«Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns.»

«Tassos Foto, es steht auf dem Bücherregal, erinnerte mich an seinen Füllfederhalter, den ich von Magdalena als Andenken bekommen hatte. Natürlich, dachte ich und holte ihn samt Tintenfässchen aus der untersten Schreibtischschublade hervor. Er roch ein wenig so, wie meine Grossmutter gelegentlich gerochen hatte, ich glaube, nach Kampfer. Ich reinigte die Innenseite und das Reservoir mit Wasser, und dann zog ich die alte, blaue Tinte auf. Als ich zu schreiben begann, nahm er sehr rasch die Temperatur meiner Hand an.»

Das Ende seines letzten Romans «Am Hang»
Markus Werner 1944 – 2016

(Morgen eine Verneigung! Die Zeichnung ist von Lea Frei.)

Judith Hermann «Lettipark», S. Fischer

Judith Hermanns neustes Buch «Lettipark» ist kein einem Roman nachgeschobener Erzählband, der im Schweif seines Vorgängers den Weg zu den Kassen finden soll. 17 Erzählungen, darunter Meisterwerke, gläserne Texte mit grösstmöglichem Deutungsspielraum. Geschichten vom Entschwinden, vom Verlust, keine fest eingerahmten und eingegrenzten Geschichten, sondern Szenen am offenen Herzen, der Zukunft ungewiss.

Nicht das Spektakuläre reizt Judith Hermann zu schreiben, aber Bilder aus Vergangenheiten und Gegenwart, die sich bei ihr einbrannten.
Vom kleinen Vincent, dessen Mutter im Winter zuvor gestorben war und er wie ein Grosser mit seiner kleinen Schubkarre Kohle in den Keller schippen will.
Von Freundinnen von einst, die sich auf einer Party begegnen, zwei, die einst gemeinsam in einer Studentenwohnung lebten, jetzt in fremden Welten voneinander getrennt, die eine als Fotografin Subjekt, die andere als Schauspielerin Objekt.
Von der Tochter, die ihren Messi-Vater besucht und beim Abschied das Gefühl vom allerletzten Küchenstück und gar nie wirklich einen Vater besessen zu haben mitnimmt.

u1_978-3-10-403716-5Judith Hermann beschreibt keine Verletzungen, aber die Narben, die sie alle mit sich herumtragen, die Male, Mutter- und Vatermale, Freundschafts- und Liebesmale, die nichts vergessen lassen. Und sie beschreibt sie mit Sätzen, die kurz und messerscharf sind, manchmal in ihrer Repetition wie Faustschläge auf blaue Flecken. «Er will es so. Genau so und nicht anders. Er will auf seinem gepackten Koffer inmitten einer Szenerie aus zusammenhangslosem Chaos sitzen, auf einem Trümmerhaufen, dann kann er sich den Anforderungen des Lebens halbwegs stellen.» Vielleicht einer der Schlüsselsätze im Buch. Einer jener Sätze so deutlich und klar in Geschichten, die ausufern, nicht in ihrer Erzähllänge, aber in der Potenz, die sie mit sich tragen.

Von zwei Paaren, die sich zum Essen in der Stadt treffen, vom Mond beschienen, jenem Ort, wo Neil Armstrong, den der eine Mann einmal getroffen zu haben behauptet, einen Teil des Astronauten zurückbehalten habe, so wie jeder Teile von sich zurücklässt, Teile, die unerreichbar verloren sind. Geschichten von Menschen, die wie gefaltete Papierflieger für Sekunden glauben, die Schwerkraft überwunden zu haben. Ein Buch über das Abhandenkommen von Nähe, das Verschwinden von Liebe, wenn nur noch die Hülle von Leere aufgeblasen zurück bleibt.

Judith Hermann geriet mit ihrem letzten Roman «Aller Liebe Anfang» übermässig in tadelnde Kritik, mit einem Roman, der mich beeindruckte. Mit diesem Erzählband straft sie jene mächtig, die ihr dumpf vorwarfen, sie könne nicht schreiben und habe nichts zu sagen. Unbedingt lesen!

AF_Hermann_Judith__562_Druck.jpg.43391514-1Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. «Alice» (2009), fünf Erzählungen, wurde international gefeiert. Zuletzt erschien der Roman «Aller Liebe Anfang». Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.

literaturblatt.ch fragt, Teil 1, Jens Steiner antwortet.

Jens Steiner, 2013 Träger des Schweizer Buchpreises, «Hausautor» beim überaus verdienten Dörlemann Verlag und schon einmal Gast an einer Hauslesung bei uns in Amriswil, antwortete mir auf ein paar Fragen, die ich ihm mit dem zugeschickten 31. Literaturblatt stellte.  Fragen, die ich einer ganzen Reihe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern stellte. Hier Teil 1 mit Jens Steiner:

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben?

Ich will fesselnde Geschichten erzählen, wobei sie das auf verschiedene Weise sein können: durch spannende Handlung, ihre Sprache oder überraschende Perspektiven. Ob meine Bücher politisch und gesellschaftskritisch sind, soll jede Leserin und jeder Leser für sich entscheiden. Tatsache scheint mir, dass Gegenwartszusammenhänge (dazu gehören selbstverständlich auch solche, die man den Bereichen Politik und Gesellschaft zuordnet) in alle meine Texte hineinreichen, ob ich es nun will oder nicht. Über das Warum gibt vielleicht meine nächste Antwort Auskunft.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen?

Aber natürlich, wie sollte es anders gehen? Ich hätte bis heute wohl keinen einzigen literarischen Text geschrieben, wenn ich mich nicht ständig von allem, was um mich herum ist, mich lockt, piekst und kratzt, verleiten liesse, seien das nun andere Autorinnen und Autoren, Musik, die Amsel vor meinem Fenster, Zeitungslektüre oder Begegnungen mit freundlichen und weniger freundlichen Zeitgenossen. Als Autor bin ich der Fleischwolf, der das alles zu exquisiten Literaturwürsten verarbeitet (für Vegetarier: der Mixer, der alles zu einem leckeren Wort-Hummus verquirlt).

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung?

Die Forderung hat unter anderem deshalb ihre Berechtigung, weil Literaturschaffende sich oft zwischen Kunst und Nicht-Kunst bewegen. Die Essayistik beispielsweise verwendet Elemente des Literarischen, verfährt aber auch rational-argumentativ. Im Gegensatz zu anderen Künsten macht das die Literatur anschlussfähiger für den Diskurs der Medienschaffenden (meist sind sie es, die die Stimme der Schriftsteller fordern). Ärgerlich in diesem Zusammenhang finde ich, dass viele Medienschaffende gegenwärtig genau eine Kategorie von Schriftstellern in diesem Sinn für anschlussfähig halten, nämlich die Kategorie »Max-Frisch-Nachfolger« (die im Moment genau einen Vertreter hat, nämlich Lukas Bärfuss). Nichts gegen Bärfuss, aber es gibt viele – und auch viele junge! – Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die politische und gesellschaftskritische Voten abgeben, ohne auf die immergleichen Max-Frisch-Maschen zurückgreifen zu müssen. Macht mal die Augen auf, Medienschaffende!

Gibt es die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens …?

Schreiben kann ein sozialer Prozess sein. Es gibt Autorenkollektive, Schreibseminare und Poetry Slams, wo Texte im besten Fall aus dem Stegreif und im direkten Austausch mit dem Publikum entstehen. Viel öfter aber wird das Schreiben bei uns als einsamer Prozess kultiviert, und ich nehme mich von dieser Tradition nicht aus. Wobei, ist dieser Prozess wirklich so einsam? Wenn ich schreibe, bin ich in ständigem Kontakt mit den Dingen, mit dem, was mich pausenlos lockt, piekst und kratzt (s.o.) und auf diese Weise mit mir spricht. Menschliches Gelaber hat die unerfreuliche Neigung, all diese Stimmen zu unterdrücken, weshalb ich beim Schreiben gerne allein bin. Aber eben nicht einsam.

Zählen Sie drei Bücher auf, die Sie prägten …?

„Chronik eines angekündigten Todes“ von Gabriel García Márquez (handwerkliche Perfektion, die nicht genug bewundert werden kann). „Catch-22“ von Joseph Heller (auch perfekt, weil fesselnd, politisch und gesellschaftskritisch in einem). „Ich habe den englischen König bedient“ von Bohumil Hrabal (poetisch, absurd, herrlich!).

Jens Steiner, vielen Dank!

image[1]Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis »Das zweite Buch« der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Letzter Roman war wie immer bei Dörlemann «Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit».

imgres«Carambole» ein Dorf im Sommer – irgendwo. Jens Steiner, der schon mit seinem ersten Roman «Hasenleben» zeigte, wie nah er sich an Personen heranschreiben kann, wurde 2013 zurecht als Seismologe eines ganzen Dorfes auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gesetzt. Er beschreibt kleine Katastrophen ebenso gekonnt, wie er mit der Lupe über den Seelen der Menschen brennt. Die Sommeridylle trügt, das Dorf kocht! Jugendliche, die kurz vor den Sommerferien das drohende Sommerloch mit Plänen füllen, aus denen «sowieso nichts wird». Familien, die zerbrechen, Generationen, die einander nicht mehr verstehen. So wie ein paar Männer im Dorf die Zeit mit dem Brettspiel Carambole totschlagen, entwirft Jens Steiner das Gesicht des Dorfes mit einem Spiel in 12 Runden. Ein meisterliches Gefüge!

imgres-1«Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit» Alles beginnt harmlos mit einem Jungenstreich: Die Studenten Paul und Magnus planen einen Anschlag auf den Medienzar Kudelka während dessen Auftritt an der Universität. Erstaunt, wie gut das gelingt, sind sie gleichzeitig enttäuscht, dass ihre Tat quasi ohne Folgen bleibt. Doch dann geschieht Unerwartetes: Ein Museum voller sprechender Objekte, ein Teelöffel Salz und eine Pizza lassen Pauls Leben komplett aus den Fugen geraten. Er findet sich als Gefangener in einer fremden Wohnung und erfährt, dass Kudelka entführt wurde – und dass er als Hauptverdächtiger gesucht wird. Nun beginnt eine raffinierte und spannende Verfolgungsgeschichte nach Südfrankreich – mit überraschendem Ende.

Weitere Informationen zu Jens Steiner unter seiner Webseite.

Das war der 1. Teil einer kleinen Reihe. Am 15. Juli antwortet Christine Fischer. Seien Sie wieder dabei!

Am 12. September: Lesung von Jan-Philipp Sendker in Amriswil

Marianne Nagel, über Jahrzehnte hochgeschätzte Buchhändlerin in Amriswil, organisiert noch einmal eine Lesung mit Jan-Philipp Senker, der sich 2002 mit «Herzenhören» nicht nur in die Herzen der Amriswiler schrieb. Am 12. September wird der Potsdamer Schriftsteller um 20 Uhr im Kulturforum Amriswil die Buchvernissage seines neuen Romans «Am anderen Ende der Nacht» mit Amriswil feiern. 

Noch einmal Signieren in der Buchhandlung Marianne Nagel, Amriswil
2015: Noch einmal Signieren in der Buchhandlung Marianne Nagel, Amriswil

„Mein neuer Roman kreist um die Frage, ob es ein Leben ohne Vertrauen geben kann. Und ob wir die Fähigkeit zu vertrauen jemals zurückgewinnen, haben wir sie erst einmal verloren.“

Auf einer Chinareise erleben Paul und Christine einen Albtraum: Ihr vierjähriger Sohn wird entführt. Zwar gelangt David durch glückliche Umstände wieder zu ihnen, doch die Entführer geben nicht auf, sie wollen ihn zurück. Der einzig sichere Ort für die Familie ist die amerikanische Botschaft in Peking. Aber Bahnhöfe, Straßen und Flughäfen werden überwacht. Ohne Hilfe haben sie keine Chance, dorthin zu gelangen. Wer ist bereit, ihnen Unterschlupf zu gewähren und dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen? Wem können sie trauen?
«Am anderen Ende der Nacht» erzählt von Menschen, die nicht mehr viel zu verlieren haben und sich gerade deshalb ihre Menschlichkeit bewahren.

imgresJan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asien Korrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung «Risse in der Großen Mauer». Nach dem Roman-Bestseller «Herzenhören» (2002) folgten «Das Flüstern der Schatten» (2007), «Drachenspiele» (2009) und «Herzenstimmen» (2012).

Jan-Philipp Senker liest in Amriswil vor "Heimpublikum", vollem Haus im Kulturforum.Foto Manuel Nagel
Jan-Philipp Senker liest in Amriswil vor «Heimpublikum», vollem Haus im Kulturforum. Foto Manuel Nagel

Moderiert wird der Anlass von Luzia Stettler, SRF-Literaturkritikerin, 2011 zum «Büchermensch des Jahres» erklärt.

Marianne Nagel: «Dies wird meine letzte Veranstaltung sein, mein literarischer Abschied von den Bücherfreunden und von Amriswil. Schön, wenn Sie mit dabei sind.»

Tickets inkl. Apero 25.- Fr. bei Marianne Nagel, Sonnenhügelstrasse 22, 9320 Arbon, 071 411 10 26 oder 076 411 10 26 oder buchhandlung.nagel@bluewin.ch

Capus und Kaminski

Alex Capus war eingeladen im Museum Lindwurm in Stein am Rhein, einem kleinen aber feinen Museum, das BesucherInnen zurück ins 19. Jahrhundert begleitet und darüber hinaus mit einem erstaunlichen Veranstaltungskalender aufwartet, der mit literarischen Leckerbissen zu überzeugen vermag.

04André Kaminski starb vor 15 Jahren. Er war Erzähler und Verfasser von Theater- und Fernsehstücken. 1923 in Genf geboren wanderte er nach dem Krieg nach Polen, ins Land seiner Vorfahren aus. Als überzeugter Kommunist arbeitete er dort bis zu seiner Ausbürgerung 1968 weiter für Funk und Fernsehen, was er auch zurück in der Schweiz bis 1985 tat. Sein erfolgreichstes Buch war der Roman «Nächstes Jahr in Jerusalem» der bei Suhrkamp immer noch als Taschenbuch erhältlich ist. Kaminski war ein begnadeter Erzähler und Fabulierer. Als ich ihm wenige Jahre vor seinem Tod an einer Lesung in der ersten Reihe sitzend lauschte, offenbarte Kaminski eine Art des Vortragens, die nur ganz selten zu den Fähigkeiten Schreibender gehört. Er las nicht nur einfach Textpassagen aus seinem Buch vor, sondern erzählte, erzählte wie jene Geschichtenerzähler im Arabischen Raum, die ihr mündliches Erzählen zum Beruf machten.

Alex Capus 1991 bei einer Lesung in Guntershausen TG
Alex Capus 1991 bei einer Lesung in Guntershausen TG

Alex Capus tut dies ganz ähnlich. Er hält keine Lesung, sondern eine Sprechung, erzählt von Schatzsuchern, von Geheimnissen. Er sitzt nicht einfach auf seinem Stuhl hinter Mikrofon und Tisch und liest. Er steht da und erzählt, manchmal mit Pausen, die mich irritieren, aber mit jener Portion Souveränität, die mich fast im gleichen Moment dann doch wieder in den Bann zieht. Und damit freue ich mich auf das neue Buch von Alex Capus. Vielleicht der erste Roman, in dem er wirklich von sich selbst erzählt. Er wird in dem im kommenden Herbst bei Hanser erscheinenden Roman von Max erzählen, der in seiner Heimatstadt (Olten?) eine Bar betreibt und zum ersten Mal wirklich allein ist, von seiner Frau getrennt.

38019Capus und Kaminski, Kaminski und Capus. Beide wussten und wissen, dass Schreiben nicht ohne ein lauschendes Publikum funktioniert, dass Literatur von beiden Seiten lebt. Capus hat seine LeserInnen. André Kaminski wünsche ich, dass er nicht ganz ins Vergessen abrutscht. Lesen Sie «Nächstes Jahr in Jerusalem», die Geschichte zweier jüdischer Familien in wirrer Zeit, im von Krieg und Revolution erschütterten Europa, im und nach dem Ersten Weltkrieg – alles andere als eine traurige Geschichte.

«Das Leben ist gut» von Alex Capus erscheint bei Hanser im August 2016!

Shumona Sinha «Erschlag die Armen!», Edition Nautilus

«Die Erde war eine Muttersau, die ihre allzu zahlreichen Ferkel nicht mehr ernähren konnte. Grunzend watete sie im Schlamm.» Die in Indien geborene und in England lebende Schriftstellerin Shumona Sinha verlor 2011, nach der Veröffentlichung dieses Romans, ihre Arbeit als Dolmetscherin bei der Französischen Asylbehörde. Ganz offensichtlich stach Shumona Sinha zu tief ins fette Fleisch der Muttersau.

«Ich biss mir auf die Lippen und fragte mich, ob es stimmte, ob ich hassen könnte, ob ein schlafender Hass plötzlich aus mir herausgebrochen war und sich mit aller Gewalt über diesen Mann entladen hatte.» Es mag Hass gewesen sein, aber mit Sicherheit Wut und blanker Zorn, der die junge Frau in «Erschlag die Armen!» dazu trieb, einem Migranten in der U-Bahn eine volle Flasche Rotwein über den Kopf zu schlagen. Nun sitzt sie in einer Zelle oder einem Büro Herrn K. gegenüber und versucht sich selbst zu erklären, was sie dazu trieb, einem Mann aus dem gleichen Land wie sie eine Glasflasche überzuziehen. An Handlung ist das in diesem schmalen Roman fast alles, nebst den vielen kleinen Miniaturen, die wie grelle Blitzlichter schildern, was in der Zwischenwelt der Geflohenen geschieht.

droits cédés à l'Olivier jusqu'au 4 décembre 2016

«Zwischen der endlosen Kolonne von Männern und mir eine hohe Mauer errichten. Abgewertete Männer, Zwerge, gelähmt vor Angst oder gar vor Hoffnung, bloss noch Nummern auf einer Warteliste oder einer Akte, Männer, die ihr Verlangen nach dem weissen Horizont, dem europäischen Traum, zu teuer bezahlt hatten.» Eine Mauer zwischen diesem Elend und der Stadt aus Glanz. Eine Mauer zwischen ihr und der Behörde, die in einer wabernden Gallerte aus Lüge, Verdrehung, Falschheit und Abstumpfung versinkt. Es ist nicht die Geschichte, die bannt, sondern die tobende Wut einer Entnervten, einer Wutentbrannten, einer in Sprache und Stand Missbrauchten. Es sind die Sätze,geb_SU die sich mir als Leser einbrennen und Wunden ritzen, Sätze, die mich zwingen, sie wieder und wieder zu lesen, weil sie messerscharf zeigen, wohin sich eine aus den Fugen geratene erste Welt manövriert. Sie, die Dolmetscherin, eine Frau der Sprache, instrumentalisiert von allen Seiten, verzweckt in einer verzwickten Lage, verlassen vom Glauben, Sprache würde der Wahrheit dienen. «Die Lüge drang in die Sätze ein wie das Wasser ins Hinterland, tausend Greifarme nahmen die Erde in Beschlag, salziges Wasser bedeckte die süsse Haut der Erde wie der Speichel eines Ungeheuers.» «Erschlag die Armen» ist ein Buch des blanken Schmerzes, der Verzweiflung darüber, nichts richtig machen zu können, über eine junge Frau, von der das Zittern Besitz ergreift, ein Zittern, das auf den Leser übergreifen kann, ein Buch von einer Verlorenen, einer Fremden in einem Apparat, einer Fremden unter Landsleuten, einer Fremden vor sich selbst.

geb_SUEnde August 2016 erscheint wieder bei Edition Nautilus ihr Roman «Kalkutta», die Geschichte von Trisha, die nach vielen Jahren in Frankreich anlässlich der Einäscherung ihres geliebten Vaters zurückkehrt in ihre Geburtsstadt Kalkutta. Im verlassenen Haus der Familie, in dem sie aufgewachsen ist, schicken die Möbel und vertrauten Gegenstände aus alten Tagen ihre Gedanken auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Indem Trisha sich in die Kratzer und Risse dieser Objekte, der Möbel, des Hauses versenkt, ersteht die Vergangenheit mehrerer Generationen einer Familie wieder auf, und damit auch die kollektive, politische Vergangenheit Westbengalens – von der britischen Kolonialzeit bis zur jahrzehntelangen kommunistischen Regierung seit den späten 1970er Jahren.

vs_literaturfestival_overShumona Sinha liest am Literaturfestival in Leukerbad vom 1. bis 3. Juli und am Open-Air-Literaturfestival Zürich am 12. Juli im Alten Botanischen Garten.

Das kleine, spezielle Literaturfestival!

Alle zwei Jahre lädt die Literaturkommission der Stadt Brugg zu einem kleinen und feinen Literaturfestival an der Aare ein. Ein Bücherfest ohne Hektik, wie immer mit einem exklusiven Programm.

Bekannte, grosse Namen wie Monique Schwitter, Trägerin des Schweizer Buchpreises, der Grazer Clemens J. Setz, Teresa Präauer, die nicht nur schreibt, sondern malt und zeichnet oder Reinhard Jirgl, Georg-Büchner-Preisträger. Aber auch potenzielle Geheimtipps wie Franz Dodel, der seit 2002 täglich an einem endlosen Poem schreibt mit dem Titel «Nicht bei Trost».

12681_petrowskaja_katja[2]Vor zwei Jahren traf ich dort Katja Petrowskaja, der Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2013. Wir sassen vor einem Café unter einem Sonnenschirm und unterhielten uns über ihr Buch «Vielleicht Esther», das bei Suhrkamp erschien und Publikum wie Presse gleichermassen begeisterte, über das Schreiben und was danach kommt, über Familie und die Kunst, alles unter einen Hut zu bekommen und über die Ukraine. Vielleicht ist das das besondere an diesen Literaturtagen: Weil der Anlass zusammen mit allen Autorinnen und Autoren beginnt und endet, sind sie alle immer irgendwie da. Manchmal unter dem lauschenden Publikum, manchmal im Café, manchmal in eine Gespräch vertieft.

Programm der Brugger Literaturtage 2016 Freier Eintritt für alle Veranstaltungen!

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Veranstaltet von der Stadt Brugg in Zusammenarbeit mit den Brugger Kulturvereinen
Salzhaus und Odeon.

 

IBB Sponsoring

 

Anita Siegfried «Steigende Pegel», bilgerverlag

Seit Juni 2016 brettern Züge durch den neuen Neat Basistunnel, einem Jahrhundertbauwerk durch den Alpenriegel, genau wie vor 130 Jahren der Eisenbahntunnel. Höchstleistungen, Pioniergeist, ungebrochener Glaube an Machbarkeit und Technik, Beharrlichkeit und Muskelkraft, früher wie heute. Aber vor 100 Jahren hatte auch der Ingenieur Pietro Caminada eine gigantische Idee: einen Kanal über die Alpen, der Nordsee und Mittelmeer miteinander verbinden sollte.

Anita Siegfried erzählt in ihrem neuen Roman «Steigende Pegel» nicht nur die wechselvolle Lebensgeschichte des umtriebigen Ingenieurs Pietro Caminada nach, sondern verwebt geschickt Fakten und Fiktion. Ein Teil des Romans 43534beschreibt eine Schifffahrt durch das Kanal-, Tunnel- und Schleusensystem. Ein anderes erzählt von dem, was nach dem Einbruch und dem Vergessen des umgesetzten Projekts übrig geblieben ist. Er versetzt mich in die Welt des «Was-wäre-wenn». Wirklich übrig geblieben ist, gemessen an seinen Ideen, nicht viel, ausser einem Strassennamen in einem Aussenbezirk Roms, einigen Bauwerken in Rio und einer Unzahl von städtebaulichen Visionen und Plänen. So entwarf Pietro Caminada schon 60 Jahre vor Baubeginn Pläne für die neue Hauptstadt Brasilia.

9783037620540_1455901557000_xxlAlles andere in den Schatten stellend ist Caminadas Plan einer Wasserstrasse über den Splügen. Der gesamte Wasserweg hätte zwischen Genua und Basel 591 km betragen, 230 km auf Seen und Flüssen, 30 km in doppelten Galerien, 43 km in Röhrensystemen und der Rest in offenen Kanälen. Doch obwohl man Projekt und Ingenieur mit viel Zustimmung und Anerkennung begegnete, wurde das Projekt wohl hauptsächlich aus Geldmangel nie umgesetzt. Nicht zuletzt waren es aber Kriege, die eine Umsetzung verunmöglichten.

Anita Siegfried begleitet den Ingenieur Pietro Caminada zusammen mit seiner Familie bis ins hohe Alter, bis in jene Zeit, als Schwarzhemden in einem faschistischen Italien seine Ideen gänzlich entfremdeten.

Schön, dass mit Anita Siegfrieds Roman «Steigende Pegel» ein Buch des Verlegers Ricco Bilger den Weg ans Literaturfestival Leukerbad findet, einem Bücherfest, das mit Rico Bilger begann. (Homepage Literaturfestival Leukerbad)

imgresAnita Siegfried studierte Archäologie und Kunstgeschichte in Zürich. Auslandaufenthalte nach dem Studium führten sie u.a als Stipenditatin des Istituto Svizzero nach Rom. Später arbeitete sie für ein Projekt des Schweizerischen Nationalfonds und bei der Kantonsarchäologie Zürich. Seit 1994 ist sie freischaffende Autorin. Es entstanden zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, Hörfolgen und drei Romane. Die Autorin lebt in Zürich.

Anita Siegfried ist Gast am Literaturfestival in Leukerbad.vs_literaturfestival_over

Homepage der Autorin

Literaturfestival Leukerbad

Barbara Köhler «Istanbul, zusehens», Lilienfeld Verlag

Die Autorin und Textkünstlerin Barbara Köhler hielt sich Anfang 2014 für fünf Wochen in Istanbul auf. In ihrer Montage aus Texten und beiläufig entstandenen Fotografien zeigt sich ein ganz besonderes Portrait der Stadt am Bosporus, «das beeindruckende Resultat einer einer überwältigenden visuellen und sprachlichen Inspiration», so die Kulturstiftung NRW.

Wer so wie ich unvoreingenommen zu lesen und zu blättern beginnt, noch nichts gelesen und gesehen hat von der Autorin Barbara Köhler, sieht und liest mit den Augen einer Jungen, ist überrascht über die Liebeserklärung an die Metropole zwischen den Meeren:

Gedicht 3 j 1


«ICH HAB NOCH EINEN KOFFER IN
Existanbul. In Realistanbul?!
Oder etwas gar in Aoristanbul?
Optimistanbul: Futuristanbul!
Pessimistanbul Fatalistanbul:
Polizistanbul und Tristanbul.
Spezialistanbul. Egoistanbul,
Solistanbul und Touristanbul.
So: Resitanbul! Artistanbul!»

 

Sowohl im Blick wie in der Sprache liegt nicht nur die Faszination für die Stadt, sondern auch auf die Gegenwart mit Gewalt, Unterdrückung und dem Totalitarismus eines türkischen Staatsoberhauptes. Barara Köhler knippst, sieht nicht als Touristin, schaut über das blosse Schauen hinaus.

«Auch wenn es kein Wort für Stille gibt
gibt es Stille auch wo es keine Stille
gibt gibt es sie: die grauen Löcher inGedicht 3 j 2
den Bildern Leerstellen Lücken Verlust
anzeigende Fürwörter Wörter die fehlen
und das Gefühl dafür: dass etwas nicht
da ist, dass es da leer ist, dass sich
nichts zeigt; dass nicht brauchbar ist
worüber du verfügst sich nicht fügt in
die klaffenden Fugen: zum Zusammenhalt
von Lücken und Lügen, zu einer perfekt
abgelichteten Oberfläche in eine reine
Zweidimensionalität: ins Bild. Es steht
weder fest noch zur Verfügung es steht
offen: steht dir offen (und also nicht
zu) – es sagt was du nicht weisst nicht
verstehst ist das Fremde das Raum gibt

Osmanische Sprachkacheln, die es unbedingt laut zu lesen gilt!

Jury des Peter-Huchel-Preises 2016: «Das Zusammenspiel von Sprache und Bild stiftet eine poetische Genauigkeit, in der mit Emphase und Empathie die Topographie der Stadt erkundet wird. Ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Fremdheit am Bosporus zeigt, dass es keine Unschuld des Blicks gibt, aber dass die Betrachterin immer schon teilhat am Gesehenen. Ein raffiniertes Netz von Sprachbildern und Bildsprache knüpft einen fliegenden lyrischen Teppich, der ganz selbstverständlich im Alltag auch die Wucht des Politischen einfängt.“

Barbara Köhler ist Gast am Literaturfestival Leukerbad.vs_literaturfestival_over

 

Peter Stamm liest aus «Weit übers Land»

«Wenn wir uns trennen, bleiben wir uns.» Ein Satz aus «Zündels Abgang» von Markus Werner steht als Zitat dem Roman vorangeschrieben. Dieser eine Satz ist der Geist des Romans. Auch wenn es vordergründig die Geschichte eines Mannes ist, der seine Frau, seine Familie im Stich lässt, ist es die Geschichte einer Liebe.

Peter Stamm ist Spaziergänger, Geher, ein Umherzieher, einer mit Papier und Stift, der morgens weggeht von seinem Zuhause. Da braucht es nur wenig, um sich vorzustellen, eben nicht nach Hause zurückzukehren. Sonst sei er nicht aufgeregt, aber an diesem Abend schon, genau zweimal auf seiner Lesereise; in seinem Dorf (Weinfelden), in dem er aufwuchs und in Winterthur, wo er mit seiner Familie lebt und man ihn als Peter Stamm kennt.
Sein Roman ist weder Gesellschaftskritik noch Sozialdrama, will weder Meinung noch Absicht einschieben. Als Spaziergänger ist er der Beobachter in der Tradition vieler anderer Autoren, nicht zuletzt der des grossen Spaziergängers Robert Walser. Er ist ein Schreiber nach innen, so wie die Blicke Astrids und Thomas in seinem Roman auch gegen innen gerichtet sind. Er malt so lange mit kühlen Farben, so genau bis in die Schatten, dass das Bild löchrig wird, die wohl komponierten Bilder und Personen Risse bekommen, zu zerfallen drohen. Auch die Landschaften sind der Idylle entglitten, immer in den Randzonen der Zivilisation, in Lederschuhen oder mit einem neuen Rucksack voller Eingeschweisstem durch den Wald. Die Geschichte von einem, der aufbricht, nicht nur auf den Weg geht, weg geht, aufbricht aus seinem eingeschlossenen IMG_0500Innern. Ein Bruch mit allem Gewohnten, dem Warmen, auch der verlorenen Liebe, die irgendwie noch vorhanden ist, aber nicht mehr so, wie sie sein sollte. Astrid, seine Frau, ist genauso eingeschlossen durch Gewohnheit und den Trott des Lebens, die Liebe ohne Leidenschaft, sie die Vernünftige, die Besonnene, die Mutter von zwei Kindern, verunsichert darüber, ob sich nicht schon lange fremdes Leben einschlich, das man schlummernd mit sich herumtrug. Unaufgeregte Leben, die zum Aufbruch kommen.
«Verwöhnt» durch Literatur, die zu viel erklärt, ist «Weit übers Land» ein Roman, der vieles offen lässt, sich vor Erklärungen hütet. Auch das Leben erkläre nichts und sei kompliziert genug. Durch das Gehen, das Weggehen, bleibt die Welt wie sie ist, der Moment vor der Trennung wie eingefroren. «Wenn wir uns trennen bleiben wir uns.»

Organisiert wurde die Lesung mit Peter Stamm von der «Literarischen Vereinigung Winterthur», die im Jahr 2017 ihren 100. Geburtstag feiern wird. Die Moderatorin des Abends Barbara Tribelhorn versprach für das Jubiläumsjahr literarische Hochgenüsse in der Stadt. Ich freue mich.

Peter Stamm «Weit übers Land», S. Fischer Verlag, Webseite des Autors
Webseite der Literarischen Vereinigung Winterthur