Er kam, siegte und ging. Christian Kracht

Christian Kracht hat ihn, den Preis. Und da er ihn hatte, ging er. Andere hätten gedankt, einige Worte an all jene gerichtet, die sein Buch gelesen hatten und durchaus mitfieberten. Zurück liess er ein ratloses Publikum.

83 Titel standen an, 5 schafften es auf die Shortlist. Zum 9. Mal und mit 30000 Franken dotiert. Nach einem Lesemarathon im In- und Ausland sassen die 5 Nominierten in der ersten Reihe, mit Sicherheit nicht alle ruhig und gelassen. Nachdem die letzten 5 in den letzten Wochen und Monaten heftigst img_0161besprochen, diskutiert, hoch gelobt und zerrissen wurden, während man andere Namen vermisste, bestach die Jury in ihrer Auswahl zum diesjährigen Schweizer Buchpreis durch Vielfalt, Besonder- und Eigenheiten. Der Buchpreis ist nicht das Fest des Siegers, des «übrig gebliebenen Buches», sondern ein Fest der Literatur, des Buches, dem für einmal ausserordentlich viel Publikum lauscht, ganz anders als an all den Lesungen sonst, bei denen es manchmal nur ein Dutzend zu Veranstaltungen lockt.

Kurz vor Mittag, Sonntag, 13. November 2016. Nachdem alle 5 Nominierten ihrer Laudatio lauschten und freundlich mit dem Publikum applaudierten, positionierten sich Kameraleute und Fotografen vor der ersten Stuhlreihe, während ein Mann mit Kravatte in einer trockenen Mitteilung den Schweizer Buchpreisträger verkündete. Im Anschluss verriet mir die Nominierte Michèle Steinbeck: «Aufgeregt war ich nicht, bis auf diesen einen Moment, als sich die Sucher und Objektive auf mich richteten und ich mich bemühen musste, auf keinen Fall den Eindruck von Enttäuschung zu erzeugen. Enttäuschung, die es nie und nimmer gewesen wäre.»

Eine Preisverleihung mit überraschenden Nominierungen, aber wenig Überraschung über das finale Urteil der Jury. Christian Kracht, sich endlich seines Schals und Mantels entledigend, stieg auf die Bühne, umarmte die eine und den andern, versteckte sich hinter einem übergrossen Blumenstauss, warf einen Blick auf das «Urteil» und verzog sich schnellstmöglich aus dem Gewimmel jener, die mit Gläsern auf eine paar Worte warteten. No comment!

(Titelbild: Werner Biegger)

Liest Zürich? Bestimmt Christian Kracht!

An 5 Tagen 180 Veranstaltungen rund um das Buch in Zürich, Winterthur und Umgebung. Klar, man sah einige Fahnen, Plakate – aber liest Zürich? Sieht man an diesen Tagen mehr Menschen in Zürich, die mit Buch oder eBook sitzen, stehen oder liegen und sich wegtragen lassen?

Liest Zürich, wenn ein Autor von Wien nach Winterthur reist, um aus seinem neuen Roman vorzulesen und es sitzt ein knappes Dutzend da und hört zu? Liest Zürich, wenn Christian Kracht im neuen Auditorium des Landesmuseums liest und der grosse Saal bis auf den letzten Platz proppenvoll ist? Sind das Leserinnen und Leser oder bloss solche, die eine Nase voll von dem mitbekommen wollen, was in den Medien rund um Christian Kracht breitgeschlagen wird? Spüre ich da leise Enttäuschung, wenn Christian Kracht bloss liest, erst noch lange und sich schlussendlich freundlich vor dem Publikum verbeugend, so gar nicht spektakulär? Nichts und niemanden niederreisst? Nicht der kleinste Disput, nachdem man ihn in der Kritik aus lauter Irritation und Verunsicherung entweder in den Himmel lobte oder als Machwerk zerriss.

Liest Zürich? Wahrscheinlich ebenso selten wie der Rest der Schweiz. Umso löblicher, dass «Zürich liest» so viele potente Partner mit ins Boot holen konnte, die ein solches Festival mit so vielen Veranstaltungen, Veranstaltungsorten und Akteuren überhaupt durchführen konnte. Umso schöner, dass man sich nicht entmutigen lässt und das Tram weiterhin mit Autoren und Publikum durch die Stadt fahren lässt, das Schiff auf dem See, Sofalesungen veranstaltet und grosse Namen der Literatur einlädt, wie den Niederländischen Erfolgsautor Arnon Grünberg, den Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino oder die indisch-französische Autorin Shumona Sinha, die mit dem Roman «Erschlagt die Armen» nicht nur literarisch für Schlagzeilen sorgte. Und eben Christian Kracht.

© Frauke Finsterwalder 2016
© Frauke Finsterwalder 2016

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren und schon mit seinen Romanen «Faserland», «1979», «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» und «Imperium» in 30 Sprachen übersetzt und von der Kritik heftig besprochen, veröffentlichte diesen Herbst seinen neuen Roman «Die Toten». Ein Roman, der in den Jahren der Weimarer Republik spielt, wo der Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli beauftragt wird, eine cineastische Gegenkraft, eine vereinte Achse zwischen Deutschland und Japan zu formieren gegen die beginnende Übermacht des boomenden Hollywood-Imperiums. Aber weil Christian Kracht Christian Kracht ist, geht es dem Autor in seiner Literatur nicht um den Transport einer Geschichte. Literatur soll 9783462045543Kunst sein, Kunstwerk. Bei jeder anderen Kunstgattung ist die mögliche Provokation mit eingeschlossen. Und ausgerechnet in der Literatur gibt man sich dupiert, ja fast beleidigt, wenn man als Leser und erst recht als Kititker verunsichert wird. Dabei sind Autoren wie Christian Kracht genau das, wonach es schreit; Autoren, die wagen, die verunsichern, irritieren, vielleicht sogar polarisieren. Und die Kritik ist irritiert. Irritiert von der Geschichte, weil sich Christian Kracht nicht um Konventionen und Gepflogenheiten zu kümmern scheint. Irritiert vom Ton, der sein Schreiben so eigen-artig macht. Irritiert, weil man vergeblich nach einer Message sucht, weil Verunsicherung zum Programm gehört. Irritiert, weil sich Christian Kracht auch schon nach seinem letzten Roman «Das Imperium» nicht um die kruden Behauptungen eines Spiegelberichts kümmerte, der seinem Schreiben einen Rechtsdreh andichten wollte.

Christian Kracht las fast 90 Minuten im unterkühlten Neubau des Landesmuseums, mit Mantel und Schal. Und es lauschten alle, weil jeder, der lauschte, spürte, dass da etwas Spezielles klingt.

Ich freue mich, wenn Zürich wieder liest, im Herbst 2017.

 

 

Matthias Brandt «Raumpatrouille», Kiepenheuer & Witsch

Matthias Brandt ist Schauspieler, einer der bekanntesten in Deutschland, seit Jahren mit grosser Resonanz vor der Kamera.»Raumpatrouille» sind Geschichten aus seiner Kindheit, Teil eines gemeinsamen Projekts mit seinem Bühnenpartner und Musiker Jens Thomas. Geschichten im Buch, die in den Songs des Albums «Memory Boy» mitschwingen, auch auf der Bühne.

Auf einem Schwarz-Weiss-Foto, dass ich wohl irgendwann irgendwo aufschnappte, sah ich den Jungen Matthias Brand zusammen mit seinem Vater auf einem Felsrücken in die Kamera lachen. Sein Vater war Willy Brand, SPD-Galionsfigur und Bundeskanzler im Kalten Krieg. Matthias Brand erinnert sich in seinem literarischen Debüt an seine Kindheit in den Siebzigerjahren «in einer kleinen Stadt am Rhein, die damals Bundeshauptstadt war». Familie Brandt lebte in einem grossen Haus, in direkter Nachbarschaft mit anderer Politprominenz, leidlich bewacht, bestens versorgt, letztlich wohl vom grossen Rest der Bevölkerung abgehoben. Der junge Matthias aber realisiert nur am Rande, dass sich sein Zuhause wohl doch von anderen unterscheidet, dass die Köpfe des rauchenden, älteren Mannes auf den übergrossen Plakaten in der Stadt Abbilder seines Vaters sind.
978346204567314 Geschichten aus einem Zuhause, das sich letztlich kaum von anderen unterscheidet; Ein Vater kaum da, immer auf Achse, eine Mutter in Sorge mit latenten Fluchtgedanken und Geschwistern in anderen Welten. Dafür Besonderheiten wie Wachpersonal im Kabuff bei der Einfahrt zum Grundstück, der gelegentlichen Tasse Schokolade mit dem kranken und greisen Altbundeskanzler Heinrich Lübke aus der Nachbarschaft oder ganz Üblichem wie der Sehnsucht nach den Weiten des Universums mit der Raumpatrouille Orion, dem Hund Gabor und vielen, vielem mehr.

Matthias Brandt leuchtet zurück in eine Kindheit, in ein Stück bundesdeutsche Geschichte, Fahrradtouren mit innenpolitischen Auswirkungen und der Angst des Torwarts vor dem… Lesen Sie dieses Buch. Matthias Brandt erzählt seine nordrhein-westfälischen Schmankerln gekonnt!

autor_1780Matthias Brandt, geboren 1961 in Berlin als jüngster Sohn von Rut und Willy Brandt, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Er war an renommierten deutschsprachigen Theatern engagiert, in den letzten Jahren arbeitete er hauptsächlich vor der Kamera. Für seine Leistungen ist er vielfach ausgezeichnet worden.

Webseite des gemeinsamen Projekts «Raumpatrouille & Memory Boy»

Webseite von Brandt und Thomas

Webseite von Jens Thomas mit Hörproben zur CD «Memory Boy»

(Titelfoto: Sandra Kottonau)

Paula Fürstenberg «Familie der geflügelten Tiger», Kiepenheuer & Witsch

Jeder braucht eine Geschichte, eine Spur der Gewissheit, wer man ist und woher man kommt. Mit Sicherheit ist die Ungewissheit über das Woher schwer zu ertragen, erst recht dann, wenn aus der Not ein Konstrukt entsteht, dass einen zu erdrücken droht, zum Alp wird, über den Abgrund zieht, sich wie ein kalter Nebel in alles hineinschleicht.

Seit ein paar Wochen prangt an einer Wand in Johannas Wohnung die Ebsdorfer Weltkarte, eine illustrierte Ansicht der bekannten Welt aus dem Mittelalter, mehr Abbild von Vorstellungen und kollektiven Ängsten als Abbild von Wahrscheinlichkeiten. Genauso ist Johannas Blick auf ihre eigene Geschichte. Doch so sehr sie Landkarten aller Art liebt und sammelt, so sehr wird die Suche nach dem Abbild ihrer eigenen Herkunft und Geschichte zu einem Feldzug gegen die Familie. „Ich bin die einzige Narbe am Körper meiner Mutter, dachte ich und 9783462048759wünschte mir, ich hätte meinen Vater als Kind auch eine zugefügt.“ Jens, Johannas Vater, ist aus der Familie ausgetreten, weggegangen und nie zurückgekehrt, als Johanna noch ein Kind war. Ein halbes Jahr nach seinem Verschwinden kam eine läppische Karte. Noch später blieben alle Zeichen aus. Johannas Vater ein Republikflüchtling? „Andere Kinder hatten imaginäre Freunde oder imaginäre Superhelden; ich hatte einen imaginären Vater.“ So wie ihre Mutter, die eigentlich das Zeug und die Ausbildung zur Tierärztin hätte, den Mist in den Gehegen des städtischen Zoos zusammennimmt, lernt sie im von der Mauer befreiten Berlin Strassenbahnführerin, von der Mutter unverstanden und bis zu ihrem Auszug mit Ratgebern aller Art bombardiert.

Und dann, wie aus dem Nichts, ruft Johannas Vater an. Mit einem einzigen Anruf aufs Band bringt ein verschollen Geglaubter die zusammengeschusterte Gegenwart Johannas durcheinander. Er liegt im Krankenhaus, hat Krebs im Endstadium. Urplötzlich taucht Vergangenheit auf und droht sich durch eine lebensvernichtende Krankheit schon wieder aus dem Staub zu machen.

Johanna will wissen, was geschah, traut sich ins Krankenzimmer mit den vielen Schläuchen, um erneut fürchten zu müssen, dass sich ihr Vater absetzt, ohne ihr das zurückzugeben, was ihr ein Leben lang fehlte – Gewissheiten. Und wieder rammen Vermutungen Pfähle ins Herz Johannas, so sehr, dass sie sich gänzlich zu verlieren droht.

Was Paula Fürstenberg mit ihrem ersten Roman schafft, ist ganz erstaunlich. Sie erzählt ein Stück deutsche Geschichte, die Ausgrenzung, den Mauerfall in einer Familie. Eigenwillig konstruiert begleite ich eine junge Frau durch die emotionale Achterbahnfahrt auf der Suche nach Geschichte, nach Wurzeln, der Sehnsucht nach Gewissheit.

„In einer Familie gibt es keine Wahrheit, es gibt nur Geschichten.“

autor_1814Paula Fürstenberg, Jahrgang 1987, wuchs in Potsdam auf. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Frankreich studierte sie von 2008 bis 2011 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Seither lebt, schreibt und studiert sie in Berlin. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Hattinger Förderpreis für Junge Literatur und dem Arbeitsstipendium des Landes Brandenburg; 2014 war sie Stipendiatin der Autorenwerkstatt am Literarischen Colloquium Berlin. «Familie der geflügelten Tiger» ist ihr erster Roman.

Lesevideo

literaturblatt.ch fragt, Teil 3, Klaus Modick antwortet.

Von Klaus Modick, zuhause im norddeutschen Oldenburg, las ich erstmals 1986 einen Roman. Damals machte er in seinem dritten Roman «Das Grau der Karolinen» ein Bild und die detektivische Suche nach dessen Maler zum Thema eines Buches über das Sehen und die Farben. Seither ist aus den Büchern Klaus Modicks die Zierde eines grossen Stücks Bücherregal geworden und aus dem Autor ein «Schriftsteller meines Herzens».

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Es geht mir um gut erzählte Geschichten, und mit „gut erzählt“ meine ich eine unprätentiöse Schreibweise, die auf stilistische Effekthascherei verzichtet und zugleich Abstand zum Trivialen hält. Und dafür möchte ich, bitte sehr, geliebt werden!

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Der schönste Moment ist der Schlusspunkt eines Romans, der schwierigste das erste Wort. Furcht kenne ich nicht, aber Blockaden.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Viele Bücher, die ich im Lauf der Jahre gelesen, viel Musik, die ich gehört habe, murmeln lautlos mit.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Die Schreibenden verfügen über die so genannte Macht des Wortes, aber sie sind deshalb nicht klüger oder dümmer als andere Künstler. Als Literat hat man allerdings Verantwortung – nämlich die, gut zu schreiben.

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Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Ob mein Schreiben etwas bei meinen Lesern schärft, weiß ich nicht. Bei mir schärft es die Selbstkritik.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibender mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Ich brauche Ruhe zum Arbeiten, aber bei der Arbeit bin ich nicht einsam – siehe Antwort Nr. 3! Einsam fühle ich mich manchmal in Gesellschaft.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Hermann Kinder: Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit. Wunderbares Buch eines notorisch unterschätzten Autors.

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Das Große Wilhelm Busch Album
Theodor W. Adorno: Minima Moralia
Leonard Cohen: The Lyrics

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich hätte Germanistikprofessor oder Studienrat werden können, Deutsch und Geschichte. Ich hätte auch der Werbetexter bleiben können, der ich war, als es mit der Schriftstellerei ernst wurde.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Alle zwei oder drei Monate trage ich einen gut gefüllten Karton zum Antiquar.

Klaus Modick, vielen Dank!

autor_1590[1]Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger und arbeitete danach u.a. als Lehrbeauftragter und Werbetexter. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach zahlreichen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sein Roman «Konzert ohne Dichter» erschien im Frühjahr 2015 und wurde schnell zum Bestseller.

9783462047417[1]In «Konzert ohne Dichter» erzählt Klaus Modick die Entstehungsgeschichte des berühmtesten Worpsweder Gemäldes, von einer schwierigen Künstlerfreundschaft – und von der Liebe. Heinrich Vogeler ist auf der Höhe seines Erfolgs. Im Juni 1905 wird ihm die Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft verliehen – für sein Gesamtwerk, besonders aber für das nach fünfjähriger Arbeit fertiggestellte Bild «Das Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhoff». Während es in der Öffentlichkeit als Meisterwerk gefeiert wird, ist es für Vogeler das Resultat eines dreifachen Scheiterns: In seiner Ehe kriselt es, sein künstlerisches Selbstbewusstsein wankt, und eine fragile Freundschaft zerbricht. Rainer Maria Rilke, der literarische Stern am Himmel der Worpsweder Künstlerkolonie, und sein Seelenverwandter Vogeler haben sich entfremdet – und das Bild bringt das zum Ausdruck: Rilkes Platz zwischen den Frauen, die er liebt, bleibt demonstrativ leer. Was die beiden zueinanderführte und später trennte, welchen Anteil die Frauen daran hatten, die Kunst, das Geld und die Politik, davon erzählt Klaus Modick auf kunstvolle Weise. Ein großartiger Künstlerroman, einfühlsam, kenntnisreich, atmosphärisch und klug.

Das war der 3. Teil einer kleinen Reihe. Am 15. August antwortet Beat Brechbühl. Seien Sie wieder dabei!

21. Literaturfestival Leukerbad: Sprachgewalt aus dem Osten – Kissina und Sorokin

Julia Kissina aus der Ukraine, lange Jahre in Moskau lebend, und die beiden grossen Russen Victor Jerofejew und Vladimir Sorokin: laute Stimmen aus dem Osten, opulent, der Zeit enthoben, verspielt und gleichsam kritisch, der russischen Seele den Spiegel vorhaltend.

Wo sich Schweizer Literatur allzu oft mit der persönlichen Befindlichkeit herumschlägt, schien diese zumindest bei diesen drei Gästen in Leukerbad kaum ernstzunehmendes Thema zu sein. Die russische Seele scheint weiträumiger zu sein, gewohnt, in weiten Dimensionen zu empfinden. Blicke sind viel mehr nach aussen gerichtet als nach innen gerichtet, über die Realität hinaus ins Surreale, die Sprache nicht bloss zum Skizzieren, um mögliche Realitäten entstehen zu lassen, sondern mit grellen Farben weit über die Grenzen hinausspritzend, nicht zögerlich, nicht vorsichtig und nicht zurückhaltend! Mit grossen Gesten, selbstbewusst, Raum einnehmend.

Kissina[1]Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den Achtzigern und Neunzigern zur neuen russischen Avantgarde zusammen mit Vladimir Sorokin. Julia Kissina schafft mit Literatur das, was kein Hollywoodfilm, keine Massenmusik, kein grelles Bild, kein gefälliges Theaterspektakel vermag. Sie evoziert Bilder, die sich mit ihrem Geschehen, in Kulissen, Farben und Gerüchen wie durch ein Kaleidoskop in meinem Kopf dauernd neu erfinden, ineinande42532[1]rgreifen, nicht wirklich fassbar. Ihre Geschichte flackert, gibt den einen Moment in aller Deutlichkeit preis, um ihn im nächsten Abschnitt zu kippen. Die Autorin ist mit einer Art des Wahrnehmens gesegnet, einem ganz besonderen Sensorium, das mir selbst und wohl den meisten Menschen verwehrt bleibt. Keine Ahnung, ob zu ihrem Segen! Aber wenn ich lese, was und wie sie schreibt, spüre und höre ich in mir, dass es Zwischentöne geben muss, von denen ich in meinem Alltag nicht einmal eine Ahnung habe.

Seit 1995, als von Vladimir Sorokin «Die Schlange» erschien, legt kaum ein russischer Autor so sehr seine Finger in die offenen Wunden der russischen Seele. Sorokin ist ein Thermometer des ruautor_1177[1]ssischen Befindens, das Buch trotz seines Geschehens in der Zukunft eine Antiutopie. Sorokins neuer Roman «Telluria» das Panorama einer dramatisch veränderten Welt, eine «Discokugel» aus 50 verschiedenen Spiegeln zusammengesetzt, 50 Bilder über grosse Träume, Alpträume, über den Kampf um Tellurianägel, eine Droge, die in den Scheitel getrieben, den Alltag und die Umwelt viel näher werden lassen.

Sorokin, ein Mann, der, während er spricht, oft nach Worten zu suchen scheint, Atem schöpft, um einen kurzen Moment nachzudenken, beinahe unsicher, der Kultautor aus Russland. Wenn dann aber seine Begleiterin übersetzt, was er 9783462048117[1]sagt, staune ich über die Klarheit, die Deutlichkeit seiner Worte; wenig, wie in Stein gehauen. Sorokin erschafft einen eigenen, phantastischen Kosmos, der phasenweise mehr an Computerspiele und die Bilder von Hyronimus Bosch erinnert, als an die russisch reale Gegenwart. Ein Text mit 50 Augen, einem grossen Fazettenauge, das versucht, die Welt neu und anders zu sehen. Es braucht Mut, den Roman zu lesen.

Julia Kissina «Elephantinas Moskauer Jahre», Suhrkamp (Video zum Buch)
Vladimir Sorokin «Telluria», Kiepenheuer & Witsch

Michael Kumpfmüller «Die Erziehung des Mannes», Kiepenheuer & Witsch

Nein, kein Sachbuch, auch kein Erfahrungsbericht, sondern ein Roman darüber, wie ein Mann durch Anpassung allein eben nicht zum Mann wird. Lernt man etwas bei der Lektüre dieses Buches, wo doch der Titel einiges verspricht, vor allem all den Frauen, die dieses Buch erwerben? Das Versprechen wird eingelöst, aber eben literarisch. Michael Kumpfmüller erzählt exemplarisch Georgs Geschichte, einen langen Kampf um Liebe, schon als Kind begonnen. Georgs Vater nimmt sich mit aller Selbstverständlichkeit und Offenheit im Schosse seiner Familie neben der Ehefrau eine Geliebte, während Georgs Mutter leidet, unsichtbar für den Mann, aber ein Alp für die Kinder. Der Autor setzt dem Protagonisten den Stachel, das Wissen, dass es gerade in der Liebe mit Sicherheit keine Sicherheit gibt, alles den Irrtum impliziert. «War das Leben nicht dazu da, dass man es lebte, unvermeidliche Irrtümer eingeschlossen? Wer sich nie irrte, lebte nicht, so viel meinte ich begriffen zu haben, wobei ich auch das Gegenteil dachte.» Georgs Vater straft gerne, entzieht Liebe macht die Klappe zu, auch als Georg sich gegen Jura aber für Musik entscheidet. Nach ersten Liebesversuchen trifft er Karin, lebt sieben Jahre mit ihr zusammen, ohne einmal mit ihr zu schlafen. Sie will nicht. Er duldet es, «käme sich schäbig vor, sich zu trennen». Dann ist es Jule, die zuerst so ganz anders ist, Kinder will und auch heftig tut, dass es geschieht, ihn heiratet, was Georg einerseits schmeichelt aber gleichsam von einer Tatsache in die nächste stösst. «In diesem einen Moment hatte ich gewusst, wer Jule für mich war. Ein kleiner, leuchtender Punkt, etwas, das mich aus allerfernster Ferne berührte, ein Versprechen mehr als eine Tatsache, etwas, an dem ich nicht achtlos vorübergehen zu dürfen glaubte.» Aus Leidenschaft wird Ehekrach und Scheidungskrieg vor den Augen dreier Kinder, all das, was den Vater eine Generation zuvor nicht zu bewegen schien.

Michael Kumpfmüller schreibt von den Schrecken des Mannseins, der Verunsicherung darüber, wie Mannsein allein nicht genügt, wie sehr einem das Leben aus der Hand genommen und zerrissen werden kann. Georg ist kein Verlierer, aber ein von Verunsicherung Gepeinigter. Michael Kumpfmüller spielt mit dem Nerv der Zeit. Braucht es mehr als die Liebe eines Menschen, um zu überleben? Bei Georg ist es die Musik.