe, dass ihr alle da sein werdet. Ort. Datum. Zeit. Mehr braucht es nicht, sie werden kommen.

Ein Ball, der gegen ein Garagentor donnert. Eine leerschwingende Schaukel. Das Spulen einer Kassette in einem Recorder. Schwarze Haare auf muskulösen Schenkeln. Sich windende Pfahlwurzeln. Eine Wanduhr, ticktack, ticktack … 
… und ich bin da. Warte in einer milden Abendluft des Junis 1973 bei der Teppichstange auf die anderen. Aus einem offenen Fenster Scheppern von Geschirr und My sweet Lord. Ich bin weggegangen, ohne dass es jemand bemerkt hat, die Rechenaufgaben wie einen Schweif hinter mir herziehend. Etwas fällt klirrend zu Boden, ein Kind fängt an zu weinen, das Hare Rama wird abgeklemmt, das Fenster mit Nachdruck geschlossen. Eine Amsel fliegt auf. Ich warte auf die anderen.

Wir haben alle einen Makel, Sigi schäumt aus dem Mund, Toni hat eine verrückte Mutter, Ramon keinen Vater, Sonja ist schwer von Begriff und ich versuche, ohne Lügen durch den Tag zu kommen. Was ausserhalbder Siedlung liegt, ist eine Welt voller Rätsel. Verwundert linsen wir in Küchen, wo frisierte Frauen Brote streichen, staunen hinein in diese aufgeräumten Puppenhäuser, wo jemand auf die Uhr schaut und sagt, wann es Zeit ist. Wir schämen uns, dass es unseren Eltern egal ist, wenn wir zu spät kommen, und sind oft mit Ausreden beschäftigt. Ausserhalb der Siedlung fühlen wir uns verdorben und gehen einander aus dem Weg. In unserer Strasse aber sind wir ein starkes Geflecht. Wir sind die Bornstrassenkinder.

Ich schlafe in der Stube, weil alle anderen Zimmer belegt sind und ich das jüngste Kind bin. Im grössten Zimmer schlafen meine Eltern. Zahnlos. Ihre Gebisse liegen nachts in Gläsern, die auf dem Spiegelschrank im Badezimmer stehen, manchmal grinsend, manchmal fletschend. Oft liegen sie auch ohne jeden Ausdruck in ihrem Nachtwasser, lächerlich vergrössert.

Mein Bett gehört mir nur in der Nacht. Tagsüber trägt es eine maisgelbe Decke, die beiden Kissen, das braune und das tannengrüne, und meinen Vater beim Mittagsschlaf. Auch meine Mutter, wenn nach dem Abwasch noch Zeit ist. Seitlich liegend haben beide Elternleiber auf dem Bett Platz. Sofort fallen sie in Schlaf, auf die Minute genau sind sie wieder auf den Füssen, zehn nach eins. Mit rankenden Blumen auf den Gesichtern schlürfen sie den Nescafé und setzen sich wieder in ihren R4. Ohne Worte.

Zwischen mir und den Kaninchen, die sie hinter dem Betriebsgebäude halten, machen meine Eltern keinen grossen Unterschied. Früher packte mich mein Vater manchmal im Genick, schüttelte mich und sagte knurrend, ein richtiger Chüngelbraten sei ich. Dann fragte ich mich, ob er imstande wäre, mich zu essen.

Am Kopfende meines Bettes steht ein kleiner Schrank. Darin lagere ich meine Schulsachen, Haarspangen, Nastücher und das Tagebuch. Nachts liegt auf dem Tagebuch ein Armband aus farbigem Garn. Ein Geschenk von Sylvie, die auf der anderen Seite des Mattenbaches wohnt. Ich sehe sie nicht mehr oft. Sie muss lernen, und zwar mehr als das Nötigste. Wir in der Siedlung müssen nichts, wir haben Zeit, die wir verplempern können.

Ich habe deine Mutter gesehen, füdliblutt. 
Ramon kickt den Ball an ein Garagentor, einmal, zweimal, erst dann hebt er langsam den Kopf.
Was?
Sie hatte nichts an …, Sigi hält sich die Hand vorden Mund, ich habe ihre Haare gesehen, da unten, ein dunkler Busch.
Ramon stoppt den Ball mit dem linken Fuss.
Wo soll denn das gewesen sein.
In eurer Wohnung. Kann nichts dafür, wenn sie die Vorhänge offen lässt. Hätte jeder sehen können.
Vom Weg aus?, denke ich.
Wie der Urwald?, fragt Sonja.
Und da ist noch jemand gewesen, Sigi schaut kurz zu mir und gleich wieder weg, ein Mann. Vor Sigis Lippen haben sich knisternde Blasen gebildet. Auf dem Sofa, nur mit Unterhemd, und zwischen seinen Beinen war so ein … so ein, wieder fährt sich Sigi mit dem Handrücken über den Mund, ein Speichelfaden glitzert in der Sonne.
Sigi, bitte, sagt Toni.
Ramon wuchtet den Ball auf die mittlere Garage, dreht sich um, geht weg, der Ball schnellt an uns vorbei, schlägt auf, verschwindet im Gebüsch.
So ein weisses Ding, Plastik oder so, schreit Sigi Ramon hinterher.
Hast du ihn gekannt? Den Mann?, will Sonja wissen.
Ja. Wieder wirft Sigi einen Blick in meine Richtung.
Wer
Sigi zuckt mit den Schultern und schaut zu Boden.
Mach dich nicht wichtig, Sigi, sage ich. Und übrigens, das war ein Pariser, noch nie davon gehört?

Es ist nicht diese Episode, die alles verändert, aber vielleicht ist sie ein Vorzeichen, eine vage Ankündigung. Noch leben wir wie Pflanzen, was wir brauchen, bekommen wir, Erde, Wasser, Luft, Licht. Die einen begnügen sich damit, ihre Köpfe nach der Sonne zu wenden, andere schiessen ungehemmt in die Höhe, schicken Triebe in den Himmel oder verlegen sich darauf, unter Boden Wurzeln zu verbreiten. Selbstausläufer. Die Erdbeere, lateinisch Fragaria, ist in der Lage, Ableger zu bilden, aus denen neue Pflänzchen wachsen, das sind sozusagen Klone der Mutterpflanze. Wenn mein Vater doziert, hört niemand zu, aber als er von der Vermehrungsweise der Fragaria spricht, will ich wissen, was Klone sind.

Es kommt vor, dass Einzelne von uns etwas Schönes hervorbringen, eine auffallende Blüte. Wie Toni, die plötzlich so gut Rollschuh fahren kann, dass sie in eine Showtruppe aufgenommen wird. In weissen Stiefelchen und einem glitzernden Röckchen wirbelt sie überbdie Bühne, bis den Glotzenden schwindlig wird. Aber auch bei ihr wird wie bei uns allen bald etwas passieren, das dem Pflanzendasein ein Ende setzt. Es zeigt sich unterschiedlich. Bei Toni beginnt es mit dem Moment, als sie dem Kastenwagen nachschaut, der ihre Mutter wegbringt. Bei Ramon ist es die Spucke auf dem Rasen und bei mir …, bei mir sind es verschiedene Dinge. Nach der Sache mit Kümpel ist es definitiv vorbei mit der Unschuld, für uns alle.

Die Siedlung klebt an der dunklen Flanke einer Bergkette, an die sich unser Tal drückt, in Löffelstellung, wie meine Eltern beim Mittagsschlaf. Über den Grat des Berges wandern Menschen, die Freizeit haben, Leute aus der Stadt. Sie schauen hinunter in das schattige Tal, auf das Dorf, auf die Wohnblöcke und sind froh, dass nicht sie es sind, die hier wohnen. Berg ist ein zu grosses Wort, auch Tal ist ein zu grosses Wort, alle Wörter sind zu gross für diesen Ort, nichts ist so, wie es sich anhört. Wir sagen Tal, aber es ist nichts als eine Schnellstrasse und parallel dazu Bahngeleise; was wir Dorf nennen, ist ein Platz mit Abfalleimern und betonierten Sitzbänken, einem Bahnhofskiosk und ein paar alten Häusern, die stur verharren, während andere längst das Feld geräumt haben. Für die Migros, das Bankgebäude, die neue Gemeindeverwaltung. Ein bescheidener Fluss folgt demütig den Schienen und der Strasse, obwohl er lange vor ihnen da war. Kraftlos krümmt er sich an Reihen von Wohnblöcken vorbei, die sich ins Land gefressen haben. Der Zug fährt zwischen zwei Sackbahnhöfen hin und her, Tal hinauf, Tal hinunter. Nur die Schnellstrasse führt weiter, sie will möglichst rasch weg von hier.
Hinter der reformierten Kirche liegt der Friedhof und oberhalb der katholischen, fast am Waldrand oben, verläuft die Bornstrasse. Da steht unsere Siedlung. Der Friedhof ist für alle, die Siedlung für die Angestellten der Papierfabrik. Hier wachsen wir vor uns hin, ohne dass es jemanden kümmert, Ramon, Toni, ich und die anderen.

An der Hinterseite der Wohnblöcke, die dem Wald am nächsten sind, wuchert scharfkantiges Unkraut; Flechten und Moose kriechen am feuchten Gemäuer empor, und nur weil Kümpel regelmässig mit tödlichem Wasserstrahl auf sie losgeht, nehmen sie nicht überhand. Ohne mich wäre hier Urwald, hören wir ihn zischen, wenn er seine Gerätschaften hinter sich herzerrt, in den Boden rammt, mit schweissglänzendem Hals, auf dem sich die Sehnen spannen.
Ohne Kümpel wäre hier Urwald, wären die geduckten, länglichen Gebäude überwuchert von Blacke, Geissfuss, Ackerwinden, wellige Hügel in der Landschaft, wie früher, vor Tausenden von Jahren, nur dass wir darunter leben würden.
Ohne mich wäre hier Urwald, hören wir Kümpel fauchen, murmelnd wiederholen wir es hinter seinem Rücken.

Beim Kehrplatz vor den Garagen endet die Strasse. Hier ist der Ort der Männer. Hier waschen sie am Samstag ihre Autos, betrachten Motoren, klopfen Schultern. Daneben die Burschen auf ihren Töffs, sie rauchen und reden über die Autos, die sie später kaufen würden. Von unserem Platz bei der Teppichstange hören wir sie lachen, rufen, fluchen. Und immer dudelt Musik, manchmal fremdländisch ab Kassette, manchmal aus dem Radio. Akropolis adieu, Immer wieder sonntags, Am Tag, als Conny Kramer starb. Keine Frauen bei den Garagen. Für sie gibt es die Spielplätze mit den Sandkästen, den viel zu kurzen Rutschbahnen und den zwei Betonröhren, durch die niemand kriechen will.

Es gibt Unterschiede. Die Autos. Die Marke der Autos.Die Sprache, die daheim geredet wird. Wie es beim Kochen riecht. Ob beim Essen das Radio läuft oder der Fernseher. Ob man im Sommer zu den Verwandten fährt. Oder überhaupt wegfährt. Das Alter der Autos. Die PS der Autos. Ob man in die Kirche geht und in welche. Die Namen.
Über die Gemeinsamkeiten reden wir nicht. Dass für uns keine Geburtstagspartys veranstaltet werden und wir selten zu welchen eingeladen sind, dass wir nach dem Mittagessen die Zähne nicht putzen, dass wir diejenigen verachten, die ein fixes Taschengeld haben, aber Mittel und Wege kennen, um an Geld zu kommen. Dass wir es lächerlich finden, von den Eltern für gute Noten belohnt zu werden. Dass von uns erwartet wird, keine Probleme zu machen. Dass etwas Rechtes aus uns werden soll.

Kümpel ist gut für Mutproben. Ihm in die Augen schauen. Ihm frech kommen. Ihm nicht gehorchen, tun, als ob man ihn nicht gehört hätte. All dies heizt unsere Träume an, wenn sie kühn sind. Wir verstecken uns auf unseren Balkonen hinter Geranien, Petunien, Fleissigen Lieschen und beäugen Kümpels Wege durch die Siedlung. Sie sind rätselhaft, scheinen einem festgelegten Plan zu folgen, variieren ständig und sind doch immer die gleichen. Kümpel geht stets eilig, vorgebeugt, Kopf vorne, Ellbogen hinten. Graue Mantelschürze mit langen Ärmeln, grobe Arbeitshose, die Stösse in die Stiefel gesteckt. Kümpel hat einen Sinn für alles, was nicht in Ordnung ist, herumliegende Velos, trockene Wäsche, die nicht abgenommen wurde, Himmel und Hölle auf der Strasse.
Niemand weiss, wer Kümpel ist, woher er kam und was sein Auftrag ist. Wenn Kümpel sich nähert, gehen die Frauen schneller, die Männer beginnen zu pfeifen oder etwas an ihren Autos zu untersuchen. Niemand ist je in Kümpels Wohnung gewesen und niemand redet freiwillig mit ihm. Aber alle wissen, dass Kümpel zu akzeptieren ist. Es gibt Dinge, die sich nicht ändern lassen.
Für uns gebraucht er eigene Namen: Pfosten, Totsch, Kleiner Scheisser. Alle zusammen sind wir Gjät. Er bellt uns an, wenn wir abends auf dem Kehrplatz gummitwisten oder Bälle an die Garagentore kicken. Bälle bringen ihn aus dem Gleichgewicht. Wir lassen sie ihm vor die Füsse rollen, um zu sehen, wie sein Schritt aus dem Takt gerät, wie er versucht, dem Ball auszuweichen, als wäre eine Berührung tödlich. Die einen behaupten, Kümpel sei früher Fussballer gewesen, habe beim FCZ gespielt, aber genauso möglich ist, dass er ein Bankräuber war, jahrelang im Gefängnis. Manchmal taucht Kümpel unvermittelt vor einem auf. Es heisst, zwischen den Kellerräumen gebe es Tunnels, die Kümpel erlaubten, überall gleichzeitig zu sein. Aber kein Mensch hat je einen Zugang gefunden.
Eigentlich ein netter Mann, sagt meine Mutter, aber auch sie versucht, seine komplizierten Routen nicht zu durchkreuzen. Auch sie überlegt, was sie falsch gemacht haben könnte, wenn Kümpel in der Nähe ist.
Wir finden nicht heraus, wie er es macht. Warum er weiss, was wir treiben. Niemand von den Eltern will etwas mit dem kleinen schwarzen Buch zu tun haben, das er in seiner Schürzentasche mit sich trägt, einige behaupteten, dieses Büchlein existiere nur in unserer Fantasie.
Kümpel ist der Teufel. Ich weiss es.

(Auszug aus «Mein Bett gehört mir nur in der Nacht», mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

Veronika Sutter, geb. 1958, aufgewachsen im Sihltal, veröffentlichte in früheren Jahren ein paar Kurzgeschichten. Beruflich arbeitete sie unter anderem als Buchhändlerin, Kulturveranstalterin und als Journalistin, studierte Kommunikationsmanagement und war für NGOs und soziale Institutionen tätig. Ihr Erzählband «Grösser als du«, der 2021 in der edition 8 erschien, wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Im Herbst 2025 erscheint ihr neuer Roman «Mein Bett gehört mir nur in der Nacht». Veronika Sutter lebt mit ihrem Partner in Zürich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Tabea Vogel

Jacob Strautmann «A conversation in poetry and paint», Plattform Gegenzauber

Seit 2021 stehen die in Frankfurt lebende Eva Strautmann und der in Boston lebende Jacob Strautmann in einem kontinuierlichen Dialog und schaffen Gemälde und Texte, die sich mit der Arbeit des jeweils anderen, der Natur und der Politik ihrer jeweiligen Länder auseinandersetzen.

Die hier präsentierten Gedichte sind Teil einer Sammlung von über 40 Gemälde-Gedicht-Kombinationen, und ihre Arbeit wird fortgesetzt. Mit der Übersetzerin Kassi Burnett kann ihr Gespräch nun auf zwei Kontinenten «mitgehört» werden:

Goldene Pferde 35, Eva Strautmann

Past Self 

       after Goldene Pferde 35
       by Eva Strautmann

In the country
I was a fish

In green water
Lazy shade

Of rock and trunk
Creek worship

Plash of hoofs
Tongue and muzzle

When a blue hand
Circleted plucked

By the tail lifted me
Out of the whispering

Reflection grass
In the moonlight

To a slab of sandstone
Surprised the air a blade

I am an address
In the city now

I cross bridges
And speak bluntly

A draftsman’s pen
Drew vowels

Struts to box
Them in truss pylon

Piers evenly spaced
Red and green lights

Where all is movement
Prophecy but small

Horses here
Wear collars

Stand in boredom
As traffic passes

 

Vergangenes Ich 

       nach Goldene Pferde 35
       von Eva Strautmann

Auf dem Land
War ich ein Fisch

Im grünen Wasser
Träger Schatten

Von Fels und Stamm
Bach-Anbetung

Plätschern der Hufe
Zunge und Nüstern

Als eine blaue Hand
Mich kreisend pflückte

Am Schweif mich hob
Aus dem Geflüster

Spiegelgras
Im Mondschein

An einer Platte aus Sandstein
Überraschte die Luft – eine Klinge

Ich bin eine Adresse
Nun in der Stadt

Ich überquere Brücken
Und spreche unverblümt

Der Stift eines Zeichners
Zog Vokale

Streben, sie einzuschließen
Im Fachwerkpylon

Pfeiler gleichmäßig verteilt
Rote und grüne Lichter

Wo alles Bewegung ist
Prophezeiung nur klein

Pferde hier
Tragen Halsbänder

Stehen gelangweilt
Während Verkehr vorbeifließt

 

Goldene Pferde 25, Eva Strautmann

Marriage Photo 

       after Goldene Pferde 25
       by Eva Strautmann

I can’t keep up with our garden any longer,
Let the deer have it. I want to sit on the porch

And listen to your jokes, watch the shadow
Of the leaves feather your feathery hair.

In the backyard the horses stamp the ground,
Hungry, demanding one of us gets up first.

Neither of us will go.

 

Hochzeitsfoto

       nach Goldene Pferde 25
       von Eva Strautmann

Ich komme mit unserem Garten nicht mehr nach,
Sollen ihn doch die Rehe haben.
Ich will auf der Veranda sitzen

Und deinen Witzen lauschen, beobachten,
Wie der Schatten der Blätter
Dein Haar federnd befiedert.

Im Hinterhof scharren die Pferde den Boden,
Hungrig, fordernd, dass einer
Von uns zuerst aufsteht.

Keiner von uns wird gehen.

Goldene Pferde 29, Eva Strautmann

Constituents Jacob Strautmann

       after Goldene Pferde 29
       by Eva Strautmann

The meeting was mostly cheerful,
    The Chief was mostly kind.
Rain on the streets pours gray in the quay.
    A housefly lingers on a black armband.

Whistles and taxis, a text from the train,
    Traffic in pastures and swingsets wet –
Across the river, a short match is lit,
    Lords of the art of the balance sheet

Surrender least for least:
     And what of Summer’s Bounty?
In chain and asphalt, orange trees
     Clasp de facto sovereignty.

The zoo and stables at half-past two,
    The library building, the tenement:
News is a bone stuck bare in a throat.
    A barman nods and pours his pint.

Legions rebelled, the Great Hall declined,
    Ragweed, a rock ledge in the wind:
The meeting was mostly cheerful,
    The Chief was mostly kind.

 

Beteiligte Kassi Burnett

       nach Goldene Pferde 29
       von Eva Strautmann

Die Versammlung war meist heiter,
    Die Chefin war meist gütig.
Grau strömt Regen auf den Straßen zum Kai.
    Eine Fliege ruht auf einem schwarzen Armband.

Pfeifen und Taxis, eine Textnachricht aus dem Zug,
    Verkehr auf Wiesen und Schaukeln, nass –
Jenseits des Flusses ein kurzes Streichholz entzündet.
    Herren der Bilanzkunst.

Das Geringste dem Geringsten überlassen:
    Und was ist von Sommers Fülle?
In Ketten und Asphalt ergreifen Orangenbäume
    De facto die Herrschaft.

Zoo und Stallungen um halb drei,
    Bibliotheksgebäude, Mietshaus:
Nachrichten sind Knochen, bloß im Hals verkeilt.
    Ein Barmann nickt und schenkt sein Bier ein.

Legionen rebellierten, die Große Halle zerfiel,
     Brennnessel, ein Felsvorsprung im Wind:
Die Versammlung war meist heiter,
    Die Chefin war meist gütig.

 

Jacob Strautmann ist Autor zweier Gedichtbände: «The Land of the Dead Is Open for Business» (2020) und «New Vrindaban» (2024), beide bei Four Way Books. Seine Gedichte erschienen im Boston Globe, im Appalachian Journal, in „On the Seawall“, im Agni Magazine und in „Blackbird“. Er arbeitete in den Bereichen Theater, Verwaltung und Kommunikation an der Boston University, wo er 20 Jahre lang auch Kreatives Schreiben lehrte. Derzeit arbeitet er an einem Gedichtmanuskript, das sich mit der Kunst von Eva Strautmann auseinandersetzt.

Webseite des Autors

Kassi Burnett promovierte in Germanistik an der Ohio State University und absolvierte ein Fulbright-Forschungsstipendium am Rachel Carson Center der LMU München. Ihre Forschung verbindet Umwelt- und Disability Studies mit zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur. Publikationen von ihr erschienen in Oxford German Studies, Non Fiktion und Studies in the Humanities. Sie unterrichtete Deutsch an der Ohio State University, der Denison University und der Middlebury Summer Language School. Zusätzlich zu ihrer akademischen Arbeit veröffentlichte sie journalistische und literarische Texte, u. a. in The Columbus Dispatch und Simplicissimus (Harvard). Heute arbeitet sie als Softwareentwicklerin in Atlanta, Georgia, und beschäftigt sich weiterhin mit Literatur und Übersetzung.

Beitragsbild © Jacob Strautmann

Sprachsalz – Internationale Tiroler Literaturtage in Kufstein

Vom 12. bis 14. September 2025 wird Kufstein erneut zum Zentrum internationaler Gegenwartsliteratur. Die 23. Ausgabe des Literaturfestivals Sprachsalz bringt Autor*innen aus Japan, Italien, Norwegen, Russland, Deutschland, der Schweiz, Großbritannien und Österreich zusammen – mit Texten über Herkunft und Verlust, über Körper und Krieg, über Kindheit und Diktatur. In ihren Büchern spiegeln sich persönliche Schicksale und politische Abgründe, poetische Grenzgänge und erzählerische Wucht.

Zu den Höhepunkten zählt die deutschsprachige Buchpremiere der gefeierten japanischen Autorin Mieko Kawakami oder der Auftritt des vielbeachteten norwegischen Autors Johan Harstad mit seinen 1000-Seiten-Romanen. Franz Hohler bringt seine zeitlosen Alltagsbeobachtungen mit und liest auch für Kinder. Viktor Jerofejew erzählt über Despoten, Yannic Han Biao Federer vom Erinnern in einer zerrissenen Welt, Dacia Maraini von ihrer Kindheit im Internierungslager. Eric Goulden / Wreckless Eric und Hanspeter Düsi Künzler führen in das London der Pubs, Musik und Marginalität. Der Büchner-Preisträger Durs Grünbein stellt in seinem aktuellen Roman die Frage, was die Diktatur aus Menschen macht, und liest natürlich auch aus seinen Gedichtbänden.

Die Lyrik ist 2025 stark vertreten – durch Stephan Tikatsch, Ulrike Draesner, in der Doppelrolle als Lyrikerin und Romanautorin, und Marco Kerler, der während des Festivals auf Bestellung Gedichte für die Besucher*innen schreibt.

Am Samstagabend steht der große Saal des Kultur Quartiers wie stets im Zeichen von Literatur und Kulinarik: Der traditionelle Sprachsalz-Festabend vereint herausragende Literatur mit einem mehrgängigen Menü. Hauptact ist in diesem Jahr die Autorin Mieko Kawakami, die aus ihrem neuen Roman «Das gelbe Haus” liest – ein kraftvoller Text über Körper, Herkunft und Widerstand. Serviert wird ein sorgfältig komponiertes Essen, zubereitet von der vielfach beachteten Küche des Restaurants Alpenrose Kufstein (nur mit Reservierung).

Sprachsalz bleibt seinen Prinzipien treu: eintrittsfrei und interkontinental. Ob Debüt oder Weltliteratur – das Programm ist handverlesen, neugierig und offen.  Die Übersetzungen von fremdsprachigen Texten werden von bewährten deutschen Stimmen vorgelesen, so etwa der Schauspielerin Brigitte Zeh, Regisseur und Schauspieler Ernst Gossner als auch erstmalig vom Münchner Schauspieler Jürgen Tonkel.

Alle Autor*innen beim Festival 2025:

Ulrike Draesner (Deutschland)
Sprachmächtige Erzählerin, Lyrikerin und Essayistin. In «Die Verwandelten» folgt sie den Spuren weiblicher Erinnerung und historischer Gewalt. Literarisch kühn und mit analytischer Präzision.
Mich interessiert die Verbindung von Sprache und Körperlichkeit. (aus: Interview mit Deutschlandfunk Kultur, 2022)

Yannic Han Biao Federer (Deutschland)
Seine raffiniert konstruierten Romane kreisen um Herkunft, Verlust und Trauer. In «Für immer seh ich dich wieder» verarbeitet er autofiktional einen Verlust, der eigentlich nicht zu fassen ist: den Tod seines ungeborenen Sohnes.
Ich gehe hinunter, und da, wo das Schwarz beginnt, wo ich das Wasser vermute, rührt sich nichts […] als könnte das Schwarz aus seinem Bett steigen und mich hineinziehen. aus: «Tao»)

Eric Goulden / Wreckless Eric (Großbritannien)
Musiker, Singer-Songwriter und Autor. In seiner Autobiografie schildert er mit wütendem Humor vom Überleben im Musikgeschäft, von Euphorie und von Abstürzen.
Ich war mir nicht sicher, wie ich aufhören sollte, aber jemand sagte zu mir: Du musst einfach stoppen. (aus: «A Dysfunctional Success – The Wreckless Eric Manual»)

Durs Grünbein (Deutschland)
Einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller. Präzise und mit melancholischem Ton verbinden seine Gedichte Wissenschaft, Geschichte und Wahrnehmung. In Kufstein wird er außerdem aus seinem aktuellen Roman «Der Komet» lesen.
Wenn ich mich recht entsinne, fing bei mir alles mit einem Geräusch an, einem keineswegs harmlosen Geräusch, eher schon einer akustischen Irritation. (aus: «Vom Stellenwert der Worte»)

Johan Harstad (Norwegen)
Mit «Max, Mischa & die Tet-Offensive» und «Unter dem Pflaster liegt der Strand» wurde er zur internationalen Stimme der Überforderung. Welt- und zeitumspannende Romane sind sein Markenzeichen, wahrhafte Großformate mit Tiefgang.
Es gibt keine Helden, es gibt nur Leute, die sich abmühen, Leute, die versuchen ihr Bestes zu geben. (Aus: «Max, Mischa & die Tet-Offensive»)

Franz Hohler (Schweiz)
Schriftsteller für Groß und Klein, Kabarettist, Wanderer. Seine Texte über den Aberwitz des Alltags, aber auch Romane und Kinderverse sind seit Jahren Kult – auch auf der Bühne.
Jetzt mache ich ein Jahr lang Auftritte und schreibe […] und dieses Jahr dauert bis heute. (aus: Interview mit Blick)

Viktor Jerofejew (Russland/Deutschland)
Einer der wichtigsten russischen Autoren im Exil. In «Der große Gopnik» beschreibt er das heutige Russland als düsteres Märchenland in Auflösung, beherrscht durch den «Gopnik», eine Figur, deren Namen im Deutschen ungefähr so viel bedeutet wie «rowdyhafter Hinterhofproll»
Bisher war Dummheit ein rührendes Phänomen […] jetzt hat sie etwas tödlich Toxisches angenommen. (aus: «Der große Gopnik»)

Mieko Kawakami (Japan)
Radikal sanft, gesellschaftlich hellsichtig und poetisch – Kawakamis Literatur gibt jenen eine Stimme, die selten gehört werden. In Kufstein stellt sie exklusiv ihren neuen Roman in deutscher Übersetzung vor (Katja Busson).
Wir sagen oft, der Tod sei endgültig, aber ich kann mir nicht helfen, die Geburt ist es auch. (aus: Interview mit The Guardian)

Marco Kerler (Deutschland)
Der Dichter wird mit seiner Schreibmaschine während des Festivals allen, die mögen, ein Gedicht schenken. Frisch getippt und auf Zuruf: Ein Gedicht für Dich. und ein Festivalmoment, der bleibt.

Hanspeter Düsi Künzler (Schweiz)
Popchronist, Musikjournalist, Erzähler: In «Das Wetter zwischen Jukebox und Theke» fängt er das Leben am Rand ein – poetisch, tief, mit Nikotin und Soul.
Sonntagmorgen. Die Kneipe war voll, der Zigarettenrauch hing tief. (aus: «Das Wetter zwischen Jukebox und Theke»)

Dacia Maraini (Italien)
Eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen Italiens. In «Ein halber Löffel Reis» erzählt sie ihre Kindheit im japanischen Internierungslager – erschütternd und hell zugleich.
Um sich zu erinnern, ist es nötig, die eigene Vergangenheit zu lieben und daher auch sich selbst. (aus: «Die Blonde, die Brünette und der Esel»)

Matthias Schönweger (Italien)
Aktionskünstler, Sprachjongleur, Literaturperformer. Sein Leben ist Kunst, Kunst ist sein Leben und seine Auftritte jedes Mal ein Ereignis. Sprachsalz zeigt den Film «MENSCH, msch!», der Einblicke in sein Schaffen, seine Archive und seine Denkbewegungen gewährt. Matthias Schönweger ergänzt mit einer seiner legendären Performances.
Frischer Wind kam auf / Das Blatt / hat sich gewendet / ohne mein Zutun. (aus: «Gebucht. Teil 2»)

Stephan Tikatsch (Österreich)
Lyriker, Herausgeber, Wortschöpfer. Zwischen Slapstick und Sprachkritik, ein sorgsamer Wörterfabrikant und Vokabeljongleur.
Vorher war alles normal / Dass ich nicht lache / Und nie laut. (aus: «Dyspujaka»)

Erika Wimmer Mazohl (Österreich)
Die Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und bildende Künstlerin entwirft in ihrem Roman «Wolfs Tochter» ein mehrperspektivisches und poetisches Porträt über das Leben der Friedensaktivistin Erika Dannebergs, über Erinnerung, Widerstand und weibliche Selbstbehauptung.
Die Schneebotinnen flüstern es ihr zu: Der nächste Tag wird einen neuen Glanz in ihr Leben bringen […] (aus: «Wolfs Tochter»)

(Pressetext)

Martin Prinz «Der Bäcker, der Mörder, die verschwundene Tote», Plattform Gegenzauber

Er habe sie gefragt, ob mit Frau Habietinek nun eine Ruhe sei, da er von ihr gewusst habe, dass sie mit Habietinek schon einige Male Streit gehabt hätte. So gab die 33-jährige Maria Spuller ein Gespräch mit dem Bäcker S. während der Vorerhebungen zum Volksgerichtsprozess über die NS-Morde zwischen Rax und Schneeberg zu Protokoll. Das sei noch im März gewesen. Sie habe ihm geantwortet, dass es jetzt ganz gut gehe mit der Habietinek. Darauf habe S. gesagt, sie werde auch einmal Ruhe haben, denn nun laufe die Sache. Auf ihre Frage, welche Sache dies sei, konnte er das nicht sagen.

Als am 1. April die Rote Armee das Viadukt in Payerbach erreichte, war der Krieg in der Gegend zwischen Schneeberg und Rax vorbei. Die Rote Armee kontrollierte die Südbahn, hielt die Stellungen der Wehrmacht an den Abhängen von Schneeberg und Rax beschäftigt und fror die Front ein. Alles an Truppen, Logistik und Feuerkraft diente nun der Einnahme Wiens, die am 12. April gelang, sowie der Eroberung einer Pufferzone im Flach- und Hügelland westlich des Wienerwaldes, die man am 15. April 1945 mit der Besetzung St. Pöltens hergestellt hatte. Der Krieg war entschieden, auf weitere militärische Gefahren und Verluste konnte verzichtet werden. Im Schatten der Berge blieben die idyllischen Ortschaften Hirschwang, Edlach, Prein, Schwarzau und das nur eine leichte Straßenbiegung von dem Payerbacher Viadukt entfernte Reichenau als sich selbst überlassener Rest des NS-Staates übrig, in dem alles so weiterging, als wäre nichts geschehen.

Es sei am Ostermontag gewesen, dem 2. April 1945, als es geheißen habe, dass die Russen in Edlach seien, gab die Hausgehilfin Marianne Janscho an. Nachts habe es auf einmal heftig geklopft. Damals seien sie mit den Kleidern in den Betten gelegen. NS-Ortsleiter Plechard sei in Begleitung von noch anderen Männern herein und habe Frau Habietinek angeherrscht, ob sie glaube, sie könne machen, was sie wolle, nur weil sie Frau Hofrätin sei.
Daraufhin sei er gleich in den ersten Stock, sagte der 73-jährige Dr. Fritz Habietinek in seiner Zeugeneinvernahme, und habe die weiße Fahne eingezogen, die man wie andere bereits gehisst habe. Als er wieder heruntergekommen sei, seien die Männer wieder fort gewesen und seine Frau habe ihm vor Angst bebend mitgeteilt, der Ortsleiter habe ihr vor dem Verlassen des Hauses zugerufen, sie werde die erste sein, die man erschieße.
Warum Plechard diese Drohung gegen Frau Habietinek gemacht habe, fügte Marianne Janscho ihrer Aussage noch hinzu, wisse sie nicht. Danach seien sie alle, Herr und Frau Habietinek sowie die 10-jährige Enkelin, die aufgrund der Bombengefahr in Wien hier bei ihren Großeltern lebte, in die Steiermark geflüchtet, nach drei oder vier Tagen jedoch wieder zurückgekehrt. Marie Habietinek sei bald darauf von jungen SS-Männern geholt und nach Schwarzau im Gebirge gebracht worden, von dort sei sie am zweiten Tag wieder zurückgekommen. Dann sei sie erneut geholt, krankheitshalber aber wieder entlassen worden. Schließlich nahm man sie ein drittes Mal mit, um sie dann im Keller des Hotel Kaiserhof, dessen Pächter der genannte Plechard gewesen sei, zu erschießen.

Was sich zwischen Schneeberg und Rax in diesen fünfeinhalb Wochen abspielte – illegale Standgerichtsmorde, Verschleppungen und Erschießungen – wird in Medien wie Geschichtswissenschaft so gut wie immer als Endphaseverbrechen bezeichnet, und damit erneut verniedlicht. Bereits in den 50er-Jahren erlaubte die deutsche Justiz für derart bezeichnete Verbrechen, die unter dem Einfluss außergewöhnlicher Verhältnisse verübt worden wären, Strafmilderung oder gar Straffreiheit. Was in jenen Ortschaften und Kurgemeinden, die aufgrund ihrer Sommerresidenzen neben bäuerlicher Bevölkerung und der Handwerker- und Industriearbeiterschaft, Dienstleistungsgewerbe, Akademiker, Adlige, Militärs und Superreiche versammeln und damit einen breiten soziologischen Querschnitt nicht nur des gesamten Landes, sondern auch dessen Geschichte abbilden, in diesen letzten fünfeinhalb Wochen vor Ende des Nationalsozialismus wirklich geschah, war in den Verhältnissen einer nationalsozialistischen Gesellschaft nicht außergewöhnlich, sondern eine bis heute gültige Probe auf deren Exempel.

Marie Wammerl, aus der Besitzerfamilie des von Ortsleiter Plechard gepachteten Hotel Kaiserhof, sagte in ihrer Zeugenvernehmung als einzige Überlebende der zuerst im Eggl-Keller eingesperrten und im Kaiserhof erschossenen Frauen aus, es sei anzunehmen, dass Plechard, S. und Irschik bei der Aufstellung der Listen der Todeskandidaten mitgewirkt hätten. Und S., der ein intimer politischer Mitarbeiter von Ortsleiter Plechard gewesen wäre, sei gemeinsam mit diesem nach dem Einmarsch der Roten Armee auch aus Prein geflüchtet.
Weder mit Irschik noch mit Plechard habe er sich darüber besprochen, wer erschossen werden solle, auch habe er von den Erschießungen nur gerüchteweise erfahren. So verantwortete sich S., nachdem er am 28. Dezember 1945 von der Kriminalabteilung Bruck/Mur festgenommen worden war. Plechard habe er zwar gekannt, was dieser in der Partei gewesen sei, habe er nicht genau gewusst, vielleicht Zellenleiter. Wie in der Nachbarschaft üblich, sei er mit Plechard gut gewesen. Dass dieser ein scharfer Nationalsozialist gewesen sei, könne er nicht sagen. Auch dass alle Hingerichteten ausgesprochene Antinationalsozialisten gewesen seien, könne er nicht bestätigen, räumte nur bei Frau Eggl ein, dass sie öfter geschimpft habe, wüsste aber nicht, was Frau Habietinek vorgeworfen worden sei, auf die er nicht schlecht zu sprechen gewesen gewesen wäre, wie er eigens hinzufügte.
Als ihm die Aussagen Maria Spullers vorgehalten wurden, er habe ihr vor der Erschießung Marie Habietineks angegeben, sie werde von Habietinek bald eine Ruhe haben, und sich danach noch eigens bestätigen habe lassen, dass sie jetzt wohl eine Ruhe vor der alten Kanaille habe, gab S. zwar auf einmal zu, dass er selbst Zellenleiter im Ort gewesen sei, tat dies jedoch nur, um damit zu erklären, dass er Spullers Beschwerde dem Plechard weitergegeben habe, von dem er nun plötzlich wusste, dass dieser der NS-Ortsleiter gewesen sei.

Wie lebt die Gewaltgesellschaft eines Staates weiter, wenn der Staat ringsum immer weiter verschwindet? Die Antwort darauf wurde ab dem 1. April 1945 zwischen Schneeberg und Rax gegeben: Alte Rechnungen wurden beglichen, Neid oder Nachbarschaftsstreit mündeten in Denunziation. Innerhalb weniger Tage füllten sich die Listen. Vor allem Frauen standen darauf, das war das eine. Das andere waren die Patrouillen der Sonderkommandos auf der Suche nach Männern, die sich vor dem Volkssturm versteckten. Sie wurden festgenommen und vor ein Standgericht gestellt, dessen Besetzung selbst nach NS-Recht illegal war, wurden abgeurteilt, erschossen, geschändet und mit ihren malträtierten Körpern über Tage an den Stellen im Ort aufgehängt, wo alle vorbeikamen. Die Frauen hingegen, und die Alten, erschoss man heimlich in Kellern und vergrub sie nachts in schnell ausgehobenen Gruben.

Ein Sonderkommando habe seine Frau verhaftet und sie in das Kellerzimmer des Postgebäudes gesperrt, in dem sich auch die Hausbesitzerin Eggl bereits unter den Eingesperrten befand, berichtete Herr Habietinek. Sowie Marie Wammerl, deren Mann erst eine Woche davor in Schwarzau erschossen worden sei. Ein Gendarm habe ihm gestattet, seiner Frau mittags und abends Essen zu bringen. Während sich Marie Wammerl als Zeugin nicht mehr ganz sicher war, wer sich schon dort befunden habe, als man sie in den Keller des Postgebäudes gebracht habe, jedenfalls sei eine ältere Frau dort gewesen, von der sie erst später erfahren habe, dass es Frau Habietinek war. Dann Frau Eggl, Frau Frindt aus Edlach, das Ehepaar Karasek, Frau Reifböck, und Frau Fischer sowie die Schwestern Waissnix und womöglich noch eine andere Frau. Der Raum sei auch tagsüber verdunkelt gewesen. Zur Verrichtung der Notdurft sei ihnen ein nicht gedeckter Kübel für Frauen und Männer in den Raum gestellt worden, der einen furchtbaren Gestank verbreitet habe.
Als er am dritten Tag zu Mittag mit dem Essen hingekommen sei, schilderte Habietinek, habe er die Tür versperrt vorgefunden. Er sei zu Ortsgruppenleiter Plechard gegangen, um zu fragen, was mit den verhafteten Frauen geschehen sei, worauf dieser ihm antwortete, die wären in der Früh mit einem Auto zum Kriegsgericht gebracht worden. Diese Meldung habe ihn beruhigt, da er wusste, dass gegen seine Frau nichts vorliege.
Zwei, drei Tage, nachdem alle Nazis bereits geflüchtet gewesen seien, habe ein Freund, der auch in der Prein wohnte, zu ihm gesagt, es wisse schon die ganze Prein, aber niemand traue sich, es ihm zu sagen, dass seine Frau bereits am dritten Tag ihrer Verhaftung erschossen und von Plechard eigenhändig in eine Grube geworfen worden sei.

Wie etliche Zeugen den Behörden bestätigen könnten, sagte S., sei er seit Anfang April ständig im Dienste des Volkssturms gestanden, und zwar in Hirschwang, wie er in jeder Befragung angab, als handelte es sich um ein Alibi. Erst am 29. April sei er angewiesen worden, als Volkssturmmann in die Prein zu fahren und für den dortigen Volkssturm Brot zu backen. Das habe er dann auch bis zum 5. Mai gemacht. Am 8. Mai sei die Rote Armee nach Prein einmarschiert. Erst Ende Juli oder August habe er dann in Bruck/Mur erfahren, dass in Prein vor dem Zusammenbruch mehrere Personen erschossen worden seien. Wohl habe er noch vor dem Zusammenbruch, als er Brot gebacken habe für den Volkssturm, in Prein über irgendwelche Erschießungen munkeln gehört, aber nichts Näheres erfahren.

Wozu sich Hitler im März 1933 von der demokratisch gewählten Volksvertretung noch alleine ermächtigen hatte lassen, war schließlich weit genug durch die gesamte Gesellschaft gedrungen, dass sie bis in ihre kleinsten Glieder sich das böse Geschäft von Unsicherheit, Bestrafung, Angst, Denunzierung und auch Mord als Ermächtigungsgesellschaft selbst besorgte. Am Ende funktionierte das so gut, dass nicht nur für die Opfer kein Entkommen mehr war, sondern auch die Täter passgenau verkörperten, was sie aus sich gemacht hatten. Sie hörten nicht einmal auf, als ringsum der Krieg bereits entschieden war. Zwang brauchte es dafür längst nicht mehr. Ihre Wahl zwischen Gut und Böse hatten sie gehabt, sie getroffen und nun blieben sie mit wenigen, viel zu wenigen Ausnahmen bis zum Ende an ihrem Platz im Getriebe, oft genug sogar darüber hinaus. Nahtlos funktionierte diese Mechanik selbst in den letzten Tagen noch. Kein Wunder, dass für die Morde an den Frauen und Alten in den Kellern niemand schuldig gesprochen wurde. Die einzelnen, die hier so lange wie möglich mordeten, denunzierten, verdeckten und schwiegen, waren darin als Gesellschaft aufgegangen.

Nur die 34-jährige Marie Landskorn, Mutter von vier Kindern und jüngste der 26. April 1945 im Eggl-Keller noch Eingesperrten, zählte am Vormittag dieses Tages weder zu den sechs über die Straße in den Kaiserhof geführten und dort erschossenen Frauen noch befand sie sich unter den später aus einer Grube neben dem Preiner Friedhof ausgegrabenen Leichen. Obwohl vor dem Volksgericht mehrere Zeugen bestätigten, dass Landskorn sich im Keller befunden habe, blieb sie verschwunden. Bis eine ihrer Töchter im Gasthaus Schiffauer, wo sie im benachbarten Nasswald als Dienstmädchen gearbeitet hatte, von einem betrunkenen Holzknecht, der dort Stammgast gewesen war, bedrängt wurde. Als der Mann ihren Namen erfuhr, konnte er offenbar nicht an sich halten und rühmte sich, 1945 gemeinsam mit einem anderen ihre Mutter getötet zu haben. Als von der Gendarmerie an der von ihm angegebenen Stelle gesucht wurde, fand man tatsächlich eine Frauenleiche. Doch anhand von Kopf, Knochenstücken, Resten von Kleidern und eines Teppichstückes habe die Großmutter des Dienstmädchens keine klärenden Feststellungen treffen können, zudem sei ihr von den Behörden nahegelegt worden, die Sache nicht weiter zu verfolgen.

Karl S. schließlich war seit dem 30. Juli 1945 wegen «Teilnahme an Mord» vom Gendarmerie-Hochgebirgsposten Prein steckbrieflich gesucht worden. Ausgerechnet der am 14. November dieses Jahres aus englischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte Sohn der ebenfalls im Keller des Hotel Kaiserhof erschossenen Johanna Eggl traf ihn dann auf der Heimreise in einem Bäckerbetrieb in Bruck/Mur an, weshalb S. am 28. Dezember 1945 ebendort verhaftet wurde.
Im Volksgerichtsverfahren gegen die Hauptverdächtigen der NS- Mordgeschehnisse im Gebiet zwischen Rax und Schneeberg führte man ihn danach als Zeugen, da sein eigenes Verfahren wie auch jenes gegen den Gendarmen Irschik mit 17.10.1946 abgetrennt worden war. Per 7.11.1949 stellte man das Verfahren gegen S. aufgrund Erklärung der Staatsanwaltschaft, es bestehe kein Grund mehr zur weiteren gerichtlichen Verfolgung, gänzlich ein.

Er habe die Mutter dieses Mädchens umgebracht, musste der Holzknecht im Gasthaus sagen. Und Karl S. fügte vor dem Volksgericht eigens hinzu, er selbst sei auf Frau Habietinek nicht schlecht zu sprechen gewesen! Beide scheinen sie die Namen ihrer Opfer im Mund gebraucht zu haben, um nicht doch daran zu ersticken. Und wie ist das mit ihren Mitwissern, mit den Zeugen oder dem mutmaßlichen Mittäter im Fall Marie Landskorn? Wie ist das in all den Familien, jenen der Opfer, jenen der Täter, der Mitwisser und der anderen Schweigenden? In all den Ortschaften im Schatten der Berge.

Anmerkung des Verfassers: Am Abend des 24. April 2025 läutete bei mir das Telefon mit einer unbekannten Nummer aus den USA. Eine unverkennbar wienerische Stimme am anderen Ende und ein Name, den ich von einem Gespräch mit jemand anderem seit der Lesung in Reichenau bereits kannte. Die Stimme gehörte einer direkten Verwandten Marie Habietineks. Sie hatte die «Die letzten Tage» bereits zum zweiten Mal gelesen und wir redeten lange, es gab viel zu erzählen. Ganz am Ende fragte sie mich, ob ich mit ihr zu den Akten im Wiener Stadt- und Landesarchiv gehen wollte. Denn das einzige, das sie über den Mann wüsste, der damals Marie Habietinek denunziert hätte, sei dessen Beruf. Ich sicherte ihr meine Begleitung noch in derselben Sekunde zu, in der sie dessen Berufsbezeichnung bereits genannt hatte. Ich als Schreiber hatte wohl auf ganz ähnliche Weise wie sie als Leserin aus meinem Buch verdrängt, wie die Berufsbezeichnung jenes Mannes S. lautete, der bis an sein Lebensende in Prein an der Rax gelebt und auf demselben Friedhof wie Marie Habietinek bestattet worden war: Bäcker.

(erstmals veröffentlicht in «Die Presse»)

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-415-6

Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld A, lebt als Schriftsteller in Wien. Er schreibt Reisegeschichten, Drehbücher und Romane (u.a. »Der Räuber« und »Die letzte Prinzessin«). Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon.

Rezension «Die letzten Tage» mit Interview («Der Bäcker, der Mörder, die verschwundene Tote» ist ein Folgetext dessen.)

Rezension «Die unsichtbaren Seiten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lukas Beck

Jonas Hassen Khemiri «Die Schwestern», Rowohlt – ein Keil aus dem Norden (2)

Mit seinem neuen Roman „Die Schwestern“ schreibt sich der aus Schweden stammende Romancier Jonas Hassen Khemiri in die erste Liga der Europäischen Autoren.

Popcorn im Haar
Gastrezension von Frank Keil

Es gibt diese Bücher, dieses eine Buch. Man schlägt es auf, fängt an zu lesen und es ist um einen geschehen. Ein Satz, den man selbst nie hinschreiben würde, zu kitschig, zu pathetisch, wahrscheinlich auch falsch, wann ist es schon um einen geschehen. Und doch: Eine Welt hat sich aufgetan, und man ist ganz in ihr versunken. Es gab für einige Tage nur dieses Buch, nur dieses eine. Deswegen hat man einst mit dem Lesen angefangen. Und deshalb hat man damit nicht wieder aufgehört, und deshalb wird man dabei bleiben.

Und worum es geht? Um drei Schwestern, die auf die Namen Ina, Evelyn und Anastasia hören und die englisch miteinander sprechen, die Mikkola-Schwestern, sobald sie die Straße betreten und durch die Siedlung gehen, was natürlich besonders ist und auffällt und es sonst niemand in ihrem Umfeld macht (da spricht man Schwedisch, da spricht man vielleicht einen wirren junge-Leute-Slang, zu Hause sprechen die Eltern oftmals Arabisch). Es geht daher um das Aufwachsen und dann Leben in der migrantischen Community der großen Städte Schwedens, wo man gleichermaßen dazugehört und nicht dazugehört und man also nichts falsch und nichts richtig machen kann, und das hat natürlich Folgen, über die zu erzählen ist; Stoff, um daraus Geschichten zu entwickeln, ergibt es sowieso genug. Es geht um verlorengegangene Väter, die zuweilen wieder auftauchen und die auch im zweiten oder dritten Anlauf keinen Platz in ihren Familien finden (was sie ehrlich schmerzt, was aber dennoch nicht dazu führt, dass sie mal ins Denken kommen, traditionell-verspannte Männer, die sie sind und rechthaberisch und eigenbrötlerisch dazu, das wird nichts). Es geht entsprechend um Mütter, die versuchen ihre immer wieder aufs Neue auseinanderfliegenden Familien zusammenzuhalten, was sie selbst an die Grenzen ihrer Kräfte kommen und zuweilen auch seltsam werden lässt (die Mutter der drei Schwestern etwa springt zwischendurch aus dem Fenster, das geht einigermaßen glimpflich aus, trotzdem bleibt das Verhältnis zwischen den drei Töchtern und ihr – sagen wir mal – schwierig). Es geht in einem zweiten, immer wieder kreuzenden und sich abwechselnden Erzählstrang um einen Jungen, der den drei Schwestern immer wieder über den Weg läuft, sich mal mit der, mal mit der befreundet, und der Junge heißt Jonas Hassen Khemiri, was Zufall sein mag und der heranwächst und nach diversen Irrungen und Wirrungen am Ende Schriftsteller wird, was ja vorkommen kann. Es geht um einen Zeitraum von 30 Jahren und was da alles passieren kann, an einem kalten Januartag im Jahr 1994, im Sommer 1997, im Jahr 2003, während eines Auslandssemesters in Paris; was möglich ist, was scheitert, was noch dazwischen schwankt, darum geht es.

Jonas Hassen Khemiri «Die Schwestern», Rowohlt, 2025, aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein, 732 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-498-00497-2

Es geht um einen Fluch, der auf den drei Schwestern lastet oder lasten soll und ihnen das Leben schwer macht (kann man da nichts machen, sich von jemanden entfluchen lassen, etwa?). Es geht um Partys in hippen Büroetagen, in denen alle alles auf einer Karte setzen, wo der Alkohol fließt und es auch nicht an anderen Drogen fehlt und wo bullige Türsteher den Einlass kontrollieren, so dass man, steht man wie die drei Schwestern nicht auf der Gästeliste, heimlich durchs Fenster hineinklettern muss und ebenso heimlich wieder hinaus und dazwischen ist viel passiert. Es geht um das Aufwachen mit Popcorn im Haar. Es geht um Basketball, um einen Alley oop, um einen Dunk, wie man einen harten Press-Defence über das ganze Feld spielt, vielleicht wird man ein Basketballstar oder wenigstens ein Profi, das wäre doch eine Option, großgewachsen und gelenkig, wie Anastasia und Jonas nun mal sind, und um ihren sagenumwobenen Trainer aus der amerikanischen NBA-Liga geht es, der tatsächlich dort nur einmal für ein Spiel eingesetzt worden war, um nicht einen Punkt zu erzielen, nicht einen Rebound, nicht einen Block, nicht mal einen Freiwurf, und alles fällt wie ein Soufflee in sich zusammen, aber da spielen die beiden schon kein Basketball mehr, sie googlen nur mal kurz im Nachhinein, wer ihr Trainer eigentlich gewesen war.

Es geht also auch um Wahrhaftigkeit, es geht um Illusionen und um Träume und ob das, was man sich vorstellt, irgendeine Chance auf Verwirklichung hat und wenn, was dann. Es geht um die Bewerbung auf eine angesagte Schauspielschule, jedes Jahr bewerben sich um die 3.000 bis 4.000 junge Leute, dort und zu zehn von ihnen werden angenommen, und auch Evelyn und ihre beste Freundin Cecilia versuchen es, und das ist nur begrenzt eine gute Idee, man sollte nicht alles teilen wollen. Es geht um eine Verlagsgründung, der Schlachthaus Verlag will nur Bücher verlegen, an die sich sonst kein Verleger herantraut und wenn das kein Geld einbringt, dann ist es umso besser. Es geht um Liebe und um Ehen und um eine Beerdigung in Tunesien auf einem entsprechenden staubigen Friedhof, aber vorher muss der Leichnam noch aus dem Krankenhaus abgeholt werden, und also besticht man zwei Krankenwagenfahrer, man kann den toten Körper ja schlecht im Kofferraum seines eigenen Wagens mitnehmen, was, wenn einen die Polizei anhält, was sagt man dann. Und es geht um diesen einen Moment beim Lesen, womit man plötzlich geradezu erschreckt versteht, wie das alles, was einem aus so vielen Winkeln und an so vielen Orten über viele Seiten hinweg so überaus packend und komplex erzählt wurde, mit einem mal zusammenhängt („Ach, so!“, ruft man laut aus, in seinem Lesesessel), und dann werden die Erzählfäden wieder lockergelassen und man fällt zurück in das weich-warme Rätseln und sich Treiben lassen und muss gar nicht wissen, ob man tatsächlich richtig liegt mit seiner Vermutung oder ob man etwas nur nicht richtig verstanden hat: Es warten ja noch so viele Seiten auf einen, zum Glück.

Und es geht immer wieder um die Frage: Was ist eine Geschichte? Was erzählen wir uns, wenn wir erzählen; erzählen wir, um dem Leben einen Sinn zu geben und was wäre das für einer oder wollen wir anderen Leuten schlichtweg nur gefallen? Und was ist erst, wenn wir Erzähltes aufschreiben? Wenn wir versuchen, Leben in Schreiben zu verwandeln und dann Geschriebenes vor uns liegt und lebendig wird …

Das alles ist schon spannend genug, reicht locker aus, dieses Buch bedingungslos zu empfehlen. Aber dann ist da noch dieser Sound, dieser Jonas-Hassen-Khemiri-Beat, der vom ersten Satz an auf eine sich durchziehende Bass-Line und auf Tempo und auf Tempowechsel und auf Dichte und auf Unterströmungen aller Arten setzt und der dabei zugleich so kunstvoll schreibt, so entspannt und sicher auch, dass jeder Satz (der zuweilen locker über eine Buchseite mäandert und noch ein paar Zeilen mehr, wenn es nötig ist) in den am Ende 137 Kapiteln je genau an dem Ort steht, an dem er zu stehen hat und an keinem anderen. Was also für ein Buch! Wirklich! Und ja, es gibt viele gute Bücher, auch viele sehr gute – aber dieser Roman ist dann doch noch mal – besonders. Ach, also einzigartig. Richtig toll ist er. Und wunderbar noch dazu.

Jonas Hassen Khemiri, geb. 1978 in Stockholm, ist einer der renommiertesten Autoren Skandinaviens. Seine sechs Romane wurden in über dreissig Sprachen übersetzt, und seine Dramen werden in der ganzen Welt inszeniert. Er wurde mit zahlreichen schwedischen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Per-Olov-Enquist-Preis, der Augustpreis und der Prix Médicis Étranger. Sein Roman «Die Vaterklausel» war für den National Book Award nominiert. Seit 2021 lebt Khemiri in New York, wo er Kreatives Schreiben unterrichtet.

Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Johan Harstad und Tove Ditlevsen. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis, 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW und 2019 den Jane-Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.

Beitragsbild © Max Burkhalter