Andreas Maier «Der Kreis», Suhrkamp

Andreas Maier ist ein Meister der Sprache. Wer ihn und sein Schreiben mag, ist vorsichtig, wenn es ums Weiterempfehlen seiner Bücher geht. Dieses Geschenk ist zu kostbar, als dass es unverstanden und ungeliebt weggelegt werden darf!

In seinem neuen Buch «Der Kreis» erzählt Andreas Maier aus seiner Kindheit, nicht wirklich in Romanform, schon gar nicht chronologisch. Sein Grossprojekt ist mit «Der Kreis» einen Band weiter. Der Gang durch seine Heimat wird schlussendlich 11 Bände umfassen, eine Familiensaga aus der Wetterau, ein Selbstportrait, mit viel Fiktion sehr ernst genommen, ein autobiographischer Zyklus. Eine Ich-Figur, die allzu oft mit dem Autor Andreas Maier verwechselt oder gleichgesetzt wird, ein fiktionaler Kosmos angelehnt an die Realitäten der Vergangenheit, ohne Handlung, die den Autor «nur langweilt». Seit Beginn des gross angelegten Projekts stehen die Tiel der 11 Bände fest, der Setzkasten, der aber noch leer ist. Die Romane sind viel mehr eine Ortsbegehung, geographisch und psychologisch, familiär und gedanklich, erzählerische Essays, die mit der vom Verlag aufgesetzten Bezeichnung «Roman» allzu sehr Geschichten erwarten lassen. Mit seinen Büchern will Andreas Maier seine Fragen beantworten, im Roman «Der Kreis» unter anderem die Frage nach der Kunst, was sie sein soll. Maier ist Analytiker und Beobachter seines kindlichen Ichs. Das Buch beginnt mit Streifzügen durch die Bibliothek seiner Mutter, Streifzüge eines Siebenjährigen, der die Welt aus Versatzstücken zu verstehen versucht, schon damals tastend auf der Suche nach dem Kern. Andreas Maier beschreibt das Lesenlernen einer Welt, von innen nach aussen mit den Augen und dem Verstand eines Jungen. Schon spannend deshalb, weil Maier bewusst macht, wie viele Spekulationen die Welt der Erwachsenen bei Kindern provozieren.

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Auf dem Literaturmarkt wird verlangt, mindestens alle zwei Jahre ein Buch zu schreiben, möglichst einen Roman, möglichst dick (aufgetragen). Möge er wenn möglich, auf eine der Long- und Shortlists kommen. Andreas Maier aber will nicht Bücher um jeden Preis «heraushauen». Sein Buch, sein Projekt entzieht sich den gängigen Mustern der Buchmode, erfrischend. «Ich hörte auf, Romane zu schreiben und begann einfach zu schreiben, ohne zu enden, zumindest vorläufig.» Mag sein Projekt manchem wie ein Hamsterrad erscheinen, Andreas Maier taucht mit jedem Band neu, nicht mit dem Anspruch einer Chronologie, erzählt die Figur, dieses Ich immer wieder neu. Es müsse «entstehen», eine Tür aufgehen, zu dem, was er schon lange erzählen wollte. «Es kommt drauf an, was ich nicht erzähle, damit es funktioniert.» Seine Bücher sind «Krankheits- und Glaubensgeschichte», eine Grundlagenklärung, im Wissen darum, welches Privileg er geniesst, als Schriftsteller leben zu können.

Wenn Andreas Maier liest, sind es durchaus Geschichten, aber kleine Geschichten, genauso als sässe er bei einem Glas Weisswein (!) am Tisch mit anderen und würde erzählen, mal dies, mal das. Verstärkt durch die Gestik während des Lesens, seine Rechte, die seinen Vortrag zu dirigieren scheint.

3056_maier_andreasAndreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier wohnt in Hamburg.

Liest Zürich? Bestimmt Christian Kracht!

An 5 Tagen 180 Veranstaltungen rund um das Buch in Zürich, Winterthur und Umgebung. Klar, man sah einige Fahnen, Plakate – aber liest Zürich? Sieht man an diesen Tagen mehr Menschen in Zürich, die mit Buch oder eBook sitzen, stehen oder liegen und sich wegtragen lassen?

Liest Zürich, wenn ein Autor von Wien nach Winterthur reist, um aus seinem neuen Roman vorzulesen und es sitzt ein knappes Dutzend da und hört zu? Liest Zürich, wenn Christian Kracht im neuen Auditorium des Landesmuseums liest und der grosse Saal bis auf den letzten Platz proppenvoll ist? Sind das Leserinnen und Leser oder bloss solche, die eine Nase voll von dem mitbekommen wollen, was in den Medien rund um Christian Kracht breitgeschlagen wird? Spüre ich da leise Enttäuschung, wenn Christian Kracht bloss liest, erst noch lange und sich schlussendlich freundlich vor dem Publikum verbeugend, so gar nicht spektakulär? Nichts und niemanden niederreisst? Nicht der kleinste Disput, nachdem man ihn in der Kritik aus lauter Irritation und Verunsicherung entweder in den Himmel lobte oder als Machwerk zerriss.

Liest Zürich? Wahrscheinlich ebenso selten wie der Rest der Schweiz. Umso löblicher, dass «Zürich liest» so viele potente Partner mit ins Boot holen konnte, die ein solches Festival mit so vielen Veranstaltungen, Veranstaltungsorten und Akteuren überhaupt durchführen konnte. Umso schöner, dass man sich nicht entmutigen lässt und das Tram weiterhin mit Autoren und Publikum durch die Stadt fahren lässt, das Schiff auf dem See, Sofalesungen veranstaltet und grosse Namen der Literatur einlädt, wie den Niederländischen Erfolgsautor Arnon Grünberg, den Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino oder die indisch-französische Autorin Shumona Sinha, die mit dem Roman «Erschlagt die Armen» nicht nur literarisch für Schlagzeilen sorgte. Und eben Christian Kracht.

© Frauke Finsterwalder 2016
© Frauke Finsterwalder 2016

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren und schon mit seinen Romanen «Faserland», «1979», «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» und «Imperium» in 30 Sprachen übersetzt und von der Kritik heftig besprochen, veröffentlichte diesen Herbst seinen neuen Roman «Die Toten». Ein Roman, der in den Jahren der Weimarer Republik spielt, wo der Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli beauftragt wird, eine cineastische Gegenkraft, eine vereinte Achse zwischen Deutschland und Japan zu formieren gegen die beginnende Übermacht des boomenden Hollywood-Imperiums. Aber weil Christian Kracht Christian Kracht ist, geht es dem Autor in seiner Literatur nicht um den Transport einer Geschichte. Literatur soll 9783462045543Kunst sein, Kunstwerk. Bei jeder anderen Kunstgattung ist die mögliche Provokation mit eingeschlossen. Und ausgerechnet in der Literatur gibt man sich dupiert, ja fast beleidigt, wenn man als Leser und erst recht als Kititker verunsichert wird. Dabei sind Autoren wie Christian Kracht genau das, wonach es schreit; Autoren, die wagen, die verunsichern, irritieren, vielleicht sogar polarisieren. Und die Kritik ist irritiert. Irritiert von der Geschichte, weil sich Christian Kracht nicht um Konventionen und Gepflogenheiten zu kümmern scheint. Irritiert vom Ton, der sein Schreiben so eigen-artig macht. Irritiert, weil man vergeblich nach einer Message sucht, weil Verunsicherung zum Programm gehört. Irritiert, weil sich Christian Kracht auch schon nach seinem letzten Roman «Das Imperium» nicht um die kruden Behauptungen eines Spiegelberichts kümmerte, der seinem Schreiben einen Rechtsdreh andichten wollte.

Christian Kracht las fast 90 Minuten im unterkühlten Neubau des Landesmuseums, mit Mantel und Schal. Und es lauschten alle, weil jeder, der lauschte, spürte, dass da etwas Spezielles klingt.

Ich freue mich, wenn Zürich wieder liest, im Herbst 2017.

 

 

Christoph Ransmayr «Cox oder Der Lauf der Zeit», S. Fischer

«Fuck, sagte Jakob Merlin, ein bisschen sei ihr Leben hier doch wohl, als strampelten sie allesamt nur selber wie die mechanischen, von unsichtbaren Zahnrädchen angetriebenen Figuren eines Automaten dahin, als atmende Verzierungen einer Maschine, die von Mechanikern kontrolliert und gesteuert wurde, deren Bräuche denen eines anderen Sterns entsprachen; unbegreiflich.»

Der Londoner Uhrmacher Alister Cox wird zusammen mit seinen Gefährten vom chinesischen Kaiser Qiánlóng in die purpurne Stadt Zi jin chéng eingeladen. Alister Cox, der die lange Reise nach China antritt mit dem Schmerz über eine viel zu früh verstorbene Tochter und eine in ihre Stummheit verlorenen Frau, soll abgeschottet in der Verbotenen Stadt Uhren ganz nach den Vorstellungen des allmächtigen, gottähnlichen Kaiserfürsten bauen. Uhren, die nicht einfach die Zeit messen und Spielzeug für den Unermesslichen sein sollen, sondern Lebensuhren; Zuerst eine Uhr, die die Lebenszeit eines Kindes spürbar machen soll. Dann eine Uhr für Todgeweihte und zuletzt ein Uhrwerk, dass die Ewigkeit messen kann. Alister Cox und seine Begleiter tauchen in eine fremde, bizarre Welt der Gegensätze; auf der einen Seite die der überbordenden Sinnlichkeit des Schönen und auf der anderen Seite die Perfektion der Brutalität in der Strenge des chinesischen Imperators. Zudem ist es die Suche eines Mannes, der seine viel jüngere Frau an ihr Schweigen und die Angst vor Berührungen verlor, nachdem die einzige Tochter mit fünf Jahren starb. Ein Mann, der mit der langen Reise an die andere Seite der Welt Nähe in der Distanz zu gewinnen hofft. Erst recht, als er in den kurzen Begegnungen mit einer Konkubine des Kaisers seine Frau und sein Kind wie durch einen Spiegel zu erkennen glaubt. Die Männer mit Alister Cox schrauben und feilen an der perfekten Maschine, am «perpetuum mobile», in einem Palast, in dem «alles nach den Gesetzen und Proportionen des Sternenhimmels vermessen und gebaut, ein bis auf Herzschläge, Atemzüge und Kniefälle geregeltes, höfisches Leben nicht anders umfasste, als ein ziseliertes Gehäuse das Räderwerk einer Uhr».
Qianlong_Empress_(2)Christoph Ransmayrs Absicht war mit Sicherheit nicht einen historischen Roman zu schreiben. Christoph Ransmayr bedient sich der Historie, um vom Dilemma des schöpferischen Menschen zu schreiben. Davon, dass man am einen Ende erschafft, um am anderen Ende zu zerstören. Davon, dass es bei all den vielen Reisen, die der Autor unternimmt, nicht ums Verstehen geht. Ransmayr beschreibt, geschult durch den Blick des Nomaden, wie durch Kraft und Leidenschaft das scheinbar gleichmässige Ticken der Zeit ins Stocken geraten kann, auch durchaus beabsichtigt.
Christoph Ransmayr will nicht abbilden und nacherzählen, ist nur insofern an Geschichte interessiert, als dass sie zur Bühne seines Erzählers wird. Und auf dieser Bühne ist die Hauptperson die Sprache, der wuchtige Klang seiner Sätze, jene Sprache, die genau dort hineinpasst, in jene von Seide, Farben, Figuren, Diamanten, Gold und Edelsteinen durchsetzten Kunstwelt rund um einen entrückten Gottmenschen.
Ein Roman mit satten Farben und klaren Strichen, über Masslosigkeit und das Geheimnis der Zeit.

AF_Ransmayr_Christoph__0901_Druck.jpg.34712914Christoph Ransmayr (1954) wuchs als Sohn eines Volksschullehrers auf. Er besuchte das Stiftsgymnasium der Benediktiner in Lambach und studierte von 1972 bis 1978 Philosophie und Ethnologie. Seit 1982 ist er freier Schriftsteller, lebt in Wien und Irland. Sich selbst bezeichnet er als «Halbnomaden» aufgrund seiner vielen Reisen. Ransmayr verbindet in seiner Prosa historische Tatsachen mit Fiktionen. Charakteristisch für Ransmayrs Romane sind die Schilderung grenzüberschreitender Erfahrungen, die literarische Bearbeitung historischer Ereignisse und deren Verknüpfung oder Brechung mit Momenten aus der Gegenwart. Die Verbindung von spannenden Handlungen und anspruchsvollen Formen haben vor allem in seinen ersten beiden Romanen «Die Schrecken des Eises und der Finsternis» und «Die letzteWelt» viel Lob eingebracht.

Am 22. November liest Christoph Ransmayr im Kaufleuten in Zürich. Moderiert wird die Veranstaltung von Martin Ebel, Literaturredaktor beim Tages-Anzeiger.

Webseite über Christoph Ransmayr

13. Frauenfelder Buch- und Druckkunst Messe

Wer den Geruch von Druckerschwärze liebt, wer gerne mit der Hand über verschiedenste Papiere streicht, wer Drucke schätzt, die von Idealisten produziert werden, denen Druckerzeugnisse Herzensangelegenheiten sind, der ist am 4. – 6. November richtig im Eisenwerk in Frauenfeld!

hpm2016-plakat-klDass das besondere Buch, der Schriftsetzer und Buchdrucker, die Handbuchbinderei und Handpressendrucker noch nicht ausgestorben sind, beweist die Frauenfelder Buch- und Druckkunstmesse mit jedem Mal, dieses Jahr zum 13. Mal, und jedes Mal mit Nachdruck!

Freitag, 4. November 2016:

  • 11 Uhr Messeeröffnung mit Beat Brechbühl, Schriftsteller, Dichter, Schriftsetzer und «Spirtus rector» der Messe
  • Eröffnung der Ausstellung «dada ist 100» mit Beat Brechbühl und Marc Berger
  • 11 bis 18.30 Uhr Ausstellung, Demonstrationen in zwei Hallen

Samstag, 5. November 2016

  • 11 bis 18.30 Uhr Messebetrieb
  • ab 18 Uhr Apéro im Foyer des Eisenwerks mit der Musikerin Nicole Johänntgen am Saxophon
  • ab 19.30 Uhr Ausstellerabend mit Spaghettiplausch im Salon Rouge

Sonntag, 6. November 2016

  • 11 – 16 Uhr Messe, Ausstellung, Verkauf, Demonstrationen in beiden Hallen

Klaus Merz «Helios Transport», Haymon

«Unser Leben besteht aus Alltag. Meine Literatur soll den Alltag neu oder mit einer kleinen Verschiebung der Wahrnehmung sehen. Überhaupt ist das eine wesentliche Aufgabe der Kunst; die häufig abgenutzte Wahrnehmung des Alltags rückgängig, den Alltag wahrnehmbarer machen.»

7272-jpg-thumb-380x550-keepratioKlaus Merz neuer Gedichtband «Helios Transport» tut genau das. Klaus Merz folgt seiner Spur seit mehr als 50 Jahren, seit seinem ersten Gedichtband «Mit gesammelter Blindheit», der 1967 noch in St. Gallen erschien. Klaus Merz schreibt noch immer gegen Blindheit an, formuliert als Sehender und Beobachter Texte, die einem durchaus die Augen öffnen, den Nebel der Gewohnheit wegreissen können. Die Gedichte in seinem neuen Buch sind Konzentrate. Helios ist der griechische Sonnengott, der den von vier Hengsten gezogenen Sonnenwagen über den Himmel lenkt. Klaus Merz bringt Licht, «transportiert Lasten aller Art» auf seine ganz eigene Weise. Seine Lyrik ist die eines gereiften Mannes, der es versteht, einen Blick hinter das Wesen der Dinge zu werfen, oft nur einen ganz kurzen Blick, dafür entlarvend, in die Tiefe. Seine Gedichte, eines jeden Morgen auswendig gelernt, können dem Tag ein anderes Licht aufsetzen, den Brennpunkt ganz leicht verändern, korrigieren. Blitzlichter in die Gegenwart, manchmal nur drei Zeilen, nicht einmal 10 Wörter lang. Blitze, die Türen öffnen, Kleinstbeobachtungen, die das scheinbare Grau und Einerlei des Alltags mit einem Mal erhellen, in helle Farben tauchen. Substrate, die wie lyrisches Antidepressivum wirken. Texte, die weit entfernt vom online-Gebabbel und reissenden Schlagzeilen über Nichtigkeiten beweisen, was Sprache als Kunst bewirken kann: Glück! Klaus Merz Gedichtband ist ein Manifest des Sehens!

Kind of Blue

Bei Einbruch der Nacht

die Unerschütterlichkeit der Dinge
gewahrend, wandte ich mich
wieder dem Fenster zu:
Da lag noch ein Klang in der Luft
der nur uns Sterblichen galt.
Ein hörbares Blau.

"Hörbares Blau", Pinselzeichnung des Künstlers Heinz Egger (mit Erlaubnis des Künstlers wiedergegeben)
«Hörbares Blau», Pinselzeichnung des Künstlers Heinz Egger
(mit Erlaubnis des Künstlers wiedergegeben)

Seit mehr als 20 Jahren erscheinen Klaus Merz Bücher beim Innsbrucker Verlag Haymon, illustriert vom Burgdorfer Künstler Heinz Egger. Über die Jahre muss aus der Zusammenarbeit der beiden Künstler eine Freundschaft geworden sein, spürbar in den wunderschön gestalteten Büchern, die Gesamtkunstwerke geworden sind.

merz_foto_davidzehnder-jpg-thumb-380x550-keepratioKlaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm in der Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005 sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016), Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012).

Klaus Merz liest am Sonntag, den 30. Oktober um 17 Uhr in der Kirche Linsebühl in St. Gallen. Begleitet wird er vom Organisten Rudolf Lutz.

Unterkulm Nord

Mit der Strassenbahn
passieren wir das Verlangen.
Ohne Halt.

(Ich danke dem Verlag für die Erlaubnis, zwei Gedichte zu veröffentlichen!)

Wilhelm Genazino «Ausser uns spricht niemand über uns», Hanser

«Ich wurde das Gefühl nicht los, dass meine Art zu denken zu einem Siebzehnjährigen passte, zu einem erwachsenen Mann aber nicht.» Zumindest diese Erkenntnis holt den Protagonisten am Schluss des Romans «Ausser uns spricht niemand über uns» ein. In Wilhelm Genazinos neuem Buch dreht  sich das Geschehen um genau jene Sorte Protagonist, der keine Sympathie abverlangt, auch gar nie einen Versuch in diese Richtung wagt.

Er wohnt am Stadtrand, seine Freundin in der Stadtmitte. Man trifft sich mal hier, mal dort. Sein Bett ist breiter, ihre Wohnung aufgeräumter. Er ist nicht arbeitslos, geht aber auch keiner geregelten Arbeit nach, hangelt sich als abgehalfterter Schauspieler von Engagement zu Engagement, mal als Stimme im Funkhaus, mal als Rezitator launiger Ehegedichte bei irgend einer Hochzeit. Er sehnt sich nach Bedeutsamkeit, bleibt aber haften bei der Sehnsucht danach, froh darüber, bis jetzt vor «der Vernutzung des Lebens» bewahrt worden zu sein. Ein ewig Unentschlossener um die 40, der in seinem wohlig warmen Alltag herumdümpelt. Ein Typ, dem ich  während des vergnügten Lesens gerne öfters einen Tritt in den Hintern versetzt hätte. Nicht weil er ein Müssiggänger oder faul wäre, sondern weil es der Protagonist meisterlich versteht, seine Umgebung nach seinen Bedürfnissen ein- und auszurichten. Einer jener Sorte Mensch, der selbst durch «Schicksalsschläge» und mehr als deutliche Seitenhiebe nicht gezwungen werden kann, einen Blick über die eigene Nasenspitze hinauszuwerfen. Da wird Carola, seine Freundin, schwanger, wenn auch nicht sicher, eher Genazino_25273_MR1.inddunwahrscheinlich von ihm, aber so doch in seiner Nähe. Aber Carolas Schwangerschaft ist wie eine Schlechtwetterlage. Sie geht vorbei, schmerzhaft für Carola, fast ungerührt bei ihm. Ein Protagonist, der sich vor nichts mehr fürchtet als vor Zuständen und Dingen, die nicht sind, vor allem und im Speziellen vor dem «beginnenden Alter». Carola und er scheinen sich irgendwie zu verstehen. Was längst nicht bedeuten muss, dass es auch etwas zu reden gäbe. Was er als noble Distanz zu erklären weiss, ist in Wahrheit die Angst davor, sich mit allem Gegenüber zu sehr zu verstricken. Eine Partnerschaft, selbst eine Liebe, ist bloss Arrangement, nicht mehr, eine Zweckgemeinschaft der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung, die sich unter Umständen auch aufzwingen lässt. Selbst die Lust des anderen wird zum drohenden Gewitter, zur Laune der Natur, zur Anomalie der Normalität. «Leider (oder zum Glück) war es uns nicht gegeben, diese Feinheiten hinterher oder am nächsten Tag zu besprechen, was ich an manchen Tagen bedauerte, an den meisten Tagen aber in Ordnung fand, weil ich nicht zu den Menschen gehören wollte, die aus jeglicher Regung zwischen den Geschlechtern eine unausweichliche Sprechstunde machen mussten.»
Man muss den Protagonisten nicht mögen, auf keiner Seite, den Mann, der bloss sich selbst ernst nimmt, sehr, sehr ernst. Das Verlassenwerden von seiner Freundin nimmt er hin wie lästige Kopfschuppen.

Wilhelm Genazino ist Beobachter des Feinen und Unscheinbaren. Der Roman wurde eine Sammlung kleiner Begebenheiten, die vermuten lassen, dass auch der Autor selbst die Kunst des Müssiggangs versucht, wohl das einzige, was er mit dem Protagonisten gemein hat. Gut konstruiert, hat mich das «böse» Buch bestens unterhalten!

genazino_wilhelm_h7_2013Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebt in Frankfurt. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt «Tarzan am Main» (Spaziergänge in der Mitte Deutschlands, 2013), «Leise singende Frauen» (Roman, 2014) und «Bei Regen im Saal» (Roman, 2014).

Wilhelm Genazino liest am 28. Oktober im Rahmen des Literaturfestivals «Zürich liest» in der coalmine in Winterthur. Die Lesung beginnt um 19.30.

(Titelbild: Sandra Kottonau)

9. Hauslesung mit Dominique Anne Schuetz

Am Samstag, 22. Oktober, 2016, las Dominique Anne Schuetz, 2014 mit dem Buch „Die unsichtbare Grenze“ aufgefallen, auch Fotografin und visuelle Künstlerin, aus ihrem 2015 beim Europa-Verlag erschienenen Roman „Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben“.

Eine eindrückliche Hauslesung, eine engagierte Autorin, am Schluss ein leerer Büchertisch, viele Komplimente und einmal mehr das Gefühl, an etwas Besonderem teilgenommen zu haben!
«Ich kam an einen Ort, wo ich noch nie gewesen bin, und als ich ihn verlassen habe, war mir, als wäre er mir schon lange vertraut.» Dominique Anne Schuetz
Dominique Anne Schutz präsentiert ihr Buch, angereichert mit Bildern, Geräuschen und Musik.
Dominique Anne Schutz präsentiert ihr Buch, angereichert mit Bildern, Geräuschen und Musik.
beidseits gute Aussichten
beidseits gute Aussichten
Alle Bücher verkauft und signiert!
Alle Bücher verkauft und signiert!

Nachdem ich Dominique Anne Schuetz bei den vorbereitenden Gesprächen gefragt hatte, ob sie auch bereit wäre, etwas von ihren Bildern zu zeigen, brachte sie nicht nur ihre Bücher, sondern auch eine kleine, eindrückliche Auswahl ihrer bildnerischen Werke vorbei.

Dreiteilig, je 40 x 30 cm, Sujet 7up je 50 x 70 cm | Zeichnung, Fotografie und Short Story | Das Produkt eröffnet den Dreiakter, die Fotografie ist Schauplatz und Kulisse, in der Short Story betritt der Mensch die Bühne.
Dreiteilig, je 40 x 30 cm, Sujet 7up je 50 x 70 cm | Zeichnung, Fotografie und Short Story | Das Produkt eröffnet den Dreiakter, die Fotografie ist Schauplatz und Kulisse, in der Short Story betritt der Mensch die Bühne.

«Leseort: Ein sonniger Literatursalon in Amriswil mit Sofas, Sesseln, einem Klavier und einer beeindruckenden Bücherwand.
Gastgeber: der Literaturfreak vom Kanton Thurgau und seine charmante Frau.
Anwesend: Literaturfans, Büchernarren, Leseratten und mehr Männer als erwartet.
Literarische Mission: Vorstellen meines vierten Romans.
Es war ein wunderbarer Tag mit einem tollen Publikum, das aktiv meinem Ton-Bild-und-Lesevortrag gefolgt ist. Und danach? Natürlich haben wir geschwatzt. Über Bücher, Kritiker, Autoren und Verleger, aber auch über Musik (Diana Krall, Kem, Madeleine Peyroux …), Kunst, Künstler und Galeristen. Und wir haben feine Biowurst aus Österreich und würzigen Schweizer Käse gegessen, Rot- und Weisswein getrunken, Öpfel- und Bireschnitz verputzt, uns in der Hollywoodschaukel geräkelt, die unerwartete Oktoberhitze genossen und das noch nicht ganz fertige Enkelkind begrüsst.
Vielen herzlichen Dank Irmgard und Gallus und allen, die sich auf den Weg nach Amriswil gemacht haben!
Dominique»

Vielen Dank an Dominique Anne Schuetz!

Esther Kinsky «Am kalten Hang viagg› invernal», Matthes & Seitz

Man möchte Samthandschuhe anziehen. Nicht weil die Autorin ohne solche nicht fassen zu wäre. Aber der Lyrikband «Am kalten Hang» der in Berlin und Battonya (Ungarn) lebenden Dichterin ist ein geheimnisvoll schimmerndes Juwel. Gedichte, die ich laut und mit viel Hall ins Tal rufen möchte, andere leise unter der Bettdecke flüstern.

Ich mag Gedichtinterpretationen nicht, bin mit Sicherheit verbrüht. Aber wenn ich Gedichte lese, ist es wie mit Annäherung an anspruchsvolle Musik, die mir dann doch auf Anhieb gefallen muss, erst einmal ohne Deutung und Hinterfragen.

Esther Kinsky bringt auf Anhieb etwas zum Schwingen, zwingt mich, ihre Gedichte immer wieder zu lesen, einzelne Gedichte laut, so laut, dass andere Fahrgäste im Zug den Kopf zu mir drehen. Esther Kinsky ist Dichterin, führt Selbstgespräche über Leid, Fremdsein und Tod.
Aber warum denn mit Samthandschuhen? Zugegeben, ich besitze eine tief sitzende Affinität für Bücher, die zumindest für mich in ihrer Ganzheit bestechen. Was der Berliner Verlag Matthes & Seitz mit den 24 kurzen Gedichten und dem einen langen Poem vollbrachte, ist Kunstwerk in vielerlei Hinsicht. Auf dickes Papier gedruckt präsentieren sich die Gedichte wie auf geprägte, weisse Tafeln. Und die gegenüber gestellten Illustrationen des Künstlers Christian Thanhäuser wirken wie Kippbilder, unterstreichen, was die Dichterin mit ihrer Sprache zu erzeugen vermag; genaues Hinhören und Hinschauen!

Esther Kinsky, gezeichnet von Kat Menschik
Esther Kinsky, gezeichnet von Kat Menschik

Esther Kinsky, geb. 1956, ist Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen (u.a. Henry D. Thoreau, Lob der Wildnis). 2009 war sie für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Paul-Celan-Preis. Seit 2010 sind drei Gedichtbände erschienen: die ungerührte schrift des jahrs (2010), Aufbruch nach Patagonien (2012) und Naturschutzgebiet (2013). 2014 veröffentlichte sie den Roman Am Fluß, der ebenso wie ihr Roman Banatsko (2011) auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stand, und 2015 mit dem deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis ausgezeichnet wurde.

Das 33. Literaturblatt ist druckfertig!

Liebe Freundinnen und Freunde der Literaturblätter

Die Schar der Empfängerinnen und Empfänger der Literaturblätter wächst stetig. Was zu Beginn eine Idee war, wächst sich zu einer richtigen Serie aus, zu einer Arbeit, zu etwas Besonderem. Die Blätter brauchen Zeit; Zeit zum Lesen, Auswählen, Zeichnen, Schreiben, Drucken, Einpacken, Adressieren und Verschicken. Dass es immer mehr Menschen gibt, die mich dabei mit Komplimenten, Zuspruch, Ermunterungen und Geld unterstützen, freut mich sehr und macht mich stolz.

So ist literaturblatt.ch nicht einfach nur ein Blog, sondern ein Veranstalter, ein Vernetzer, eine Plattform und eine kleines, eigenwilliges Schreibwerk, das so ganz anders ist, als alles andere, was für das gute Buch wirbt.

Zwei Reaktionen auf das 32. Literaturblatt:

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für den schönen Beitrag. Überhaupt gefällt mir Ihre Seite sehr gut, wie auch die Literaturblätter; eine wunderbare Idee, finde ich, Büchern derart fein ein kleines Denkmal zu setzen. Ihnen alles Gute, herzlich grüsst
Ursula Fricker»

«Lieber Herr Frei-Tomic,
haben Sie vielen Dank für Ihr genaues Lesen, auf das ich – und jeder, der veröffentlicht, angewiesen bin. Herzliche Grüße,
Reinhard Kaiser-Mühlecker»

Vielen Dank!

In der Rubrik «Literaturblätter Übersicht» sind alle bisher erschienen Literaturblätter sichtbar. Wer das 33. Literaturblatt mit der Post «old school» zugesandt bekommen möchte, kann dieses bestellen über das Kontaktformular der Webseite,

über gallus.frei-tomic@gmx.ch

oder «old school» per Post:
Gallus Frei-Tonic
Literaturport Amriswil
St. Gallenstrasse 21
8580 Amriswil

Brugger Literaturtage 2016: Franz Dodel «Nicht bei Trost», Edition Korrespondenzen

logogebilde16Seit nunmehr 14 Jahren schreibt der Berner Schriftsteller und Dichter täglich weiter an einem endlosen Poem mit dem Übertitel «Nicht bei Trost». Zumindest bezieht sich der Titel nicht auf sein Unterfangen, viel mehr auf die Art wie er schreibt, wie sich Franz Dodel von seinen Gedanken treiben, wegtreiben, davondriften lässt.

Dabei hat sein Schreiben nichts von Zufälligkeit, orientiert sich streng nach dem Muster der japanischen Haikus; eine fünfsilbige Strophe, gefolgt von einer siebensilbigen, abwechselnd, endlos fortgesetzt, jeweils einige Silben pro Tag. Und ich bin als Leser auch nicht gezwungen, sein Endloshaiku auf der ersten Seite des jeweiligen Bandes zu beginnen. So wie Franz Dodel jeden Tag weiterschreibt, seine Gedanken schlingern und mäandern, kann ich als Leser auch überall einsteigen. Kein Wunder fühlen sich seine wunderschönen Bücher in der Hand wie Stundenbücher an, wie Gebetsbücher, in schwarzes Leder gebunden, jederzeit überall aufzuschlagen, um in Dodels Gedankenwelt einzutauchen. Dodels Unterfangen erinnert mich ans Führen eines Tagebuchs, nur nach strengen formalen Regeln. Betrachtungen, Beobachtungen, Gedanken zu Kunst, Literatur, Religion und vielem mehr, starke Zeilen, tiefe Gedanken, die sich leicht ins eigene Bewusstsein einbrennen. Ein Buch fürs Nachttischchen, wo es aufgeschlagen liegen bleiben soll, um irgendwann wieder zu Wort zu kommen.

Nicht bei Trost. DAS MATERIAL (Installation)
Nicht bei Trost. DAS MATERIAL
(Installation)

Entschwinden bedroht
macht plötzlich keinen Sinn mehr
[31101] ich bleibe wachsam
wie einer der aufmerksam
zuhört obwohl er
das was er hört nicht versteht
ohne da zu sein
bin ich doch ganz und gar da
am Waldrand sind mir
die schwebenden Lichtsäulen
nicht entgangen die
bei tiefstehender Sonne
flimmernden Türme
aus Millionen kleinster
Motten jede ein
um nichts kreisender irrer
hell leuchtender Punkt
und da ist sie wieder die
Freude darüber
eine Gesetzmässigkeit
zu finden niemand
drängt mich sie zu begreifen
es beruhigt mich
dass ich ihr unterliege
es ist als ob ich
mich unter meinesgleichen
widerstandslos von
Nichtigkeit zu Nichtigkeit
mittreiben ließe
ich schiebe die Erwartung
einer Erklärung
immer wieder und weiter
hinaus so dass es
am Zeitrand leicht sein wird mich
zu überraschen

Und nebenbei: Während sich auf der rechten Seite Zeile an Zeile reiht, verdeutlicht Franz Dodel sein Poem jeweils auf der linken Seite mit Erläuterungen und Illustrationen. Sie sind Referenz an all die Geschichten, Bilder, Leben, von denen sich der Autor beim Schreiben umkreisen lässt. Eine Art des Assoziierens. Die strenge Form, das tägliche Schreiben zwingen Franz Dodel zur steten Auseinandersetzung.
Und noch eine besondere Geschichte: Meist schreibt man ein Manuskript und sucht dafür einen Verlag. In Franz Dodels «Fall» war es der kleine Wiener Verlag Edition Korrespondenzen, der auf die Arbeit des Autors aufmerksam wurde und um eine Zusammenarbeit bat, um aus der Spur im Netz ein Buch zu machen.
Inhaltlich, visuell und taktil ein Buch der Sonderklasse! Schön, dass die Brugger Literaturtage 2016 Franz Dodel einluden und mir diese Entdeckung schenkte!

img_0033Franz Dodel, geboren 1949 in Bern, studierte Theologie und schloss ab mit einer Dissertation über die Spiritualität der Wüstenväter. Er arbeitet als freier Autor und als Fachreferent für Theologie und Religionswissenschaften. Die bei der Edition Korrespondenzen erschienen Bände wurden 2004 im Wettbewerb «Die schönsten Bücher der Schweiz» und 2008 als «Eines der schönsten Bücher Österreichs» ausgezeichnet. 2003 erhielt Franz Dodel den Heinz-Weder-Preis für Lyrik.

Webseite des Autors (Franz Dodel verspricht eine Neugestaltung! Ich bin gespannt.)