Alain Claude Sulzer «Doppelleben», Galiani

«Doppelleben» ist ein Doppelroman. Zum einen über das Brüderpaar Edmond und Jules Goncourt, die im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle in der Kulturmetropole Paris spielten, aber auch ein Roman über ihre Magd Rose, der sie nach ihrem Tod mit dem Roman „Germinie Lacerteux“ ein Denkmal setzten.

Wer liest, kennt den Prix Goncourt. Ein Preis, der seit 1903 vergeben wird und trotz des nur noch symbolischen Preisgeldes als Preis mit grosser Wirkung entgegengenommen wird. Edmond de Goncourt, der ältere der beiden Goncourt-Brüder initiierte den Preis in seinem Testament durch die Gründung einer Akademie und einer Stiftung. Edmond und sein acht Jahre jüngerer Bruder Jules verfassten als Brüderpaar Romane und Biographien und waren schon zu Lebzeiten Dreh- und Angelpunkt französischer Kultur. Sie hätten wohl durchaus auch das Zeug gehabt, sich der Malerei zuzuwenden. Aber irgendwann, noch im Elternhaus und wohlbehütet in wirtschaftlicher Sicherheit, von Bediensteten umsorgt, wendeten sich die beiden als Tandem der Literatur zu.

Alain Claude Sulzer erzählt vom damals sehr urbanen und selbstbewussten Leben eines Bruderpaars, dass sich mit grossem Selbstverständnis nicht nur in der damaligen Kulturszene, sondern auch in der politischen Upper Class bewegte. Aber das Paar, das sich wie ein Zwillingspaar gebärdete, stets gemeinsam unter dem gleichen Dach lebte und auch gegen aussen als „Einheit“ auftrat, dass sehr gut vernetzt war, hatte gegen Feinde zu kämpfen, die unsichtbar blieben. 

Eine der grossen Plagen der damaligen Zeit war Syphilis, eine ansteckende Geschlechtskrankheit, die bis zur Entdeckung von Penizillin unheilbar war. Jules, der jüngere der beiden Goncourt-Brüder, litt an dieser Krankheit, ohne dass sich die beiden Brüder den immer schlimmer werdenden Symptomen entgegenstellen wollten. Ein Wesenszug, der im Roman von Alain Claude Sulzer symptomatisch für die Zeit, die Gesellschaftsschicht und das moralische Verständnis jener Zeit war. Leben war das Resultat einer Idee. Schriftstellerei „göttliche“ Berufung und Selbstverständlichkeit. Dass das Unternehmen Goncourt nicht ohne Beihilfe funktionieren könnte, übersah man geflissentlich. Auch die Tatsache, dass jene, die unter dem Dach der Schriftstellerbrüder das Schiff auf Kurs hielten als blosses Mobiliar wahrgenommen wurden.

Alain Claude Sulzer «Doppelleben», Galiani, 2022, 304 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-86971-249-9

Alain Claude Sulzer spiegelt die Geschichte der Brüder Goncourt mit dem stillen Leben ihrer Bediensteten. Während die Brüder ihr Dasein als Künstler zelebrieren, sich mit den Wichtigen ihrer Zeit treffen, rauschende Feste feiern und die Exklusivität ihres Daseins als Normalität und Notwendigkeit hinnehmen, arbeiten Bedienstete fast rund um die Uhr im Dienst der Reichen und Privilegierten. Eine dieser Stillen war ihre Magd Rose, die unbemerkt von den Brüdern ein „Doppelleben“ führte. 

Rose, die Haushälterin, die zwar eine schlechte Köchin ist, was man angesichts ihrer Ergebenheit, Diskretion und Zuverlässigkeit über all die Jahre in Kauf nimmt, führt im Haus der Brüder ein unauffälliges Leben, scheinbar ohne Wünsche. Aber dem ist nicht so. Sie verzehrt sich nach Liebe, nach Wärme, will nichts mehr als eine Familie. Von der Liebe immer wieder enttäuscht lernt sie in ihrer Nachbarschaft einen jungen Schuster kennen, verliebt sich und stürzt sich in ein gnadenloses Abhängigkeitsverhältnis, das die Unglückliche an den Rand des Ruins bringt. Ein Unglück allein scheint nicht genug. Rose wird mehrfach schwanger. Aber keines dieser Kinder überlebt. Das, wovon Rose träumt, bleibt ihr verwehrt. Nicht einmal die Schwangerschaften bemerken Edmond und Jules. Die beiden sind zu sehr mit ihrem eigenen Kampf beschäftigt. Aber als Rose sich immer weiter in einer Spirale aus Schulden, Krankheit, Alkohol verliert und stirbt, reiben sich die beiden die Augen und versuchen sich durch einen Roman über eine junge Frau wie Rose ihrer Schuld freizuschreiben. 

Dieser Roman „Germinie Lacerteux“ erschien 1865, 5 Jahre vor dem Tod des jüngeren Bruders Jules. Ein Roman, der in der Literaturgeschichte als Schlüsselroman bezeichnet werden kann, weil zum ersten Mal eine Frau aus unteren Gesellschaftsschichten zur tragenden Protagonisten wird.

„Doppelleben“ ist ein packend geschriebenes Sittengemälde, nicht zuletzt über das Leben in der absoluten Kulturmetropole Europas. Die Spiegelung zweier Existenzen, jener der Brüder Goncourt und der Magd Rose. Letztlich müssen sich beide dem Leben geschlagen geben. Man lebt auf engstem Raum zusammen und berührt sich nie. Alain Claude Sulzer zeichnet genau und mit grosser Geste, hält sich nahe an die Tagebüchern der Brüder Goncourt und schreibt doch in seinem ganz eigenen Stil das erschütternde Doppelporträt zweier völlig gegensätzlich eingebetteter Existenzen. „Doppelleben“ beschreibt einen kurzen Moment des Erwachens einer Gesellschaft, die fast ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution die Privilegien einer Oberklasse noch immer als absolute und unumstössliche Selbstverständlichkeit hinnimmt. Ein Erwachen, das bis in die Gegenwart reicht.

© Galiani

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. «Ein perfekter Kellner», «Zur falschen Zeit», «Aus den Fugen» und zuletzt «Unhaltbare Zustände». Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel

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