Herta Müller «Die Lüge ist ein Klettertier», Wortcollagen

Schon erstaunlich. Minuten bevor Herta Müller den Saal im Naturmuseum Basel betritt, murmeln die Wartenden nur noch. Die Leiterin des Literaturhauses Basel Katrin Eckert steht vor den Stuhlreihen und flüstert: «Alles bereit?» Weil da jemand kommt, der alleine duch seine Anwesenheit adelt. Bis auf den letzten Platz besetzt, ausverkauft, in den ersten Reihen ein grosser Teil der Basler Literaturprominenz: Verena Stössinger, Simone Lappert, Rudolf Bussmann, Martin R. Dean und viele mehr.

Zuerst las die Nobelpreisträgerin Herta Müller aus ihrem letzten bei Hanser erschienenen Prosawerk «Mein Vater war ein Apfelkern», las Erinnerungen zu ihrer Kindheit und Jugend in Rumänien, überzeugt davon, eine Autorin dann am besten zu verstehen, wenn man weiss, woher sie kommt. Herta Müller wuchs unter der Diktatur Nicolae Ceaușescu in Rumänien auf, auf dem Land, eng verbunden mit Einsamkeit und den Repressalien eines totalen Überwachungsstaats. Eine Kindheit, in der sie mit sich selbst das Beobachten lernte. Herta Müller las über das Fremdsein, selbst als Kind, von der Angst, «von der Welt gefressen zu werden». Und wenn die Autorin aus ihrer Kindheit liest und erzählt, hört und spürt man, dass die Bilder, aus denen die Autorin heute noch schöpft, damals schon glänzten, wohl noch nicht in abstrakten Worten, aber in konkreten Bildern, die zeugen, wie ein Mädchen mit Geschichten und Bildern im Innern die Welt zu erklären versucht. Selbst ihre Sicht auf die Natur, die Pflanzen, dem einzig wirklich Ästhetischen in einer pseudosozialistischen Umgebung, Pflanzen, die sich nicht um Gewalt und Grausamkeit zu kümmern hatten, sie in keiner Weise kommentierten, schienen sich gegen sie zu verbünden, mit dem Machthaber und seinem Apparat zu kollaborieren.

Herta Müller, eine witzige, sprudelnde, feine Dame in hochhackigen Schuhen, die sich selbst im freien Sprechen auf der Bühne von Pointe zu Pointe hangelt, die ihr entgegenzurollen scheinen, die Lacher und den Applaus geniesst, das Publikum fesselt. Erst recht, wenn sie aufsteht, rückwärts an den Bühnenrand steht und ihre Gedichtcollagen liest, die gross auf eine Leinwand projeziert sind.

Sie habe aus einer Not, zufälltig mit den Collagen begonnen. Viel unterwegs wollte sie Karten schreiben, ein paar Worte an Freunde verschicken. Aber die Ansichtskarten in Rumänien waren derart hässlich, dass sie aus Zeitschriften Wörter und Bilder schnitt, sie zu Collagen klebte und diese auf selber gekauften Karten zu verschicken begann. Buntes Papier aus der grau-in-grauen Welt Runmäniens. Sie begann zu sammeln, farbiges Papier, Bilder und Wörter, viele Wörter, tausende von Wörtern, richtete zuhause einen Wörtertisch ein, der schnell zu klein wurde, kaufte Schachteln und Schubladen, begann alphabetisch zu ordnen, richtete Werkstätten ein, eine mit rumänischen, eine mit deutschen Wörtern. Wenn sie keine Prosa schrieb, sass sie an ihrer Werkstatt, einer Arbeit, bei der «die Wörter von aussen kommen», jedes Wort ein kleines Theater, eine Inszenierung, selbst die gewöhnlichsten, alle ein Unikat. Und dann die Schönheit der farbigen Schnipsel, die Ästhetik eines aufgeklebten Arrangements. Die Arbeit an den Gedichtcollagen gebe ihr Halt, nicht zuletzt darum, weil die Auseinandersetzung mit ihrer Prosa, mit Vergangenheit und Gegenwart, ein schmerzhafter Prozess sei, das Suchen und Kleben ein Ausgleich. Ganz oft entstehe ein Sog, nur schon deshalb, weil sie Wörter findet, denen sie gerne einen Platz geben würde, die sie nicht so leicht einfach in eine Schublade zurückgeben kann. Herta Müller spielt mit Wörtern und Sätzen, begegnet ihnen wie den verschiedensten Pflanzen in einem unendlich grossen Garten. Eine sinnliche Arbeit, ganz anders als die Prosaarbeit am Computer.

Es gibt «Dinge», die nicht erledigt werden können, nicht in einem ganzen Leben, um die sich das Denken ein ganzes Leben lang dreht. Es brauche unsäglich viel Kraft aus einem «beschädigten Leben», das Schreiben notwendig macht, dem Trauma entgegenzutreten, sich nicht zu ergeben.

Wer noch nicht mit dem Lesen Herta Müllers Collagengedicht begonnen hat, kaufe sich eines der Bücher beim Hanser Verlag, schlage es auf, lasse es liegen und wirken. Es besteht akute Ansteckungsgefahr.

Herta Müller eröffnte mit ihrer Lesung das 14. Internationale Lyrikfestival in Basel

 

Nina Jäckle «Warten», kunstanstifter Verlag

Sterne leuchten für den Betrachter verspätet. So wie der Stern der Schriftstellerin Nina Jäckle, den ich einfach nicht sehen wollte am Himmel der Literatur. Aber jetzt, mit einem Mal, mitten in der Lektüre einer langen Reihe im Werk der Autorin, tauche ich ein und bin hin und weg.

Nina Jäckle veröffentlichte 2002 in ihrem ersten Erzählband «Es gibt solche» die Geschichte «Warten». Mehr als 10 Jahre später erschien beim kunstanstifter Verlag zusammen mit der Illustratorin Franziska Neubert «Warten» als Bilderbuch für Erwachsene. Wer Freude an schönen Büchern hat, wer sie auch gerne optisch wirken lässt, Kunst nicht nur auf den Inhalt beschränken will, dem macht dieses Buch auch ein paar Jahre nach Erscheinen noch grosse Freude.

Er ist zuhause, in seiner Wohnung, allein. Ein Mann in einer Stadt, an einer Strasse, in einem Haus, einem Stockwerk, einer Wohnung, in drei Zimmern mit Aussicht auf Strasse und Hof.

Er sieht hinein und hinaus. Auf die Strasse, den Hof, hinein in sich, was da geschieht, wenn er zuhause bleibt und nicht mehr zur Arbeit geht.

Über ihm wohnt eine junge Frau, seine Nachbarin. Er, allein gelassen, hört ihren Tritt oben in der baugleichen Wohnung, geht unter ihr herum, während sie morgens die Wohnung verlässt und ihre Katze zurücklässt. Die Katze, die dann schreit. Die Nachbarin wird immer mehr.

Während er, von seiner Freundin oder Frau verlassen, alleine ist, wächst der Wunsch, seiner Nachbarin gegenüberzusitzen.

Franziska Neubert studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und an der École Nationale Supèrieure des Arts Décoratifs, Paris. Nach dem Studium schloss sich ein Meisterschülerstudium ebenfalls an der Leipziger Hochschule an. Für ihre Meisterschüler- Abschlussarbeit erhielt sie den Anerkennungspreis des Ars Lipsiensis. Ihre Arbeiten werden regelmäßig im In- und Ausland in Ausstellungen gezeigt und sind mehrfach prämiert. Franziska Neubert lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Nina Jäckle, 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: «Es gibt solche», «Noll»,»Gleich nebenan» und «Sevilla». Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung «Nai oder was wie so ist», 2011 ihr Roman «Zielinski» und 2014 der Roman «Der lange Atem». Sowohl «Zielinski» als auch «Der lange Atem» wurden ins Spanische übersetzt.  Nina Jäckle ist Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17.

Webseite der Illustratorin Franziska Neubert

Webseite kunstanstifter verlag

Akog Doma «Der Weg der Wünsche», Rowohlt

Während Kriege, Trostlosigkeit, Hunger und Krisen Menschen zwingen, ihrer Heimat unter Lebensgefahr den Rücken zu kehren, vergisst jener, der sich in seiner warmen Stube ob der vielen Flüchtlinge fürchtet, dass das 20. Jahrhundert die Menschen in Europa zu Hunderttausenden zwang, alles zurückzulassen.

Darf man angesichts des Flüchtlingselends keine Geschichten mehr erzählen, die vergangen scheinen? Keine Geschichte endet. Keine Geschichte hört auf. Aber gut erzählten Geschichten folgt man gerne – und der Roman «Der Weg der Wünsche» (auch wenn mir der Titel allzu salbungsvoll klingt) ist eine solche.

Akos Doma, der als Jugendlicher selbst zusammen mit seiner Familie Ungarn verlassen musste, erzählt eine dieser unzähligen Geschichten. Von jenem Moment, wo der 8jährige Misi zusammen mit seiner Schwester Borbála und seinen Eltern Teréz und Károly seinen Geburtstag im winzig kleinen Garten in Buda feiert – bis in den Schnee der Alpen, das längst nicht das letzte Hindernis bleiben wird, das die Familie zu besiegen hat. Eine Geburtstagsidylle mit einem kleinen Hund als Geschenk, nur für den Jungen, der nicht ahnt, wie sehr seine Eltern unter der korrupten «sozialistischen» Willkür der ungarischen Apparats zu leiden haben. Nichts ist Idylle, die Menschen desillusioniert nach einem Krieg, der weder aus Sieger noch Besiegten bessere Menschen werden liess. Teréz, die Mutter des kleinen Misi, besucht kurz vor der Flucht noch einmal ihren Onkel Barnábas, bei dem sie nach dem Krieg zwei Jahre blieb, um aus der traumatischen Starre aufzuwachen, in der sie der Krieg zurückgelassen hatte. Barnábas, ihr Onkel, warnt sie vor den Konsequenzen, sollte die Flucht misslingen, davor, dass dort in der besseren Welt auch bloss das Geld regiert.

Familie Kallay macht sich auf den Weg, auf eine Reise zwischen Welten und landen für Monate in einem italienischen Auffanglager voller Ratten, wilder Hunde, Kot und baufälliger Baracken. Ein Lager unweit der Bucht von Neapel, durch einen löchrigen Zaun von der Normalität getrennt, der Lagerleitung schamlos ausgeliefert.

Akos Doma erzählt auch vom Schmerz, den Verletzungen mit sich tragen, den unheilbaren Wunden eines Krieges, den Demütigungen durch ein System, das nach dem Ende des Krieges versprach, die Ordnung endgültig zu reformieren. Der Roman liest sich leicht. Die Qualität des Buches liegt nicht in der Aktualität der «Flüchtlingsperspektive», sondern in der Leichtigkeit, mit der es der Autor in die Nähe von Terés und Károly schafft, einem Paar, das sich aneinander hält, das bereit ist, fast alles zu «zahlen», um der Familie ein Stück Freiheit zu schenken.

Akos Doma will eine Geschichte erzählen, erlebte Geschichte am Beispiel einer Familie. Bestimmt gibt es zum Thema «Flüchtlinge» Wichtigeres zu lesen (z.B. von Navid Kermani «Einbruch der Wirklichkeit»). Aber das Buch ist spannend erzählt, nie platt, und schon gar nicht oberflächlich.

Ein Roman darüber, wie Geschichte die Seelen aus den Menschen zerrt.

Akos Doma, geboren 1963 in Budapest, ist Autor und Übersetzer. Er hat unter anderem Werke von Sándor Márai, László F. Földényi und Péter Nádas ins Deutsche übertragen. 2001 erschien sein Debütroman «Der Müßiggänger», 2011 «Die allgemeine Tauglichkeit». Doma erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt etwa das Grenzgängerstipendium der Robert Bosch Stiftung, den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 2012 und das Prager Literaturstipendium 2014. Akos Doma lebt mit seiner Familie in Eichstätt.

Lukas Hartmann «Ein passender Mieter», Diogenes

Gibt es einen Ort, an dem man sich sicher fühlen kann? Gibt es Menschen, auf die man sich bedingungslos verlassen kann? Oder steckt hinter diesem Wunsch, dieser Vorstellung bloss eine Sehnsucht? Die Sehnsucht des Menschen, während man dauernd und überall loszulassen hat, auf etwas zählen zu können; die Liebe, die Familie, die Religion, das Haus, der Grund, auf dem es steht?

Margret und Gerhard Sandmeier sind seit 25 Jahren verheiratet. Und mit dem Auszug ihres einzigen Sohnes beginnt sich die Geometrie der Familie zu verändern. Mit dem Fehlen des Sohnes wird auch der Anbau des Einfamilienhauses frei. Und man entschliesst sich, das Studio zu vermieten, lieber an einen Mann ohne Haustier und Musikinstrument. Man will nichts riskieren, seine Ruhe haben. Schlussendlich zieht Beat ein, ein stiller, sympathischer junger Mann, Fahrradmechaniker, so alt wie der Sohn. Ein Mann fast wie Sebastian, der Sohn, ein passender Mieter. Ein Mieter, dessen Name zu Beginn wie Programm erscheint, unauffällig, nett, ein Name passend wie angegossen.

Aber alles trügt. So wie Gerhard den Tritt als Geschichtsprofessor, der sich immer mehr abmüht mit der Infantilität seiner ZuhörerInnen, zu verlieren droht, die Mutter Margret die Trennung von ihrem Sohn nicht verschmerzt und auch in ihrer Arbeit nichts von dem findet, was ihr Sohn ihr mit Abweisung und deutlicher Distanzieung zu verstehen gibt. So spitzen sich die Meldungen in den Medien zu über einen Messerstecher, der in der Stadt sein Unwesen treibt. Verunsichert peinigt Margret ein unfassbarer Verdacht. Ein Verdacht, der vom bösen Traum zur Wirklichkeit wird, als das Haus von der Polizei umstellt wird.

Lukas Hartmann schreibt über diese seltsame Entfremdung von den eigenen Kindern, vom eigenen Fleisch und Blut, «ewig» Kinder, die man «ein Leben lang» mit sich trägt, von deren Heldentaten man in Gesellschaft erzählt, gerne beschönt und vergisst, wie wenig man in Wirklichkeit dazu beitrug und es in den Ohren anderer wie Eitelkeit, Hohn oder blanke Lüge klingen kann. Lukas Hartmann erzählt auch von einem Ehepaar, das noch unter der gleichen Decke ein-passender-mieter-9783257069679schläft, Berührungen aber kaum mehr verträgt. Ein Haus, eine Wohnung, einen Sohn, ein Bett teilt, das Leben aber längst nicht mehr. Ein Paar, das sich unlösbar in Missverständnisse verstrickt. Er schreibt darüber, was «Schicksal» mit einem zu tun vermag, wie es einem aus Normalität herauskatapultiert. Lukas Hartmann ist ein Meister der Schilderung. Er lässt einen Kausalteppich wachsen, aus dem es keinen  Ausweg zu geben scheint. Er schildert aus der Sicht aller Familienmitgleider, auch aus jener des Sohnes, der sich wandelt vom ewig genervten, endlich befreiten, zum besorgrten, von den Geschehnissen überrannten. Was sich im ersten Teil des Romans liest, wie das Psychogramm einer typischen Kleinfamilie, wird im zweiten Teil zum Höllentripp einer auseinanderbrechenden Schicksalsgemeinschaft.

Lukas Hartmann ist ein scharfer Beobachter, ein Meister der innerfamiliären Inszenierung, ein Ausloter von Grenzüberchreitungen, jener ganz feinen in einer Ehe, jener ganz groben, wenn sich besorgte Bürger verselbstständigen. Was passiert mit einem Verbrechen, einem Verbrechen, das in die Leben vieler unauslöschbar eingreift, nicht nur in das der als Opfer definierten. Ein Buch, das an Spannung nichts zu wünschen übrig lässt.

Lukas Hartmann, Schriftsteller, Foto in seinem Garten, in Spiegel bei Bern.

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste. Für ›Bis ans Ende der Meere‹ wurde er 2010 mit dem Sir-Walter-Scott-Literaturpreis für historische Romane ausgezeichnet.

2010 erschien von Lukas Hartmann der Roman «Finsteres Glück». Die Geschichte vom achtjährigen Yves, dessen Leben nach einem schrecklichen Autounfall von seiner Familie weggerissen wird. Eine Psychologin, die dem Jungen über den Verlust hinwegzuhelfen versucht,ist derart erschüttert vom Schicksal des Jungen, dass auch in ihrem Leben und in ihrer Familie nichts mehr bleibt, wie es einmal war. Eine wirklich gelungene Verfilmung!

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Webseite Lukas Hartmann

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Urs Richle liest in der Handelsschule KV Aarau… und kein Student hört zu.

Sonntag um 11.

Die Literarische Vereinigung Aarau lädt zum Literaturapéro in der Aula des Pestalozzischulhauses in Aarau ein. Es liest Urs Richle, Schriftsteller, Medieningenieur, Forscher und Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Ein gewichtiger Mann, der etwas zu den drängenden Fragen der Gegenwart zu sagen hätte. Aber die Jugend fehlt.

Leo ist Mitte zwanzig und wird bei einer nicht bewilligten Demonstration von einem Hartgummigeschoss derart unglücklich getroffen, dass er an den Folgen der Verletzung stirbt. Eine Demonstration gegen die Allmacht der Banken. Vielleicht ist das in Aarau anders. Vielleicht freut man sich dort derart über das 40-Franken-Willkomensgeschenk der Bank in der Nachbarschaft des Schulhauses, dass man nicht unbedingt einem «Nestbeschmutzer» zuhören will, der sich zu allerhand Gesellschaftlichem kritisch äussert. Vielleicht hat der Student an einem Sonntag einfach nicht die Lust, sich in einen Disput einzumischen, darüber nachzudenken, was mit einer Gesellschaft passiert, die sich dem Diktat der Technik anzuvertrauen droht.

Im Roman «Anaconda 0.2» von Urs Richle findet Leos Vater im verlassenen Zimmer seines Sohnes eine als Spieluhr getarnte Bombe. Während die Mutter am Tod ihres Sohnes zerbricht, stochert der Vater in den Überresten der Existenz seines Sohnes. Was er findet, bringt nur noch mehr Rätsel. Wer war sein Sohn? Wann verloren er und seine Frau ihren Sohn? Wem galt die Bombe im Zimmer des Sohnes?
In den 70er Jahren schrieb der DDR-Schriftsteller Ulrich Plenzdorf den Montageroman «Die Leiden des jungen W.» Ein Roman über einen Vater, der nach seinem «verschwundenen» Sohn sucht, eine schmerzhafte Suche, denn der Sohn ist tot und der Vater interessiert sich zu spät.
«Anaconda 0.2» ist auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Und eine Geschichte darüber, was Künstliche Intelligenz und Big-Data-Konzerne mit der Welt anrichten könnten, wenn die Gesellschaft die Augen schliesst und nur das grosse Geld wittert. Ist das der Grund, warum kein Judendlicher, keine Schüler der Handelsschule an der Lesung teilnahmen? Wäre das Buch nicht genau der richtige Aufhänger gewesen für notwendige Diskussionen über die Zukunft der Jugend?
Urs Richle erzählt vom Kampf gegen die Ohnmacht und ist sehr davon überzeugt, dass der Kampf nicht aussichtslos ist. Leo hat die 26 Buchstaben des Alphabets zu seiner Waffe gemacht, einer Waffe gegen die bereitwillige Ergebenheit der Allgemeinheit.
Immer noch zu wenig Gesprächsstoff? Liest man heute keine Bücher mehr, die provozieren sollen?

Urs Richle ist Vater dreier Kinder. Seit 15 Jahren beschäftigt er sich mit Informatik, ursprünglich um dem ökonomischen Druck beim Schreiben zu entfliehen, mit dem Wunsch Drehbücher zu schreiben. Nun hat ihn das Thema so sehr gepackt, dass daraus 3 Romane werden sollen. 2010 erschien «Das taube Herz», die «abenteurliche Geschichte über den Menschheitstraum, eine denkende Maschine zu bauen». Im 18. Jahrhundert waren es die Apparatebauer mit Allmachtsphantasien, heute sind es Genwissenschaftler und Programmierer. Urs Richle bleibt zuversichtlich. Er ist kein Schwarzmaler, kein Pessimist. An diesem Sonntag in Aarau wäre eine heisse Diskussion im Anschluss an die Lesung erfrischend gewesen. Schade.

Urs Richle: «Solange es Leute wie Edward Snowden gibt, sind wir den Maschinen nicht unterlegen. Nur wenn wir uns nicht mehr getrauen, gegen gesetzte Regeln zu verstossen, werden sie überhand nehmen.»

Grossen Dank an die «Literarische» Aarau, die zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte.

Webseite des Autors

Bild; Urs Richle

Fee Katrin Kanzler «Sterben lernen», Frankfurter Verlagsanstalt

Fee Katrin Kanzlers Sprache pulsiert, strotzt vor Leben. Ihre Geschichte, ihr Plan des Erzählens, erlaubt Wendungen, die Grenzen überschreiten. Ihre beinahe barocke Erzählfreude, die schon mit dem ersten Satz einen Markstein setzt, bezaubert ungemein, selbst wenn die Geschichte an Düsternis zunimmt.

Henry Jean-Toussaint Einstein (Was für ein Name!) lernt auf einer ausufernden Hochzeit ein Mädchen mit wild abstehenden Dreadlocks kennen und lässt sich von ihrem blauäugigen Blick betören. Joe reisst ihn aus seiner Welt. Einer Welt, mit der er sich eingerichtet hatte. Henry, der einmal die Welt retten wollte, um nun in einer Biolimofirma mit Anzug im eigenen Büro zu sitzen. Er, der trotz aller Sehnsucht nach Liebe den Draht zu seiner Frau und erst recht zu seiner dreizehnjährigen Tochter verloren hat. Die draedlockige Joe ist eine Abgewandte, arbeitet in einer Gärtnerei, wo sie mit Grabpflege auf dem Friedhof ihr Lehrlingsgehalt aufbessert. Joe mag den Friedhof, weil sie allein sein will. Joe schenkt Henry etwas von der Nähe, die er zu all jenen verloren hat, die ihm wichtig sein sollten, eine Nähe, die nicht zurückzugewinnen scheint. Dabei sehnt er sich nach nichts mehr, als sein Kind, seine Julia in die Arme zu schliessen.

Und dann reisst es Henry durch das Horn eines rasenden Stiers aus der Welt der Lebenden. Er schwebt wie ein Geist durch die Welt, ohne sich auf sie einzulassen, gleichsam angeekelt und fasziniert. Henry der Vater über die Welt hinaus. Henry als Formation von fliegenden Spatzen, Henry mit einem Mal ganz nah jenen, zu denen er alle Nähe verloren hat.

Fee Katrin Kanzler erzählt auch von Joe, eigentlich Johanna, einer Fünfzehnjährigen, der das Erwachsenwerden zu langsam dauert, die Gegenwart herausfordert, sich nicht weit von ihren in Pflichten eingespannten Eltern in den Dünen am Meer verliert. In den Armen eines deutschen Schriftstellers, Samuel, dem sie vorgibt siebzehn zu sein, in dessen Bett sie schlüpft und verkündet, die Nacht hier mit ihm zu verbringen.

Mag sein, dass der Erzählstrang in Fee Katrin Kanzlers Roman manchmal arg strapaziert wird. Wer sich aber nicht abwimmeln lässt, sich auf die Eigenarten des Textes einlässt, wird reich belohnt. Zum einen auch von der Geschichte, aber noch viel mehr von der Sprache, der unkonventionellen Art, wie sie erzählt. Fee Katrin Kanzler schreibt Perlenketten. An manchen Abschnitten hängt am Schluss ein dunkel schimmernder Edelstein. Es sind Sätze, die man mitnimmt, mit sich herumträgt, die hängenbleiben und eine ganz andere Halbwertszeit besitzen als das Meer der Sprache sonst. Während des Lesens animiert die Autorin eigene Traumbilder, Gefühle, die sich, zumindest bei mir, sonst nur bei Lyrik einstellen. Ihr Roman ist nicht leicht zu verorten. Während des Lesens brechen Bilder aus dem Text, zwingt mich die Lektüre zu einem Halt, als ob ich Luft holen müsste. Wo andere Bücher Sog und Spannung entwickeln, wehen Fee Katrin Kanzlers Bilder zusätzlich wie Böen durch den Kopf. Sie malt mit Sprache; da ein Fleck, eine Kontur, dort eine Linie, eine Textur. Langsam erschliesst sich das Gesamte, mit lyrisch zarten Farben genauso wie mit harten, schroffen Gegensätzen, Überblendungen arrangierend, von denen ich mich gerne verunsichern lasse.

Eine Entdeckung! LESEN und GENIESSEN!

Ein kurzes Interview:

Beim Lesen Ihres Romans passierte bei mir etwas, was sonst nur beim Lesen von Lyrik oder lyrischen Texten geschieht. Bilder, die kamen, waren ganz stark, farbig, manchmal verzerrt, der Realität enthoben. Und trotzdem «glaubte» ich ihrem Text. Ihre Sprache ist so intensiv, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da jemand schreibt mit einem Glas Wasser nebenbei und sanfter Musik. Wie schaffen Sie es, in ihrem Buch derartige Intensität zu erzeugen?
Tatsächlich meistens ganz schlicht am Schreibtisch mit einem Glas Wasser, Tee oder Kaffee. Manchmal läuft auch wirklich Musik. Sanft ist die allerdings nicht immer. Sprache sehr dicht und bildreich zu weben, auch einem Erzähltext diese musikalisch-lyrische Intensität zu geben, war schon immer mein Ding. Ich feile sehr viel an den Sätzen, justiere, so wie man ein Instrument stimmt. Was dabei vielleicht hilft, ist meine Synästhesie, Wörter sind für mich beinahe wie physische Gegenstände, die Farbe, Klang, Licht, Textur und ähnliche Eigenschaften haben können.

Auf Seite 185 schnüren Sie Ihre Geschichte an einen Fall in einer Ortschaft Markheim, die es nicht gibt, einen Ort, wo sich laut regionaler Presse die Männer mit Stieren anlegen, einer «Torerostadt». Liegt in einer ähnlichen Meldung die Initialgeschichte? Oder was veranlasste Sie, diesen Roman so zu erzählen?
Nein, es gab keine reale Zeitungsnachricht dieser Art. Vielmehr war es die Beziehung zwischen Henry und Joe, aus der sich der Roman entwickelt hat. Der knapp vierzigjährige Verkaufsleiter einer Biolimonadenfirma ist in der Midlife Crisis und trifft das fünfzehnjährige, aufrührerische Gärtnerlehrlingsmädchen. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, die allerdings beide im bisherigen Leben enttäuscht wurden, und nun einen Ausbruch hinein in das Leben eines fremden Menschen wagen.

Sie machen es der Leserin oder dem Leser nicht wirklich leicht. Sie springen von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit. Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, etwas zu versäumen, weil immer die Sprache im Vordergrund stand, die Freude darüber, wie da eine junge Autorin fabuliert und zaubert. Hatten Sie einen Plan? Gab es Vorbilder?
Vorbilder kann ich keine nennen. Aber einen Plan hatte ich definitiv. Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass langsam und von mehreren Seiten zugleich die Frage gelüftet wird, was zwischen Henry und Joe eigentlich geschehen ist und ob diese beiden Menschen eine Zukunft haben. Stück für Stück lernt der Leser beide Figuren, ihre Lebensumstände, Träume und Probleme kennen und verfolgt, wo ihre Geschichte die beiden hinführt. Das Ganze kulminiert in einer rätselhaften, geradezu überirdischen Erfahrung, die Henry und Joe miteinander verstrickt, und am Ende gibt es eine Auflösung. So viel zur Form. Inhaltlich möchte ich natürlich nicht zu viel verraten.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt «Die Schüchternheit der Pflaume» (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert.

Webseite der Autorin

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Navid Kermani «Sozusagen Paris», Hanser

Navid Kermani, deutsch-iranischer Schriftsteller, Publizist und Orientalist, Träger vieler Preise, mit allem Recht den des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015, ist eine Stimme, die sich einmischt. Ob als Berichterstatter aus Krisengebieten, als Begleiter von Flüchtlingen, als Redner oder gar als Kandidat eines hohen politischen Amtes schreibt und spricht er uns ins Gewissen. Umso erstaunlicher sein neuer Roman «Sozusagen Paris».

Ein Autor, eigentlich Navid Kermani, liest in irgendeiner deutschen Stadt aus seinem Buch. Nachdem man ihm freundlich applaudiert hatte und er sich fragt, was aus einem angefangenen Abend in der Provinz werden würde, stehen jene an, die ihr Buch gerne signieren lassen wollen. «Aber nicht für Jutta» schreckt ihn eine Stimme aus seiner Benommenheit. Die Frau, die neben ihm steht, war im Buch das Mädchen Jutta, das Mädchen einer Liebesgeschichte zweier Fünfzehnjähriger, aus der er eben vorgelesen hatte. Nach dreissig Jahren aus der Vergangenheit aufgetaucht, auch wenn sie im wirklichen Leben nicht Jutta heisst. Mehr aus Verlegenheit und Ertapptheit tröstet der Autor die Frau auf später, in ein paar Minuten, obwohl er weiss, dass Veranstalter und hiesige Kulturbeflissene auch noch ein Stück seiner Aufmerksamkeit beanspruchen werden. Später trifft er sie auf der Strasse vor dem Lokal, seine Romanliebe, dreissig Jahre älter. Irgendwann stehen die beiden in ihrem Wohnzimmer, sie mittlerweile Bürgermeisterin, verheiratet mit einem Arzt, Mutter halbwüchsiger Kinder. Man steht vor dem langen Regal mit Büchern, trinkt Wein, öffnet nach Mitternacht noch eine zweite Flasche, während der Ehemann unsichtbar ein Stockwerk höher an Arztrechnungen schreibt. Man trinkt und redet; vom Altern, von der Zeit, davon, dass wir den Dingen wie den Menschen mit inneren Augen begegnen, innerer Wahrnehmung, die sich nicht ans Objektive hält. Von der Liebe und davon, dass der Hass dazugehört, dass im Geliebten alles Heil und alles Übel liegt. Er von seiner Trennung, sie von ihrem Mann, der nach zwanzig Jahren Ehe unweigerlich nicht mehr der ist, den sie einst heiratete. Von den Vorstellungen dessen, was die Zeit bringen wird, im Kleinen auch in dieser Nacht, die sich der Autor in immer anderen Farben ausmalt. Während die Situation im Wohnzimer durch Wein und Rauch immer entrückter wird, die Gespräche immer offensichtlicher am Intimen vorbeischrammen, sitzt der Ehemann nebenan und schreibt Rechnungen.

Navid Kermanis Roman ist nicht die Wiedergabe einer Geschichte, ein nacherzählter Abend, auch nicht die Summe von Erinnerungen. So wie die beiden im Wohnzimmer vor dem Bücherregal stehen, scheint Navid Kermani vor einem imaginären Regal zu stehen. Aber im Vergelich zu den meist hübsch aussehenden Bücherwänden, sprechen die Autoren, mischen sie sich ins Denken des Autors ein, die grossen französischen Namen wie Proust, Flaubert, Balsac oder Standal. Unglaublich, mit welcher Vehemenz sich die Stimmen einmischen. Als wäre es im Kopf des Autors während des Gesprächs dauernd laut, als müsste er sich in einem fort darauf konzentrieren, das Wichtigste herauszufiltern.

«Sozusagen Paris» ist ein ungeheuer gescheites Buch, eine Mischung aus Essay und Roman, viel mehr als gute Unterhaltung. Ein Buch, das es lohnt, in kleinen Häppchen gelesen zu werden. Ein Buch, das anspornt, etwas zu sagen hat. Ein Buch mit Witz, das mit Erzählebenen spielt und in pures Lesevergnügen mündet, wenn Kermani zum wiederholten Mal mit seinem fetten Lektor hadert, dem er während des Abends im Geiste schon mit seinem neuen Roman gegenübersteht, diesem Fleischberg, der allerdings viel mehr als bloss Fettflecken im Manuskript zurücklässt.

Klar, wer die französischen Klassiker kennt, dem mehrt sich das Vergnügen!

Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und 2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Zuletzt erschienen bei Hanser «Dein Name» (Roman, 2011), «Über den Zufall» (Edition Akzente, 2012), «Große Liebe» (Roman, 2014), «Album» (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und  «Ayda, Bär und Hase» (2017) ist sein erstes Buch für Kinder

Am 24. Januar liest Navid Kermani im Kaufleuten in Zürich. Moderiert wird der Abend von Martin Ebel, Tages-Anzeiger

Evelina Jecker Lambreva «Nicht mehr», Braumüller

Gertrud hatte es versucht. Doch beim Vorstellungsgespräch hiess es: «Ich bitte sie, wie sie aussehen.» Kilian ordert man auf acht Uhr in den Konferenzsaal zwei, um ihm nach zehn Jahren Arbeit nach fadenscheinigen Sätzen mitzuteilen, innerhalb 30 Minuten sein Büro zu räumen.

Es sind die Schicksale von Gertrud, einer älteren, einsamen Frau. Von Linus und Jasmin, einem Paar, das sich aus den Augen verlor. Und von Nicole und Kilian, sie überforderte Mutter, er tyrannisiert vom infernalen Scheppern Tausender Münzen in seinem Kopf. Evelina Jecker Lambreva erzählt langsam, schildert die Enge, die Unerträglichkeiten, die Geschichten bis tief in die Vergangenheiten dieser Handvoll Personen, dessen Verbindungen sich erst mit Fortdauer des Lesens erschliessen.. Sie alle sind fest eingespannt in die Widrigkeiten des Lebens, die einen traumatisiert von tiefen Verletzungen in ihrer Kindheit, andere aus dem Leben ausgeschlossen, hinauskatapultiert.

Der Roman «Nicht mehr» beginnt mit Gertrud. Gertrud quält sich durch ihren Alltag. Eine bescheidene, ältere Frau, die sich aus lauter Rücksicht entschliesst, sich selbst zu beseitigen. Eine Frau, der man zu verstehen gibt, dass sie nicht mehr ins Räderwerk der Zeit passt. Zurückgeworfen auf sich selbst, enttäuscht, sich selbst zerfleischend, steigt sie eines Morgens in den Müllcontainer vor dem Haus und wartet auf das Geräusch der Müllabfuhr. «Bald würde sie erlöst sein von der unzumutbaren Last ihrer grausamen Tage und der höllischen Qualen ihrer gespenstischen Nächte.» Aber während sie im Gestank des Containers noch einmal mit geschlossenen Augen ihr Leben Revue passieren lässt, landet im gleichen Container ein Paket, das sich bewegt. Ein Paukenschlag? Ein Schlag in den Magen. Eine Frau in der Gesellschaft zu viel, wirft sich weg, um vom Zufall mitten ins Leben zurückgeworfen zu werden.

Ein anderer dicker Faden im Beziehungsgeflecht des Romans ist der junge Kilian. Ein Banker, der in seiner Kindheit hoch sensibel gerne Pianist geworden wäre. Aber Gehorsam und Strenge machten einen Kravattenmann im Glaspalast aus ihm. Einen Mann, der in seiner beruflichen Pflicht alles gibt und dafür in seinem Kopf permanent das Klingeln von abertausend Münzen mit sich herumträgt. Ausgerechnet jetzt, wo massenhaft  Kunden ihre Gelder abziehen, wo der Arbeitgeber Negativschlagzeilen wegen unlauterer Devisengeschäfte macht. Kilian nimmt eine Auszeit, in einer Burnoutklinik für Privilegierte, findet zaghaft zurück zu sich selbst, um dann noch viel tiefer zu stürzen.

So sehr sich «Nicht mehr» gesellschaftskritisch gibt, so sehr ist der Roman ein Buch über Familie. Was macht dieses labile Gefüge zu einer Familie? Warum entspringt dort für den einen Kraft und Halt und wird für andere versteinert zum Klotz, zur lebenslangen Hypothek? Was braucht Familie, um dem Glück wenigstens eine Chance zu geben? Warum schlägt der Wunsch, es einmal besser als die eigenen Eltern zu machen, so leicht in eine falsche Richtung um?

Evelina Jecker Lambrevas zweiter Roman, ein Buch über die Erschöpfungszustände der westlichen Gesellschaft ist spannend und entwickelt einen erstaunlichen Sog. Auch wenn der Roman an Themen zu überfrachtet ist, sich sie Konstruktion zu oft an all zu grosse Zufälle hält, ist der Roman ein grosses Lesevergnügen. Ein Buch mit grossen Fragen, ein Buch über eine Gesellschaft, die sich nach Idylle und Muse sehnt, sich aber hyperaktiv von einem Stress in den nächsten jagt, immer auf der Suche nach dem vermeintlich Besseren.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als nieder­gelassene Psychiaterin und Psycho­therapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband ­»Unerwartet» vor. Zuletzt erschienen «Vaters Land» (Braumüller, 2014).

Steven Millhauser «Zaubernacht», Septime Verlag

Tagsüber ist es eine gewöhnliche Kleinstadt in Connecticut, aber wenn dann der Vollmond aufgeht und sein bleiches, doch helles Licht verstreut, ändert sich dort vieles.

Allerdings bleibt dabei alles in der Wirklichkeit. Niemand verwandelt sich in einen Werwolf, es gibt auch sonst keinen Horror. Da sind lediglich Menschen, die unter dem Licht des magischen Mondes aus unbestimmter Sehnsucht nicht mehr schlafen können. Eine Bande von Teenagermädchen img_0145zum Beispiel, die in fremde Häuser einbricht und dort die Nachricht hinterlässt: „Wir sind eure Töchter!“. Oder eine junge Frau, die ganz plötzlich ihren idealen Geliebten auf der Kinderschaukel vor ihrem Haus sieht. Oder ein Mann, der seit Jahrzehnten an seinem Opus Magnum schreibt, damit nicht zu Ende kommt und genau in solchen Nächten seiner Qual offenbar wird. Aber auch Schaufensterpuppen werden kurzzeitig lebendig und das nicht mehr gebrauchte Kinderspielzeug, das auf den Dachböden herumliegt, beginnt sich zu regen.
img_0146Steven Millhauser, 1943 geboren und Universitätsprofessor, ist 1997 bekannt geworden, als er für seinen Roman „Martin Dressler. The Tale of an American Dreamer“ den Pulitzerpreis bekam. Hier hat er eine Novelle geschrieben, eine Geschichte, die einen beim Lesen sofort anrührt und unmittelbar verzaubert. Gewandt und schwer romantisch zeichnet er die wunderbarsten Bilder und evoziert jene magische, fast schlafwandlerische Stimmung, in die man beim Lesen nur zu gerne versinkt. An diesem erfreulichen Lektüreerlebnis hat auch die vorzügliche deutsche Übersetzung durch Sabrina Gmeiner ihren Anteil. Schwer beeindruckt denkt man noch lange nach über diese menschlichen Dramen, die sich in dieser Mondnacht abspielen.

Wolfgang Bortlik

in memoriam: Markus Werner «Am Hang»

Am 3. Juli 2016 ist Markus Werner 71 jährig in Schaffhausen gestorben. Ein Grosser in der deutschsprachigen Literatur, ein Stiller in der Literaturszene, mit jedem Buch mehr zum Schwergewicht unter den Schweizer Autoren. Grund genug, sein letztes Buch, sein hintergründigstes Buch wiederzulesen.

Der junge Scheidungsanwalt Clarin reist mit der Absicht ins Tessin, dort in seiner Ferienwohnung die Ruhe zu finden, eine Arbeit für ein Fachmagazin zu schreiben. Ein beschauliches Pfingstwochenende. Am ersten Abend setzt er sich im nahen Hitel zu einem älteren Mann an den Tisch auf der Terrasse. Was sich zwischen Clarin und dem Fremden, der sich als Thomas Loos vorstellt, anbahnt, entwickelt schnell ungeheure Intensität und Dynamik. Auch auf Clarins Seite, der sich vor einem Jahr genau in diesem Hotel von seiner damaligen Freundin Valérie trennte. Eine endgültige Trennung. Auch Loos ist der Getrennte, der Verlassene, der Nachtrauernde. Und Loos erzählt, bestimmt die Richtung, selbst die Tiefe des Gesprächs. Sobald Clarin die Initiative ergeift, steckt Loos die Grenzen. Was als Männergespräch beginnt, wird schon am ersten Abend direkt und greift tief unter die Oberfläche. Loos ist ein Verletzter, ebenfalls von seiner Frau verlassener Mann, aber ganz offensichtlich in ganz anderer Intensität als der jüngere Clarin, der sich gerne von Frauen distanziert, wenn diese ein übermässiges Bedürfnis nach Nähe entwickeln. Das Gespräch bohrt sich in die Tiefe. Was auf den ersten Seiten wie das Protokoll eines Konfrontation erscheint, lässt Markus Werner in seinem letzten Roman zu einem Tauchgang in die Tiefe Thomas Loos werden. Loos ist ein Versehrter, dem die Trennung von seiner Frau den Boden unter den Füssen entzog. Loos, der erzählt, er sei Lehrer für tote Sprachen, ist am Zerbrechen an der Schlechtigkeit der Welt, am Zerfall, nicht nur jener in der Institution Ehe, sondern auch jenem in der Schule, der Moderne, der Gegenwart, der Jugend, der Welt. Clarin ist nach dem ersten Tag vom Gespräch mit seinem neuen «Freund» mehr als erschlagen, weit weg von seiner angestrebten Ruhe, seinen gefassten Plänen, so sehr getrieben von Neugier, Mitleid und einer schwer erklärbaren Faszination, dass er am folgenden Tag erneut zu Loos an den Tisch sitzt. Ein folgenschwerer Entschluss.

Autor: Markus Werner.Foto: Selwyn Hoffmann.Das Foto ist honorarfrei...Selwyn Hoffmann, Pfrundhausgasse 9, CH-8200 Schaffhausen, Tel. 052 625 99 07, srhoffmann@freesurf.ch
Foto: Selwyn Hoffmann.

Markus Werner wurde 1944 in der Schweiz, in Eschlikon im Kanton Thurgau, geboren. Er studierte in Zürich Germanistik, arbeitete bis 1990 als Lehrer und dann als freier Schriftsteller. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane «Zündels Abgang», «Froschnacht», «Die kalte Schulter», «Bis bald», «Festland», «Der ägyptische Heinrich» und «Am Hang». Zu seinem Werk erschien der von Martin Ebel herausgegebene Band «Allein das Zögern ist human».

Und der Film?

Sehenswert, auch wenn sich der direkte Vergleich mit der Romanvorlage nicht lohnt. Markus Imboden drehte einen Film. Und ganz offensichtlich reichte ihm die Dramaturgie des Romans nicht. Vielleicht wäre die Reihenfolge, zuerst der Film und dann das Buch, die bessere als so wie die unsere. Auf jeden Fall ein sehenswerter Film, der mit den Charakteren der drei Hauptdarsteller spielt, mit den Rissen, der Distanz, die auch durch Liebe nicht aufzuheben ist, der Verzweiflung, die Liebe nicht fassen zu können.

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