Markus Werner ist tot. Ein ganz aussergewöhnlicher Schriftsteller. Markus Werner wurde 71 und veröffentlichte 7 Romane, zuletzt «Am Hang». Erst vor wenigen Tagen wurde ihm der ProLitteris Hauptpreis «für herausragende Leistungen im Bereich Literatur» verliehen.
Auszug aus der Jury-Begründung für die Wahl von Markus Werner: «Zum ersten Mal von sich hören machte Markus Werner mit seinem Erstling «Zündels
Abgang». Mit vierzig Jahren war er kein früh Vollendeter, dafür schien er aber schon mit seinem ersten Werk angelangt zu sein und hatte einen unverwechselbaren Stil. Obwohl seine Sprache einfach zu lesen ist, ist sie hochpräzise gearbeitet, elegant und differenziert, reich und virtuos ohne jemals selbstgefällig zu sein. In den zwanzig folgenden Jahren veröffentlichte Markus Werner sechs weitere Romane von «Froschnacht» über «Die kalte Schulter» bis zu „Am Hang», dem letzten Roman, der 2004 als erster im S. Fischer Verlag erschien und ihm, nachdem er viele Jahre lang als Geheimtipp gehandelt wurde, zu einem späten Durchbruch verhalf.»
1991, einige Jahre nachdem Markus Werners zweiter Roman «Froschnacht» herausgekommen war, fragte ich ihn brieflich an, ob er für eine Gesprächsrunde zu haben wäre, ob er Lust hätte, im kleinen Kreis über seinen Roman zu diskutieren. Das Foto oben ist ein Ausschnitt aus dem Antwortschreiben, in dem Markus Werner erklärte: «…Leider ist es so, dass ich höchst ungern über meine Bücher spreche. Ich wäre Ihnen und Ihrem Kreis also mit Sicherheit ein einsilbiger und unergiebiger Gesprächspartner. Auch bin ich zur Zeit so sehr mit Neuem befasst, dass mir das Aufwärmen des Alten hinderlich scheint…»
Ein paar Jahre nach diesem kurzen Briefwechsel hörte ich Markus Werner zum ersten Mal an einer Lesung in Winterthur. Er sass auf einem schwarzen Stuhl hinter einem kleinen Bistrotischchen, die Beine übereinander und gab alles, denn es war offensichtlich, dass ihn nicht die Freude am Publikum oder die Lust am Vorlesen dazu trieb, auf dieser Bühne zu sitzen und sich all den Lauschern und Blicken auszusetzen. Wäre es ihm geglückt, hätte er sich hinter dem einbeinigen Tischchen versteckt. Mir aber blieb die Sympathie für diesen Mann, dessen Stimme eben nur niedergeschrieben zur Entfaltung kommt. Ein Mann, der Sätze klingen lässt, unermüdlich schliff und formte. Nun ist er wirklich verschwunden.
Wer ins Werk des Autors einsteigen will, kann vom S. Fischer-Verlag eine schöne Ausgabe seines 2007 erschienen Romans «Am Hang» erstehen:
Der junge Anwalt Clarin freut sich auf ein ungestörtes Pfingstwochenende in seinem Tessiner Ferienhaus, wo er einen Aufsatz für eine Fachzeitschrift schreiben möchte. Am ersten Abend lernt er auf der Terrasse des Hotels einen älteren Mann kennen, einen scheinbar Verwirrten, einen Verrückten vielleicht. Sie reden und debattieren bis tief in die Nacht, und allmählich erzählen si
e sich auch ihre Geschichten und Liebesgeschichten. Was als stockendes Gespräch zwischen Zufallsbekannten begonnen hat, entwickelt eine fiebrige, beklemmende Dynamik, der sich weder Clarin noch der Leser entziehen kann. Es sind zweifelhafte Umstände, unter denen Loos seine geliebte, fast vergötterte Frau verloren hat, und dieser Verlust scheint ihm die Welt schwer und verhasst zu machen. Clarin hingegen lebt leicht und gern. – Ferner könnten zwei Menschen einander nicht sein. Wie nah sie sich sind, stellt sich erst spät heraus.
Markus Werners zuletzt bei S. Fischer erschienen Roman «Am Hang» wurde 2013 vom Schweizer Markus Imboden mit Martina Gedeck verfilmt!
Lieber Markus Werner, du bleibst.

Judith Hermann beschreibt keine Verletzungen, aber die Narben, die sie alle mit sich herumtragen, die Male, Mutter- und Vatermale, Freundschafts- und Liebesmale, die nichts vergessen lassen. Und sie beschreibt sie mit Sätzen, die kurz und messerscharf sind, manchmal in ihrer Repetition wie Faustschläge auf blaue Flecken. «Er will es so. Genau so und nicht anders. Er will auf seinem gepackten Koffer inmitten einer Szenerie aus zusammenhangslosem Chaos sitzen, auf einem Trümmerhaufen, dann kann er sich den Anforderungen des Lebens halbwegs stellen.» Vielleicht einer der Schlüsselsätze im Buch. Einer jener Sätze so deutlich und klar in Geschichten, die ausufern, nicht in ihrer Erzähllänge, aber in der Potenz, die sie mit sich tragen.
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. «Alice» (2009), fünf Erzählungen, wurde international gefeiert. Zuletzt erschien der Roman «Aller Liebe Anfang». Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.
Jens Steiner,
«Carambole» ein Dorf im Sommer – irgendwo. Jens Steiner, der schon mit seinem ersten Roman «Hasenleben» zeigte, wie nah er sich an Personen heranschreiben kann, wurde 2013 zurecht als Seismologe eines ganzen Dorfes auf die Longlist des Deutschen Buchpreises gesetzt. Er beschreibt kleine Katastrophen ebenso gekonnt, wie er mit der Lupe über den Seelen der Menschen brennt. Die Sommeridylle trügt, das Dorf kocht! Jugendliche, die kurz vor den Sommerferien das drohende Sommerloch mit Plänen füllen, aus denen «sowieso nichts wird». Familien, die zerbrechen, Generationen, die einander nicht mehr verstehen. So wie ein paar Männer im Dorf die Zeit mit dem Brettspiel Carambole totschlagen, entwirft Jens Steiner das Gesicht des Dorfes mit einem Spiel in 12 Runden. Ein meisterliches Gefüge!
«Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit» Alles beginnt harmlos mit einem Jungenstreich: Die Studenten Paul und Magnus planen einen Anschlag auf den Medienzar Kudelka während dessen Auftritt an der Universität. Erstaunt, wie gut das gelingt, sind sie gleichzeitig enttäuscht, dass ihre Tat quasi ohne Folgen bleibt. Doch dann geschieht Unerwartetes: Ein Museum voller sprechender Objekte, ein Teelöffel Salz und eine Pizza lassen Pauls Leben komplett aus den Fugen geraten. Er findet sich als Gefangener in einer fremden Wohnung und erfährt, dass Kudelka entführt wurde – und dass er als Hauptverdächtiger gesucht wird. Nun beginnt eine raffinierte und spannende Verfolgungsgeschichte nach Südfrankreich – mit überraschendem Ende.

Jan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asien Korrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung «Risse in der Großen Mauer». Nach dem Roman-Bestseller «Herzenhören» (2002) folgten «Das Flüstern der Schatten» (2007), «Drachenspiele» (2009) und «Herzenstimmen» (2012).
André Kaminski starb vor 15 Jahren. Er war Erzähler und Verfasser von Theater- und Fernsehstücken. 1923 in Genf geboren wanderte er nach dem Krieg nach Polen, ins Land seiner Vorfahren aus. Als überzeugter Kommunist arbeitete er dort bis zu seiner Ausbürgerung 1968 weiter für Funk und Fernsehen, was er auch zurück in der Schweiz bis 1985 tat. Sein erfolgreichstes Buch war der Roman «Nächstes Jahr in Jerusalem» der bei Suhrkamp immer noch als Taschenbuch erhältlich ist. Kaminski war ein begnadeter Erzähler und Fabulierer. Als ich ihm wenige Jahre vor seinem Tod an einer Lesung in der ersten Reihe sitzend lauschte, offenbarte Kaminski eine Art des Vortragens, die nur ganz selten zu den Fähigkeiten Schreibender gehört. Er las nicht nur einfach Textpassagen aus seinem Buch vor, sondern erzählte, erzählte wie jene Geschichtenerzähler im Arabischen Raum, die ihr mündliches Erzählen zum Beruf machten.
Capus und Kaminski, Kaminski und Capus. Beide wussten und wissen, dass Schreiben nicht ohne ein lauschendes Publikum funktioniert, dass Literatur von beiden Seiten lebt. Capus hat seine LeserInnen. André Kaminski wünsche ich, dass er nicht ganz ins Vergessen abrutscht. Lesen Sie «Nächstes Jahr in Jerusalem», die Geschichte zweier jüdischer Familien in wirrer Zeit, im von Krieg und Revolution erschütterten Europa, im und nach dem Ersten Weltkrieg – alles andere als eine traurige Geschichte.

die sich mir als Leser einbrennen und Wunden ritzen, Sätze, die mich zwingen, sie wieder und wieder zu lesen, weil sie messerscharf zeigen, wohin sich eine aus den Fugen geratene erste Welt manövriert. Sie, die Dolmetscherin, eine Frau der Sprache, instrumentalisiert von allen Seiten, verzweckt in einer verzwickten Lage, verlassen vom Glauben, Sprache würde der Wahrheit dienen. «Die Lüge drang in die Sätze ein wie das Wasser ins Hinterland, tausend Greifarme nahmen die Erde in Beschlag, salziges Wasser bedeckte die süsse Haut der Erde wie der Speichel eines Ungeheuers.» «Erschlag die Armen» ist ein Buch des blanken Schmerzes, der Verzweiflung darüber, nichts richtig machen zu können, über eine junge Frau, von der das Zittern Besitz ergreift, ein Zittern, das auf den Leser übergreifen kann, ein Buch von einer Verlorenen, einer Fremden in einem Apparat, einer Fremden unter Landsleuten, einer Fremden vor sich selbst.
Ende August 2016 erscheint wieder bei Edition Nautilus ihr Roman «Kalkutta», die Geschichte von Trisha, die nach vielen Jahren in Frankreich anlässlich der Einäscherung ihres geliebten Vaters zurückkehrt in ihre Geburtsstadt Kalkutta. Im verlassenen Haus der Familie, in dem sie aufgewachsen ist, schicken die Möbel und vertrauten Gegenstände aus alten Tagen ihre Gedanken auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Indem Trisha sich in die Kratzer und Risse dieser Objekte, der Möbel, des Hauses versenkt, ersteht die Vergangenheit mehrerer Generationen einer Familie wieder auf, und damit auch die kollektive, politische Vergangenheit Westbengalens – von der britischen Kolonialzeit bis zur jahrzehntelangen kommunistischen Regierung seit den späten 1970er Jahren.
Shumona Sinha liest am
Vor zwei Jahren traf ich dort Katja Petrowskaja, der Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin 2013. Wir sassen vor einem Café unter einem Sonnenschirm und unterhielten uns über ihr Buch «Vielleicht Esther», das bei Suhrkamp erschien und Publikum wie Presse gleichermassen begeisterte, über das Schreiben und was danach kommt, über Familie und die Kunst, alles unter einen Hut zu bekommen und über die Ukraine. Vielleicht ist das das besondere an diesen Literaturtagen: Weil der Anlass zusammen mit allen Autorinnen und Autoren beginnt und endet, sind sie alle immer irgendwie da. Manchmal unter dem lauschenden Publikum, manchmal im Café, manchmal in eine Gespräch vertieft.

beschreibt eine Schifffahrt durch das Kanal-, Tunnel- und Schleusensystem. Ein anderes erzählt von dem, was nach dem Einbruch und dem Vergessen des umgesetzten Projekts übrig geblieben ist. Er versetzt mich in die Welt des «Was-wäre-wenn». Wirklich übrig geblieben ist, gemessen an seinen Ideen, nicht viel, ausser einem Strassennamen in einem Aussenbezirk Roms, einigen Bauwerken in Rio und einer Unzahl von städtebaulichen Visionen und Plänen. So entwarf Pietro Caminada schon 60 Jahre vor Baubeginn Pläne für die neue Hauptstadt Brasilia.
Alles andere in den Schatten stellend ist Caminadas Plan einer Wasserstrasse über den Splügen. Der gesamte Wasserweg hätte zwischen Genua und Basel 591 km betragen, 230 km auf Seen und Flüssen, 30 km in doppelten Galerien, 43 km in Röhrensystemen und der Rest in offenen Kanälen. Doch obwohl man Projekt und Ingenieur mit viel Zustimmung und Anerkennung begegnete, wurde das Projekt wohl hauptsächlich aus Geldmangel nie umgesetzt. Nicht zuletzt waren es aber Kriege, die eine Umsetzung verunmöglichten.
Anita Siegfried studierte Archäologie und Kunstgeschichte in Zürich. Auslandaufenthalte nach dem Studium führten sie u.a als Stipenditatin des Istituto Svizzero nach Rom. Später arbeitete sie für ein Projekt des Schweizerischen Nationalfonds und bei der Kantonsarchäologie Zürich. Seit 1994 ist sie freischaffende Autorin. Es entstanden zahlreiche Kinder- und Jugendbücher, Hörfolgen und drei Romane. Die Autorin lebt in Zürich.

