Barbara Köhler «Istanbul, zusehens», Lilienfeld Verlag

Die Autorin und Textkünstlerin Barbara Köhler hielt sich Anfang 2014 für fünf Wochen in Istanbul auf. In ihrer Montage aus Texten und beiläufig entstandenen Fotografien zeigt sich ein ganz besonderes Portrait der Stadt am Bosporus, «das beeindruckende Resultat einer einer überwältigenden visuellen und sprachlichen Inspiration», so die Kulturstiftung NRW.

Wer so wie ich unvoreingenommen zu lesen und zu blättern beginnt, noch nichts gelesen und gesehen hat von der Autorin Barbara Köhler, sieht und liest mit den Augen einer Jungen, ist überrascht über die Liebeserklärung an die Metropole zwischen den Meeren:

Gedicht 3 j 1


«ICH HAB NOCH EINEN KOFFER IN
Existanbul. In Realistanbul?!
Oder etwas gar in Aoristanbul?
Optimistanbul: Futuristanbul!
Pessimistanbul Fatalistanbul:
Polizistanbul und Tristanbul.
Spezialistanbul. Egoistanbul,
Solistanbul und Touristanbul.
So: Resitanbul! Artistanbul!»

 

Sowohl im Blick wie in der Sprache liegt nicht nur die Faszination für die Stadt, sondern auch auf die Gegenwart mit Gewalt, Unterdrückung und dem Totalitarismus eines türkischen Staatsoberhauptes. Barara Köhler knippst, sieht nicht als Touristin, schaut über das blosse Schauen hinaus.

«Auch wenn es kein Wort für Stille gibt
gibt es Stille auch wo es keine Stille
gibt gibt es sie: die grauen Löcher inGedicht 3 j 2
den Bildern Leerstellen Lücken Verlust
anzeigende Fürwörter Wörter die fehlen
und das Gefühl dafür: dass etwas nicht
da ist, dass es da leer ist, dass sich
nichts zeigt; dass nicht brauchbar ist
worüber du verfügst sich nicht fügt in
die klaffenden Fugen: zum Zusammenhalt
von Lücken und Lügen, zu einer perfekt
abgelichteten Oberfläche in eine reine
Zweidimensionalität: ins Bild. Es steht
weder fest noch zur Verfügung es steht
offen: steht dir offen (und also nicht
zu) – es sagt was du nicht weisst nicht
verstehst ist das Fremde das Raum gibt

Osmanische Sprachkacheln, die es unbedingt laut zu lesen gilt!

Jury des Peter-Huchel-Preises 2016: «Das Zusammenspiel von Sprache und Bild stiftet eine poetische Genauigkeit, in der mit Emphase und Empathie die Topographie der Stadt erkundet wird. Ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Fremdheit am Bosporus zeigt, dass es keine Unschuld des Blicks gibt, aber dass die Betrachterin immer schon teilhat am Gesehenen. Ein raffiniertes Netz von Sprachbildern und Bildsprache knüpft einen fliegenden lyrischen Teppich, der ganz selbstverständlich im Alltag auch die Wucht des Politischen einfängt.“

Barbara Köhler ist Gast am Literaturfestival Leukerbad.vs_literaturfestival_over

 

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