Wortlaut 2016, mal luise mal laut, mal rinks mal lechts

Vom 31. März bis 3. April fanden die 8. St. Galler Literaturtage WORTLAUT statt, ein Festival des geschriebenen, gesprochenen und gezeichneten Wortes.

Hier meine ganz eigene Perlenkette, eine Hand voll gute Bücher:

Helle-coverHeinz Helle «Eigentlich müssten wir tanzen», Suhrkamp
Fünf junge Männer verbringen ein Wochenende in den Bergen. Zurück im Tal sind die Ortschaften verwüstet, die Menschen tot, aufgequollen oder geflohen, die Häuser und Geschäfte geplündert, die Autos ausgebrannt, Kühe noch im Sterben an Melkmaschinen hängengeblieben. Zu Fuss unterwegs, aller Ziele beraubt, wird das Leben reines Funktionieren, Handeln jedem Sinn beraubt.
Im Gespräch bei der Lesung meinte Heinz Helle, die Gruppe junger Männer sei ein Versuchsanordung gewesen. Was passiert, wenn alles verschwindet, wegbleibt, wenn Menschen nur noch Körper sind? Sie werden Teil der Natur, haben Zivilisation aufgegeben, erst recht die verklärte, romantische Vorstellung, was ein Leben in und mit der Natur sein könnte. Einzig der Wille treibt sie, überleben zu wollen, obwohl niemand unter ihnen ein Warum und Wozu beantworten kann. Auch wenn der Roman düster erscheint, ist allein die Sprache es wert, dieses Buch zu lesen. Und der Autor ein Versprechen für die Zukunft!
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Pierre Jarawan «Am Ende bleiben die Zedern», Berlin
Vor Samirs Geburt sind seine Eltern aus dem Libanon nach Deutschland geflohen. Mit acht verschwindet sein geliebter Vater, plötzlich, unerwartet. Zwanzig Jahre später, nachdem ihm seine Verlobte das Letzte verweigert, macht sich Samir auf in das Land der Zedern, auf die Suche nach sich selbst und seiner Herkunft. Ein Buch über Risse in der Familie, im Heimatland Libanon und jene in der eigenen Seele. Pierre Jarawan schrieb ein Buch über seine Liebe, über ein Land, das noch über Generationen an Missverständnissen leiden wird, über ein Land, dass sich nicht traut, über die Vergangenheit nachzudenken. Ein erstaunlich reifes Buch ganz in der Tradition wahrer Geschichtenerzähler! In seiner Lesung spürte ich sein Feuer, die verzehrende Leidenschaft des Autors für Land und Familie. Das Buch sei Fiktion, aber trotzdem 100%ige Wahrscheinlichkeit. Und weil Pierre Jarawan als Slam Poet das Publikum als Teil seiner Performance ernst nimmt, sprang der Funken umso mehr.

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Rebecca C. Schnyder «Alles ist besser in der Nacht», Dörlemann
Alles an Billy ist Protest, jede Faser, jede Geste, jedes Wort. Protest gegen alles. Billy hat zwar schon einmal ein Buch geschrieben, aber nicht einmal das ist es wert, aufrecht zu gehen. Sie geht geduckt durchs Leben, gequält von den Anrufen ihrer Mutter, vom Drängen ihres Verlegers, selbst von der Liebe Noes, der ausgerechnet Theologie studiert. Rebecca C. Schnyder erzählt in ihrem ersten Roman vom inneren Kampf einer jungen Frau gegen sich selbst. Zugegeben, das Buch mag auf den ersten Seiten abschreckend wirken. Schon der zweite Satz schlägt in die Magengrube und es dauert eine ganze Weile Lesen, bis ich Mitgefühl für die Heldin aufbringen kann. Aber das ist Programm, braucht dieses Buch, diese Geschichte, um glaubhaft von einem Leben zu erzählen, das aus der Spur geraten ist. Kein Buch zur Erbauung, aber ein Buch, das einem eine Tür öffnen kann. Rebecca C. Schnyder, bisher mehr bekannt als Dramaturgin («Erstickte Träume – St. Gallens stilles Erbe», UA 7. November 2015 Theater St. Gallen) überzeugt auch im Roman mit scharfen, gut inszenierten Dialogen, rotzfrech. Billy ist ein erfrischendes Ekel.

Radek Knapp «Der Gipfeldieb», Pipercsm_produkt-11980_947c139828
Jedes Mal, wenn Ludwik seine polnische Mutter besucht, tischt sie ihm eine ganze Palatschinken-Pyramide auf. Sie wissen nicht, was Palatschinken sind? Etwas von dem, was Ludwiks Mutter von Polen mit nach Wien genommen hat, was ihr selbst nicht schmeckt, ihrem Sohn aber ungefragt zu schmecken hat, erst recht bei schwierigen Entscheidungen. Und weil Ludwik Junggeselle ist und sich seine Mutter immer wieder höchst engagiert in das Leben ihres einzigen Sohnes einmischt, ist Palatschinken-Essen eine Art sich nahezukommen, manchmal auch auszusöhnen. Vor allem, wenn Ludwik nach 15 Jahren «Warten» Österreicher werden soll und man ihm die Staatsbürgerschaft wie einen Orden für ein «Leben im Griff» verleihen will. Leider meldet der Staat aber unvermittelt eine Gegenleistung und der Vierunddreissigjährige soll zur Armee. Radek Knapp ist eine Fabulierer, ein begnadeter Geschichtenerzähler, bei dem man nie ganz sicher ist, wie ernst er den Ernst des Lebens nimmt. Sein Roman ist aber nicht bloss ein Schwank, sondern von bissigen Kommentaren durchsetzt, bei denen nicht nur die Wiener einige Hiebe abbekommen: «Das Gesindel ist arm. Und wenn der Westen nicht hinüberfährt und der Armut vor Ort unter die Arme greift, kommt die Armut hierher und hilft  sich selbst. Wenn sich also jemand schämen sollte, dann der Westen.» Die 40 Minuten Lesung waren köstliche Unterhaltung. So witzig der Protagonist im Roman, so witzig der Autor. Da werden Buch und Autor eins und für eimal gerät die Frage nach der Grenze zwischen Realität und Fiktion augenblicklich in den Hintergrund, erst recht nachdem der Autor in einem einzigen Satz die fünf meist gestellten Fragen bereits beantwortete.

Lappert_24905_MR.inddRolf Lappert «Über den Winter», Hanser
Lennard Salm ist fünfzig und Künstler, wenn auch verunsichert. Als seine älteste Schwester stirbt, kehrt er von der einen mit Strandgut überzogenen Küste am Mittelmeer zurück nach Hamburg an die andere «Küste» mit dem Strandgut seiner Familie, von der er immer entkommen wollte. Auf der Suche nach dem eigenen Leben begegnet er seiner Familie. Aber was ist das, das eigene Leben? Es ist kalt im Winter in Hamburg! Er lernt seine Eltern und Geschwister neu kennen. Rolf Lappert beschreibt genau, poetisch und mit einem ungeheuren Zug in seiner Sprache. Dass er am 9. April bei uns in Amriswil lesen wird, freut mich ungemein!

PS Lea, meine Tochter, zeichnete auf eine Papierserviette im Papiersaal Zürich.

Juli Zeh «Unterleuten», Luchterhand

Juli Zeh schrieb den lange angekündigten grossen, deutschen Gesellschaftsroman.

Juli Zeh ist eine der Grossen im deutschsprachigen Literaturbetrieb. 1974 in Bonn geboren, Jura, Europa- und Völkerrecht studiert, landete sie schon mit ihrem Debut «Adler und Engel» einen Grosserfolg und konnte mit Romanen, Essays und Reisetagebüchern auch im weiteren überzeugen. Juli Zeh ist eine der AutorInnen, deren Schreiben immer politisch ist. So nimmt sie kein Blatt vor den Mund, sei es in einem offenen Brief an Angela Merkel als Konsequenz aus der NSA-Affäre oder zusammen mit Illija Trojanow («Der Weltensammler») in der Streitschrift Buch «Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte», wo sie im Rahmen der Buchvorstellung kritisierte, dass der Staat unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung immer weiter in die Privatsphäre seiner Bürger vordringe.

Und nun also der vom Verlag mit Trommelwirbel präsentierte Roman «Unterleuten». Unterleuten ist nicht das Dorfidyll, von dem Aussteiger, Zivilisationsflüchtlinge, Tierschützer träumen. Es schmaucht, raucht und stinkt. Es wird verleumdet, taktiert, geschlagen, 130 km weg von Berlin in der ehemaligen DDR, aber scheinbar auf der anderen Seite des Planeten. Alteingesessene, durch Jahrzehnte gestählte Befehls- und Ansichtenempfänger prallen auf geblendete Freiheitssehnsüchtige, Zuzüger, die Landschaft, Haus und Garten mit Erwartungen vollpumpen. Aber die alte Ordnung steckt wie all das Gift aus 40 Jahren sozialistischer Erfolgsgeschichte 20 cm unter dem Boden.
Mit den geschärften Sinnen der Autorin taucht der Leser in einen ganzen Kosmos ein, spielt mit bei all den Winkelzügen eines ganzen Dorfes. Die Autorin schildert unverblümt. Mag sein, dass den einen gewisse Charakteren überzeichnet erscheinen. Wer aber Dorfleben kennt, und nicht nur jenes in der ehemaligen DDR, weiss, dass Juli Zeh bloss konzentriert und scharf zeichnet. In Film und Theater wäre der Vorwurf der Überzeichnung hinfällig. Warum soll dies ausgerechnet in der Literatur, in diesem Buch das Vergnügen und die Einsichten schmälern.
Der eine Klimawandel stülpt sich über Landschaft, Dorf und Menschen, während der andere Klimawandel, weg von der eigenen Nasenspitze, auch bei den idealverseuchten Zuzügern und verklebten Ewiggestrigen noch längst nicht stattgefunden hat. Die einen hecheln nach Heimat und die anderen haben sie im Laufe ihres Lebens mehrmals verloren.
Juli Zeh schafft ein weitverzweigtes Panoptikum von Archetypen; Meiler der Spekulant, Kron der ewige Krieger, Linda die Pferdeflüsterin, Gerhard der geleuterte Tierschützer, Jule die verzweifelte Mutter, Hilde die verschrobene Alte… Ich tauchte ein und las mich weg. Juli Zeh fesselte mich an ihr Buch und ich liess es gerne geschehen!

«Wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefgeht, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besassen Qual und Leiden noch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung.»

Juli Zeh liest am 17. Mai um 20 Uhr im Kaufleuten in Zürich.

Eine ganze Webseite zu allem rund ums Dorf und ihre BewohnerInnen

Webseite der Autorin

Jakob Hein «Kaltes Wasser», Galiani

Es gibt verschiedene Arten, sich dem Schicksal entgegenzustellen. Es hinzunehmen und zu akzeptieren – oder die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, auch mit dem Risiko, dabei ordentlich «auf die Schnauze zu fallen».
Im neuen Roman Jakob Heins, einem echten Schelmenstück, wohl selbst ein Wesenszug des Autors (unbedingt Video schauen!), beginnt Friedrich Bender schon als «Agitator» in der Ostschule, als Sohn eines Professors für Marxismus und Leninismus, die Realität nach seinen eigenen Gesetzen einzufärben, zumal die sozialistische Wirklichkeit in der bröckelnden DDR im trüben Grau Farbe dringend nötig hat. Friedrich ist 17, als die Mauer fällt. Er entschliesst sich gleich, seine Ostidentität an den Nagel der Vergangenheit zu hängen und nicht lange auf mühsam erwarteten und erhofften Erfolg zu warten. Da wird aus einem alten Armeebus eine bierige Goldgrube, aus Din A4 und ein paar Stempeln von weiter weg ein solides Studium in Betriebswirtschaft und später aus dem klingenden Namen des Schwagers und Friedrichs geölter Schnauze eine respektable und florierende Partnervermittlung im gehobenen Segment. Nur lässt sich nicht alles auf Hochglanz schnorren, am wenigsten seine müden Eltern und all das, was Friedrich in weiter Ferne als altes Leben zurückliess.

Jakob Hein, Schriftsteller und Psychiater an der Charité in Berlin, kennt sich aus mit queren Köpfen, solchen wie Friedrich, der durchs Leben taumelt, immer knapp an der Katastrophe vorbei, ein Filou, ein liebenswerter Hochstapler. Ein witziges, lustiges Buch von einem Autor, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt, wohl weiss, dass nur so aus dem Schatten eines «grossen» Vaters (Christoph Hein) zu entfliehen ist. Ich las den Roman mit blankem Spass und dem stillen Bedauern darüber, so gar nichts von der bedenkenlosen Frechheit des Helden abschneiden zu können. Genau das richtige aufs Nachttischchen, auch wenn Bilder in die eigenen Träume geraten sollten.

Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, lebt mit seiner Familie in Berlin. Seit 1998 Mitglied der »Reformbühne Heim und Welt«. Er hat inzwischen 14 Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011) sowie zuletzt gemeinsam mit Jürgen Witte die Streitschrift Deutsche und Humor. Geschichte einer Feindschaft (2012).

Jakob Hein liest «zehn Seiten».

Das 30. Literaturblatt ist fertig!

12 Schritt zu einem Literaturblatt

Ein kleines Jubiläum.
Vier besondere Bücher werden auf dem 30. Literaturblatt vorgestellt. Sechs Mal im Jahr schreibe und gestalte ich diese Empfehlungen auf ein A4-Blatt und verschicke Sie an über 200 Leseinteressierte. Einfach so? Vor vielen Jahren fragte mich eine Kollegin, ob ich ihr nicht eine Liste mit ein paar guten Büchern schicken könnte. Und weil da noch andere fragten, die ebenfalls Interesse bekundeten, schrieb ich erst mit Tasten, später denn viel lieber mit Stiften. Hochkonzentrierte Arbeit, weil ich fast immer mit Kugelschreiber arbeite. Korrekturen sind nur schwer möglich.

Und nun ist es da. Ich verspreche 4 grossartige Bücher mit ihren AutorInnen: Ein grosser Schriftsteller, der in der DDR zu schreiben begonnen hat (Suhrkamp), ein Österreicher, der am 8. März mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse ausgezeichnet wurde (Hanser), ein junger Wilder aus Deutschland, der deutscher Meister 2012 sowie Gewinner diverser Poetry Salms ist (Berlin) und eine stille Bregenzerin, die sich nach 20 Jahren mit einem wunderschönen Roman zurückmeldet (Jung und Jung).
Neugierig? Super! Man kann das 30. Literaturblatt bei mir bestellen!

Ein kleiner Wettbewerb: Wer mir alle vier Autoren mit ihren Büchern nennen kann, dem sende ich ein ganz besonderes Buch kostenlos zu! Die erste richtige Antwort zählt.

Literaturzirkel – Literaturzirkus

(Gruppenbild mit dem Schriftsteller Martin R. Dean)

Warum über Bücher reden?

Vor mehr als 25 Jahren fragte ich Freunde und Bekannte, ob sie Lust hätten, sich monatlich zu treffen, um Leseerfahrungen auszutauschen, nicht akademisch, nicht vom hohen Ross, nicht hochgeistig, nicht elitär, einfach nur, weil es schade ist, nach der Lektüre das Buch so ohne alles ins Regal zu schieben, es im Nirwana einer Bibliothek zu beerdigen. Alle, die lesen, wissen, dass erst das Reden über das Buch das Buch unvergesslich macht, selbst wenn man das Buch klebrig, langweilig, schlicht schlecht fand.

So trifft sich eine Gruppe BücherfreundInnen monatlich, manchmal im Restaurant mitten im Lärm, manchmal bei jemandem zuhause, machmal im Bienenhäuschen, manchmal im Kino, manchmal zu einer Lesung, manchmal an Literaturtagen, immer wieder, seit mehr als 25 Jahren. Das macht 25 mal 12 Bücher. 300 Bücher! Eine stattliche Bibliothek.

Der erste Höhepunkt vor über 25 Jahren war der Besuch des Schriftstellers Otto Steiger, ein Autor der zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, erst recht, als er 2005 fast 100jährig starb. Von Kriegsbeginn bis 1943 war Otto Steiger die offizielle «Stimme der Nation», die bei einem Einmarsch die Authentizität der Radionachrichten garantieren sollte. Sein dritter Roman 1952 Porträt eines angesehenen Mannes (beim Unionsverlag erschienen) wurde von Kritikern als Propaganda für den Kommunismus verurteilt. Das Buch wurde tatsächlich ohne Steigers Zutun auf russisch übersetzt und 300’000mal verkauft. Nachdem er 1957 unvorsichtigerweise einer Einladung des russischen Schriftstellervereins gefolgt war, diffamierte und ignorierte die Presse den «roten Steiger». Diese Reise war als Entschädigung für die 1952 erfolgte unautorisierte Übersetzung seines dritten Romans gedacht. Seine gesellschaftskritischen Bücher, viele davon Krimis, erschienen nur noch in Kleinverlagen.

Viele weitere Glanzlichter folgten: eine Begegnung mit Silja Walter, ein Treffen mit Christoph Keller, eine beglückende Freundschaft mit Margrit Schriber…

Letzter Höhepunkt war eine Einladung der Solothurner Literaturtage 2015, als der Literaturzirkel vor Publikum zusammen mit dem Basler Schriftsteller Martin R. Dean über seinen Essayband «Verbeugung vor Spiegeln» heftig diskutierte. Ein unvergessliches Erlebnis, weil wohl weder der Veranstalter noch der Autor damit rechneten, dass das Buch so kontrovers diskutiert wurde. Dabei schien es zumindest in unserer Gruppe doch genau das zu bewirken, was es bewirken sollte: Übers Fremdsein sprechen. Lesezirkel mit Martin R. Dean, 16.05.2015, SLT

 

Mireille Zindel «Kreuzfahrt», Kein und Aber Verlag

«Früher hatte das Leben so viele Möglichkeiten. Dann schliesst man das Studium ab, beginnt zu arbeiten, hat Familie, und plötzlich ist man auf dieser Autobahn für die nächsten 25 Jahre. Nicht dass ich Angst hätte, dass ich diese Jahre abstrampeln würde, aber Gedanken macht man sich schon.» Meret ist verheiratet mit Dres, Mutter zweier kleiner Kinder und weit weg von den unendlichen Möglichkeiten einer 20jährigen, unzufrieden in der tief empfundenen Sackgasse von Einfältigkeit und ungestillter Sehnsucht. Bei einem Ferienaufenthalt an der Küste Italiens lernen Meret und Dres das Paar Jan und Romy kennen, auch sie mit zwei Kindern. Bald spielt zwischen der Erzählerin Meret und Jan mehr als freundschaftliche Nachbarschaft. Die Entfremdung von ihrem Mann, die Ferne zu den eigenen Kindern, die Mutlosigkeit, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen, scheinen ihr das Recht zum Verlieben zu geben. «Wie weit kann man sich voneinander entfernen, bis man sich nicht mehr findet?» Und als Jan mit seiner mitteilungssüchtigen Frau Wochen später in Zürich dann auch noch in die Wohnung unter ihnen zieht, man Tür an Tür, Wand an Wand lebt, wird das Begehren unausweichlich und die Geschichte zwischen Meret und Jan für mich als Leser zum Kippbild. Wo hört Liebe auf? Wo endet blosses Begehren? «Man muss die Liebe ernst nehmen wie den Tod. Man darf nicht gleichgültig sein. Denn ist sie einmal vergangen, ist sie unausweichlich weg», meint Meret, die ihre Geschichte mit Jan im Rückblick erzählt und nicht nur mit dem Erzählen selbst das Gegenteil beweist.

Mireille Zindel schreibt mit unglaublicher Empathie. Der Text riecht nach Erschöpfung und Trauer. Als hätte Meret mehr als ein Leben aus der Hand gegeben. Ein Buch mit einem grossen Sog, eines, das man gerne mit einem Stift hinterm Ohr liest, um Sätze, die ins Mark treffen, mitzunehmen.

Mireille Zindel (1973), Germanistin und Romanistin, lebt und schreibt in Zürich. Ihre beiden ersten Bücher «Laura Theiler» und «Irrlicht», erschienen im Salis-Verlag Zürich, wurden von Publikum und Presse begeistert aufgenommen und mit Preisen ausgezeichnet.

Die Autorin liest aus ihrem neuen Buch am 5. April, um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zürich.

Michael Kumpfmüller «Die Erziehung des Mannes», Kiepenheuer & Witsch

Nein, kein Sachbuch, auch kein Erfahrungsbericht, sondern ein Roman darüber, wie ein Mann durch Anpassung allein eben nicht zum Mann wird. Lernt man etwas bei der Lektüre dieses Buches, wo doch der Titel einiges verspricht, vor allem all den Frauen, die dieses Buch erwerben? Das Versprechen wird eingelöst, aber eben literarisch. Michael Kumpfmüller erzählt exemplarisch Georgs Geschichte, einen langen Kampf um Liebe, schon als Kind begonnen. Georgs Vater nimmt sich mit aller Selbstverständlichkeit und Offenheit im Schosse seiner Familie neben der Ehefrau eine Geliebte, während Georgs Mutter leidet, unsichtbar für den Mann, aber ein Alp für die Kinder. Der Autor setzt dem Protagonisten den Stachel, das Wissen, dass es gerade in der Liebe mit Sicherheit keine Sicherheit gibt, alles den Irrtum impliziert. «War das Leben nicht dazu da, dass man es lebte, unvermeidliche Irrtümer eingeschlossen? Wer sich nie irrte, lebte nicht, so viel meinte ich begriffen zu haben, wobei ich auch das Gegenteil dachte.» Georgs Vater straft gerne, entzieht Liebe macht die Klappe zu, auch als Georg sich gegen Jura aber für Musik entscheidet. Nach ersten Liebesversuchen trifft er Karin, lebt sieben Jahre mit ihr zusammen, ohne einmal mit ihr zu schlafen. Sie will nicht. Er duldet es, «käme sich schäbig vor, sich zu trennen». Dann ist es Jule, die zuerst so ganz anders ist, Kinder will und auch heftig tut, dass es geschieht, ihn heiratet, was Georg einerseits schmeichelt aber gleichsam von einer Tatsache in die nächste stösst. «In diesem einen Moment hatte ich gewusst, wer Jule für mich war. Ein kleiner, leuchtender Punkt, etwas, das mich aus allerfernster Ferne berührte, ein Versprechen mehr als eine Tatsache, etwas, an dem ich nicht achtlos vorübergehen zu dürfen glaubte.» Aus Leidenschaft wird Ehekrach und Scheidungskrieg vor den Augen dreier Kinder, all das, was den Vater eine Generation zuvor nicht zu bewegen schien.

Michael Kumpfmüller schreibt von den Schrecken des Mannseins, der Verunsicherung darüber, wie Mannsein allein nicht genügt, wie sehr einem das Leben aus der Hand genommen und zerrissen werden kann. Georg ist kein Verlierer, aber ein von Verunsicherung Gepeinigter. Michael Kumpfmüller spielt mit dem Nerv der Zeit. Braucht es mehr als die Liebe eines Menschen, um zu überleben? Bei Georg ist es die Musik.

Ein Tipp: Andreas Neeser «Wie halten Fische die Luft an», Haymon

Warum auf dem Nachttisch nicht ein Gedichtband; ein Gedanke in die Nacht, ein Geschenk für die Seele, Balsam für den Geist!

Begegnung

Du suchst dir noch einmal
den Spiegel im Spiel
du stellst dich da hin
und du bist es, das Lächeln
zu Hause im Bild
sind die Augen ganz heute und jetzt.

Ich fahr dir durchs Haar und
du winkst dir und
winkst dir zurück;
dann sagen wir leise einander die Namen
wie Vater und Kind.

für I. M.


Menetekel

Gestern um neuen
ging mir das Licht auf
zwei Fingerbreit
über dem Wald
blutrot
das halbe Gesicht
war nicht Stern
und nicht Stirn.

Ich brannte
bis weit in die Nacht
und wusste nicht wo.

aus «Wie halten Fische die Luft an», Haymon Verlag

Der Gedichtband wurde von der Deutschen Akademie für Dichtung in Darmstadt unter die Top 10 der deutschsprachigen Lyrikbände 2015 gewählt und mit dem Prädikat „Lyrikempfehlung 2016“ ausgezeichnet! «Neesers Erkundungen im Zwischenmenschlichen, im Naturraum draussen und drinnen, im Kopf des Ichs, sind beeindruckend konzentriert, wirken wie hingetupft und nehmen doch präzise Gestalt an.» Daniela Strigl, Jurorin Lyrikliste!

Andreas Neeser lebt in Suhr bei Aarau und verfasst neben Romanen (zuletzt «Zweischen zwei Wassern» Haymon) auch Mundarttexte (nach «No alles gliich wie morn» (2009) «S wird nümme, wies nie gsi isch» bei Zytglogge)
andreasneeser.ch

Jean Mattern «September», Berlin Verlag

«Ist es denn zu fassen, dass man in Deutschland noch einmal Juden ermordet? Vor dreissig Jahren gehorchten die Deutschen, wenn man ihnen auftrug, uns zu töten. Und jetzt gehorchen sie nicht, wenn man ihnen aufträgt, das Leben der unseren zu retten.»
Es sollten heitere Spiele werden in München 1972 nach den Nazispielen in Berlin 1936. Mark Spitz wurde zum schnauzbärtigen Superstar und Heike Rosenthal verzückte als erste deutsche Olympiasiegerin dieser Spiele. Alles bestens.
Unter den vielen Journalisten und Reportern, die zu berichten hatten, begegnet Sebastian Sam Cole, einem jüdischen Journalisten aus New York. Verunsichert und gebannt von dessen Erscheinung verheddert sich Sebastian immer mehr in seinen Gefühlen, erst recht, als am 5. September palästinensische Terroristen israelische Sportler zu Geiseln machen. Ein Wettlauf mit der Zeit, nervöse Poilitiker, sensationsgeile Massen, ahnungslose Journalisten, ein masslos überforderter Apparat. Bis in jene Nacht, als das Herantasten der beiden Journalisten zur amour fou wird, die Situation in München auf einem Flugplatz im Chaos tödlich eskaliert, alle Geiseln sterben und die ganze Welt geohrfeigt wird.
Jean Mattern erzählt in seinem vierten Roman in klarer Sprache, gut recherchiert und gekonnt erzählt die Tragödien um den 5. September 1972. Auch ein Stück Aufklärung darüber, wie Dilettantismus und Machtdünkel Menschenleben kosten können. Lesen!

Jean Mattern wurde 1965 geboren und wuchs in Deutschland auf. Er lebt in Paris, wo er als Verlagslektor arbeitet. September ist sein vierter Roman.