Literaturzirkel – Literaturzirkus

(Gruppenbild mit dem Schriftsteller Martin R. Dean)

Warum über Bücher reden?

Vor mehr als 25 Jahren fragte ich Freunde und Bekannte, ob sie Lust hätten, sich monatlich zu treffen, um Leseerfahrungen auszutauschen, nicht akademisch, nicht vom hohen Ross, nicht hochgeistig, nicht elitär, einfach nur, weil es schade ist, nach der Lektüre das Buch so ohne alles ins Regal zu schieben, es im Nirwana einer Bibliothek zu beerdigen. Alle, die lesen, wissen, dass erst das Reden über das Buch das Buch unvergesslich macht, selbst wenn man das Buch klebrig, langweilig, schlicht schlecht fand.

So trifft sich eine Gruppe BücherfreundInnen monatlich, manchmal im Restaurant mitten im Lärm, manchmal bei jemandem zuhause, machmal im Bienenhäuschen, manchmal im Kino, manchmal zu einer Lesung, manchmal an Literaturtagen, immer wieder, seit mehr als 25 Jahren. Das macht 25 mal 12 Bücher. 300 Bücher! Eine stattliche Bibliothek.

Der erste Höhepunkt vor über 25 Jahren war der Besuch des Schriftstellers Otto Steiger, ein Autor der zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, erst recht, als er 2005 fast 100jährig starb. Von Kriegsbeginn bis 1943 war Otto Steiger die offizielle «Stimme der Nation», die bei einem Einmarsch die Authentizität der Radionachrichten garantieren sollte. Sein dritter Roman 1952 Porträt eines angesehenen Mannes (beim Unionsverlag erschienen) wurde von Kritikern als Propaganda für den Kommunismus verurteilt. Das Buch wurde tatsächlich ohne Steigers Zutun auf russisch übersetzt und 300’000mal verkauft. Nachdem er 1957 unvorsichtigerweise einer Einladung des russischen Schriftstellervereins gefolgt war, diffamierte und ignorierte die Presse den «roten Steiger». Diese Reise war als Entschädigung für die 1952 erfolgte unautorisierte Übersetzung seines dritten Romans gedacht. Seine gesellschaftskritischen Bücher, viele davon Krimis, erschienen nur noch in Kleinverlagen.

Viele weitere Glanzlichter folgten: eine Begegnung mit Silja Walter, ein Treffen mit Christoph Keller, eine beglückende Freundschaft mit Margrit Schriber…

Letzter Höhepunkt war eine Einladung der Solothurner Literaturtage 2015, als der Literaturzirkel vor Publikum zusammen mit dem Basler Schriftsteller Martin R. Dean über seinen Essayband «Verbeugung vor Spiegeln» heftig diskutierte. Ein unvergessliches Erlebnis, weil wohl weder der Veranstalter noch der Autor damit rechneten, dass das Buch so kontrovers diskutiert wurde. Dabei schien es zumindest in unserer Gruppe doch genau das zu bewirken, was es bewirken sollte: Übers Fremdsein sprechen. Lesezirkel mit Martin R. Dean, 16.05.2015, SLT

 

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