Margret Kreidl «Hier schläft das Tier mit Zöpfen», nicht irgendeine Lesung

Margret Kreidl war und ist für zwei Monate Stipendiatin der Kulturstiftung Thurgau im Bodmanhaus in Gottlieben. Nachdem ein übler Stolperer nur einen Monat am Seerhein ermöglichte, wird Margret Kreidl im Sommer 2019 noch einmal einen Monat im Thurgau leben und schreiben. Anlässlich dieses ersten Teils ihres Stipendiats las die Dichterin in einer sonntäglichen Matinee aus ihren letzten beiden Veröffentlichungen.

Leitsätze

Am Anfang steht der Anleger.
Nach einer Bank kommt eine Bank.
An China führt kein Weg vorbei.
Das Defizit ist weiblich.
Zum Erben muss man geboren sein.
Wer nicht arbeitet, hat keine Freizeit.
Geld ist alles, was der Fall ist.
Die unsichtbare Hand führt uns nach Griechenland.
Inflation muss sein.
Jobs gibt es nur in der Mehrzahl.
Man sollte die Kurse nicht vor dem Abend loben.
Leerverkäufe füllen Taschen.
Der Mittelstand ist ein Angstzustand.
Die schwarze Null ist Glod wert.
Der Osterhase legt alle Eier in einen Korb.
Ein Portfolio kann man nicht essen.
Die Quadratur ist die Krise.
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen.
Für den Schweinezyklus braucht man keine Schweine.
Tiger stehen auf tönernen Füssen.
Der Umsatz ist die Summe aller Geschäftsideen.
Vorsorge ist Schicksal.
Morgen weht der Wind von morgen.
Ein X ist ein U, die Wahl hast du.
Wer den Yen nicht ehrt, muss mit dem Dollar rechnen.
Die Zukunft verschwindet in Futures.

(aus «Zitate, Zikaden. Zu den Sätzen, Edition Korrespondenzen, Wien, 2017)

Dass Lyrik nichts Verklärendes haben muss, nicht Romantisierendes, dass Lyrik ganz nah an der Aktualität ist, an den Realitäten, dass Lyrik aufreissen und entblössen kann, dass sie sich nicht ziert und nicht scheut, das alles beweist Margret Kreidl. Die Autorin ist eine Sammlerin. Nicht nur Eindrücke und Zitate aus der Presse (Margret Kreidl ist eine sehr aufmerksame Zeitungsleserin!), sondern Wörter an sich, Wendungen, die aus dem Kontext extrahiert erst recht ihre Wirkung zeigen. So werden wie in den «wirtschaftlichen» Leitsätzen oben, im Alphabet geordnet, aus scheinbarer Wirklichkeit Ausgeschnittenes, zur Paradoxie, ein Gedicht zur Breitseite gegen die Allmacht der Wirtschaft.

Die Kulturstiftung Thurgau gewährte der Dichterin, Hörspielautorin, Dramatikerin aus Wien ein zweimonatiges Stipendium im Bodmanhaus in Gottlieben. Zeit, um neue Ideen wachsen zu lassen, zu schreiben und mit Sicherheit auch das eigene Tun aus anderer Perspektive zu sehen. Für meine Moderation ihrer Lesung im Literaturhaus am Seerhein traf ich die Autorin schon ein paar Wochen zuvor in einem Café am Wasser. Zugegeben, ich war aufgeregt, denn eine Lyrik-Moderation schien mir wesentlich anspruchsvoller als eine, bei der man über einen Roman, eine Geschichte, einen Plot sprechen kann. Aber Margret Kreidl nahm vom ersten Augenblick alles Verkrampfte, alles rein Intellektuelle, zeigte, wie sehr ihre Lyrik nicht nur mit ihrem Blick auf die Unmittelbarkeit verknüpft ist, sondern wie sehr sie Biographisches mit den verschiedensten Stimmen aus der Welt verbindet. Margret Kreidl ist eine Verküpferin, eine sprachliche Verkupplerin.

Sätze im Fluss

Gegen Salzverlust bei großer Hitze
nimm Schwedentabletten und bleib
im Schatten sitzen. Wenn es regnet,
schau aus dem Fenster und schreib
ein Haiku über Pfützen. Mach es wie
die Buddhisten: Sei eine Distelblüte
im Frühlingswind. Lern in Freude
schweben, sagt Walther von der
Vogelweide. Ja, Zitate sind nützlich.
Eine Brücke aus Bleistiftstrichen trägt
die glückliche Leserin: Das bin ich.
Ist Margarethe warm und nass,
gibts viel Frucht und grünes Gras.
Die Schafe reisen auf der Wiese ins
Satte. Ein Esel frisst Rosen. Lies nach
bei Apuleius. Der Hundsstern bringt
die Sätze in Fluss. Ich träume von
Oktobereis in Pfützen und einem
Forellenschluss. Da hast du den Salat:
fest und knackig, aber trotzdem zart.

(aus «Zitate, Zikaden. Zu den Sätzen, Edition Korrespondenzen, Wien, 2017)

«Sätze im Fluss» ist ein dialogisches Gedicht «mit» der Dichterin Zsuzsanna Gahse, mit der Margret Kreidl freundschaftlich verbunden ist.
In «Hier schläft das Tier mit Zöpfen», ihrer neusten Publikation, sammelt Margret Kreidl wieder Gedichte, die um verschiedenste Themen kreisen. Jeder Gedichtband der Autorin ist eine Bibliothek von Namen, eine Ausstellung von Wortbildern. Jedem der Gedichte in «Hier schläft das Tier mit Zöpfen» ist am Seitenende eine Fussnote hinzugestellt, am Schluss ein Hinweis darauf, wo und wie die Autorin das Gedicht an die Wirklichkeit heftet. Eine Fussnote wie ein Türöffner, eine Fussnote, die wie ein Titel wirkt, eine Fussnote, die mich als Leser sehr oft zur Recherche zwang und mit jedem Lesen noch tiefer führte.

Hart
trocken
holzig
zerrieben
Reibefrucht
klein genug
hart genug
Gedicht.

 

Denn das Gedicht ist immer, schreibt Jorge Viegas, der haste Kern einer Revolution.

(aus «Hier schläft das Tier mit Zöpfen. Gedichte mit Fussnoten, Neue Lyrik aus Österreich, 2018)

Margret Kreidl, geboren 1964 in Salzburg, von 1983 bis 1996 in Graz, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Prosa und Lyrik: Sprachspiele, Lautpoesie, Genretravestien, Mate­rialtexte. Textinstallationen im öffentlichen Raum. Veröffentlichungen seit 1986. Hörspiele, Theaterstücke, Minidramen. Zuletzt erschienen 2017 bei Edition Korrespondenzen der Band «Zitat, Zikade – Zu den Sätzen» und 2018 in der Reihe Neue Lyrik aus Österreich «Hier schläft das Tier mit Zöpfen. Gedichte mit Fussnoten».

literaturblatt.ch dankt den Verlagen für die Genehmigung, Auszüge aus Margret Kredits Werk zu veröffentlichen. Fotos © Lucas Cejpek

Annette Mingels «Was alles war», Knaus

Susa weiss seit ihrer Kindheit, dass sie adoptiert wurde. Ein Problem wurde daraus nie, höchstens eine abenteuerliche Vorstellung darüber, was dies alles bedeuten könnte. Bis ein Brief von ihrer leiblichen Mutter eintrifft, sie werde da sein, ob es ihr passe. Mit einem Mal öffnet sich für Susa eine Tür, von der sie nicht weiss, was sich dahinter verbirgt.

Susa ist Wissenschafterin, beobachtet das Leben unter der Erde, Würmer. Sie lernt Henryk kennen mit seinen zwei Töchtern Rena und Paula. Rena und Paula haben ihre Mutter durch Krebs verloren. Während sich Susa langsam in Henryks Familie begibt und nicht nur von ihm Liebe geschenkt bekommt, trifft sie zum ersten Mal ihre leibliche Mutter Viola. Susa erfährt, dass sie eine Halbschwester und zwei Halbbrüder hat, sogar einen leiblichen Vater, der noch leben dürfte, seinen Namen und von einem Brief, ein altes Stück Papier, damals ein Versuch jenes Mannes, Violas Liebe zurückzugewinnen. Aber Susa hat ihre Familie; einen Vater, eine Mutter und eine Schwester. Eine Familie, in der sie sich ein Leben lang geborgen und aufgehoben, verstanden und geliebt wusste. Nichts müsste dazukommen, schon gar nicht ersetzt werden.

Was alles war von Annette Mingels

Susa spürt den Sog dieser einen offenen Tür, die Lust nachzusehen, was diese Tür verbirgt, was Susa gewinnen könnte. Zum einen Antworten auf viele Fragen, die sich jedes adopierte Kind auch als Erwachsener stellt. Zum andern, weil es Familie ist. Familie, dieses komplexe Etwas, das einem genauso auffangen wie an den Abgrund drängen kann. Annette Mingels lotet aus, was Familie ist, was sie ausmacht. Die Autorin zeigt, was Familie auslösen und anrichten kann. Wie viel Sehnsucht in diesem Gefüge steckt, selbst dann, wenn man sich in seinem «Zuhause» aufgehoben fühlt. Die Situation spitzt sich zu, als Susa, nun mit Henryk (und seinen beiden Töchtern) verheiratet, ein Kind bekommt. Als zur angeheirateten und einer Familie «hinter der Tür» eine eigene Familie dazukommt. All diese Familien, miteinander verzahnt, beginnen untereinander zu wirken. Susa kämpft sich durch diesen verwirrenden Alltag, der durch ihre egozentrische, leibliche Mutter, nicht leichter wird. Schon gar nicht, als ihr Stiefvater, jener Mann, der für sie immer ganz Vater war, zu sterben beginnt.

In einem Interview erzählte Annette Mingels, dass vieles von «Was alles war» aus ihrem eigenen Leben stammt. So der Umstand, dass auch sie ganz jung adoptiert wurde und dass sie mit diesem Buch ihre Familienerfahrungen und den Tod des Stiefvaters mit hineinnimmt. Das spüre ich in dem Roman, der an der Nähe zu den Protagonisten fast zu zerschellen droht. Der Roman nimmt ungeheuer viel mit. Einzelne Handlungsstränge, die im Roman nur «Nebenschauplätze» sind, hätten genügt, um Stoff für einen Roman selbst zu sein. So ist es auch die Geschichte von Susa und Henryk. Beide berufstätig, jeder darum bemüht, sich nicht aufzugeben. «Was alles war» ist auch ein «Entdeckerroman». Susa macht sich auf in ein unbekanntes Land, z. B. zu ihrem Bruder Samuel, den sie trifft und zu dem sie sich, obwohl sie ihn nicht kennt, geschwisterlich hingezogen fühlt. Eine Reise, die sie letztlich bis nach Amerika führt.

Ein Buch über Annäherung und Konfrontation. Annäherung an neue Konstellationen, an fremdes Leben, mit dem man sich trotzdem unerklärlich verbunden fühlt. Annäherung an sich selbst und diesen unstillbaren Hunger nach Familie. Konfrontation mit einer unbekannten Mutter, einem bunten Vogel, einer unbekannten Familie, ihrer Vergangenheit und möglichen Zukunft. Konfrontation mit neuem Leben und mit dem Tod – und letztlich mit sich selbst. Ob man (be)stehen bleibt oder ob all der Realitäten einbricht.

Annette Mingels macht es mir nicht leicht. Ihr Schreiben ist weit weg vom chronologischen Protokollieren einer Fahrt ins Unbekannte, auch wenn ein Teil des Buches wie ein Tagebuch geschrieben ist. Annette Mingels belohnt mich mit Tiefe, Witz und Humor.

Annette Mingels liest aus ihrem Roman «Was alles war» am 22. September im Bodman-Haus, dem kleinen, feinen Literaturhaus in Gottlieben am Seerhein, unweit von Konstanz. Ich bin gespannt, ob sich auch männliche Leser trauen. Familie ist keine Frauensache!

Geboren 1971 in Köln. Studium der Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Von 1997 bis 2009 lebte Annette Mingels in der Schweiz, danach für zwei Jahre in Montclair (USA). Seit 2011 lebt sie mit ihrem Mann und den drei Kindern in Hamburg.

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Titelfoto: Sandra Kottonau