«Jürgen Ploog, eine Gegenfigur zum etablierten Literaturbetrieb» von Florian Vetsch

Das Spielen mit Bombensplittern gehörte für den 1935 in München geborenen Jungen zu den Illuminationen im tristen Kriegsalltag. «Ich habe nie unter der Bettdecke Bücher verschlungen. Nach dem Krieg war keine Zeit fürs Lesen.» Es folgt ein Schnitt: Der Adoleszente verbringt ein Jahr in den USA und kehrt mit einem glühenden Interesse an der transatlantischen Subkultur nach Deutschland zurück. Er bricht ein Studium der Gebrauchsgrafik ab, heuert bei der Deutschen Lufthansa an, absolviert die Pilotenausbildung und fliegt schliesslich 33 Jahre lang in deren Langstreckendienst. Das sichert Jürgen Ploogs bürgerliche Existenz, neben der es aber diejenige des Autors gibt: «Ich bin doppelt belastbar.»

Ploogs erste literarische Versuche erscheinen in Zeitschriften, wobei sich rasch die Montage, dann das Schneiden als bevorzugte Schreibmethode abzeichnen. Der Schnitt entspricht dem unsteten, diskontinuierlichen Pilotenleben: 10 Tage zu Hause in Frankfurt, dann New York, dann Buenos Aires, dann Sydney, Kalkutta, Port Said… Jürgen Ploog wendet seit den frühen 1960er Jahren – im direkten Anschluss an ihre Erfindung in Paris durch Brion Gysin im September 1959 – die Cut-up-Methode an:

«Nehmt ein buch irgendein buch
zerschneidet es
zerschneidet
prosa
gedichte
zeitungen
zeitschriften
die bibel
den koran
das buch von moroni
lao-tse
konfuzius
das bhagawadgita
irgendwas
briefe
geschäftskorrespondenz
werbung
alle wörter

schlitzt es der mitte nach auf würfelt
die abschnitte zusammen
wie es euerm geschmack entspricht
schneidet ein wenig bibel hinein
streut ein wenig werbeprosa
darüber
mischt es wie karten werfts
wie konfetti herum
schmeckt es ab wie kochendheisse
buchstabensuppe

gebt die briefe eurer freunde
euer durchschlagspapier
durch irgendein sieb das ihr findet
oder erfindet

ihr werdet bald sehen
was sie in wirklichkeit sind
und sagen dies ist die ultimative methode
der wahrheitsfindung

reimt ein meisterwerk zusammen
pro woche
verwertet bessere materialien
hochexplosivere wörter

es ist nicht länger nötig eine zeit
der genies
anzubahnen seid euer eigener agent»

Mit diesen Worten rief Brion Gysin 1960 in Minutes To Go zur allgemeinen Anwendung der Cut-up-Methode auf. Und einer seiner Komplizen wurde der junge Ploog, der sich zum konsequentesten deutschsprachigen Cut-up-Autor mausern sollte – um nicht mit Carl Weissner zu sagen: zum «besten deutschen Cut-up-Autor». Wie William S. Burroughs, zu dessen persönlichen Kollaborateuren Ploog seit 1969 zählte, entwickelte er Gysins Erfindung zu einem eigenen Stil weiter.

Cut-up oder die Durchkreuzung des Nullpunkts der Literatur. Was erscheint auf der anderen Seite? Was passiert nach dem Durchbruch in den Grauen Raum? Welche Gestalten und Prozesse treten jenseits des Flusses in Erscheinung? Ploogs Schriften stellen zweifellos eine Antwort auf diese Fragen dar.

Einen politischen Spiegel fand die anarchische Schnittmethode in den linkstheoretischen Pamphleten von Kropotkin oder Herbert Marcuse, die Ploog als schmale Hefte in der Nova Press abdruckte. Doch seine eigenen frühen Experimente mündeten in ein Buch, das 1969 im Melzer Verlag erschien, ins Cola-Hinterland, das nur deshalb nicht «Coca-Cola Hinterland» heisst, weil Ploog den Darmstädter Kleinverleger Joseph Melzer von allem Anfang an vor einer millionenschweren Klage des Riesenkonzerns bewahren wollte. Cola-Hinterland wird – wie die späteren Bücher von Ploog – vom offiziellen Feuilleton weitgehend ignoriert, ver- oder geschmäht, erlangt aber in subliterarisch orientierten Kreisen Kultstatus.

Ploogs frühe Prosa zeichnet sich durch harte, rasche Schnitte aus, durch Atemlosigkeit und hohe Pressur, durch einen dissoziativen Bewusstseinsstrom, durch ständiges Auf-Zack-Sein gleichsam: «Ich versuche zu schlafen/Durcheinander aus Nerven Kreislaufschwächen & Sex-Gerüchen nach einem türkischen Bad/ die Kabine erinnerte mich immer stärker an eine Zelle/ ‹versuche dir den Orgasmus bewusst zu machen› sagte Suzie Geruch kirgisischer Haut zurücklassend – (…) gerade noch trinkbares Wasser wird von Syros gebracht… waschen ist unmöglich… es wären mindestens 5 Dimensionen nötig um eine solche Reise zu beschreiben… um der erdrückenden Gewissheit zu entgehen dass 20 000 Jahre Geschichte verspielt sind… es wurde spät, der Wind rappelte – Nordwind – das Postboot werde nicht kommen. Sagte der Kapitän… keine Spur von Kalypso… wenigstens heissen Kaffee zum Frühstück?»

Jürgen Ploog: Collage

Ploog ist kein Einzelkämpfer. In seiner Frankfurter Wohnung trifft sich, von der lokalen Szene bizarr und dandyhaft umschwirrt, die Underground-Avantgarde, darunter Jörg Fauser, Carl Weissner, Wolf Wondratschek und Udo Breger. Fauser setzt in seinem dieser Zeit gewidmeten autobiografischen Roman Rohstoff (1984) Jürgen Ploog unter dem Pseudonym Anatol Stern ein Denkmal: «Manchmal ging ich nach Feierabend zu Anatol Stern. Er lebte mit Frau und Tochter im Westend. Stern war im Hauptberuf Pilot, das Schreiben erledigte er nebenher, meistens in den Hotels, in denen die Crews abstiegen, in Karachi, Bombay, Bangkok, New York, Los Angeles, Rio. Seine Frau war außerordentlich attraktiv und gastfreundlich. Es schienen eine Menge Hippies und Junkies in der Wohnung zu verkehren, aber nach und nach bekam ich mit, dass es Literaturstudenten waren, Models, Boutiquenbesitzerinnen, Künstler, Autoren. Alle trugen lange, fließende Gewänder und lange, wehende Haare und waren mit Ketten, Ringen, Tüchern, Zöpfen, Glasperlen behängt. Unentwegt kreisten die Joints und die Teekannen.»

Ploog veröffentlicht nicht nur weitere Bücher, sondern gibt auch die Zeitschrift Gasolin 23 und, zusammen mit Walter Hartmann und Pociao, 1980 den Reader Amok/Koma – Ein Bericht zur Lage (Expanded Media Editions, Bonn) heraus. Das little mag Gasolin 23 erscheint mit einer fingierten ersten Nummer in acht Ausgaben von 1972 bis 1986. Es verdankt seinen Namen der Zusammenführung der Schicksalsziffer 23 mit dem ins Deutsche transponierten Titel des Gedichtbands Gasoline von Gregory Corso (City Lights, San Francisco 1958). Ploog sagt dazu: «Der Aufbruch im Kulturellen übers rein Rhetorische hinaus zeigte sich uns in der Entwicklung von Beat-Literatur & weiterführenden experimentellen Techniken wie Cut-up, wo sich zeitgemäßes Bewusstsein am direktesten & unverfälschtesten niederschlug. Deswegen sahen wir in Arbeiten von Burroughs, Kerouac, Ginsberg, Pélieu & Norse eine Art Leitmotiv. Entwicklungen auf besonderen Gebieten wie etwa dem Trivialen (Raymond Chandler) oder der Story (Charles Bukowski) zeichneten sich ab. Wir behandelten das nicht theoretisch, sondern belegten Einflüsse & Auseinandersetzungen durch eigene ästhetische Versuche, Übersetzungen oder auch Counterscripte. Wir erfanden die Zeitschrift also, ‹um unabhängiges, nicht zensiertes Schreiben am Leben zu erhalten›. Damit ist nicht etwa eine institutionelle Zensur gemeint (die es hier nicht gibt, sonst könnten wir zweifellos nicht veröffentlichen), sondern die Zensur, die der etablierte Begriff von tradierter ‹Kultur› immanent ausübt.»

Aber Ploogs Schreibe unterwandert nicht nur aufgrund expliziter politischer Äusserungen, randständiger Publikationsstrategien oder der anarchischen Schnittmethode die Konventionen. Es sind auch seine Motive, die mit allen moralischen Standards der konventionellen Literatur brechen. Durch das Universum der Ploog-Texte treiben massenhaft politisch inkorrekte Elemente: Pornografisches, Sodomie, Sexismen, Betrug, Diebstahl, Terror und Gewaltverherrlichungen… Doch keines dieser Elemente bleibt ungebrochen. Die Messermethode dekodiert sie, macht ihre Abgründe transparent, konterkariert sie mit wesensfremdem Material oder führt sie in gewitzten variativen Durchläufen, sogenannten Routines, ad absurdum. Schnitt und Falz deterritorialisieren Machtansprüche, Engführungen und Schrecknisse, kappen Erwartungshaltungen. Deshalb sei vor oberflächlichen Lesarten dieser Prosa gewarnt, auch wenn es klar ist, dass wir mit Ploogs Werken eine rotledern eingefasste dunkle Phiole aus dem Giftschrank für die Menschheit in Händen halten, ein wortalchemistisches Abenteuer eines Zöglings aus der Schule des Marquis de Sade, eine schwarzromantische Ausschweifung eines «Weltraumjunkies», eine Zumutung, ein Wagnis, aber auch ein besonderes Album der deutschen Subliteratur, die im Schatten der Gruppe 47 in den Sixties und Seventies zählebig und innovativ Wurzeln schlug – neben Hubert Fichte, Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann auch hier, mitten im Kreis der Gasolin 23.

«Ein alter blaustichiger Porno, der an jeder Stelle reissen kann»… Ploog und seine Komplizen leisteten einen namhaften Beitrag zur Verbreitung «kosmo-orgasmonautischer Produkte», zum Sexualisierungsprozess ihrer Epoche, den Klaus Theweleit in seinen Ghosts-Vorträgen (Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/M 1998) treffend als «Salzen» im Widerspiel von «Salzen & Entsalzen», von Enthemmung und Hemmung, bezeichnet hat. Stimuliert u.a. von Wilhelm Reichs Orgon-Schriften, startete in den 1960er Jahren, feministisch oft unterbelichtet, der Prozess einer selbstbestimmten Befreiungssexualität, der, um an Äusserungen von Peter Sloterdijk anzuknüpfen, den «Orgasmus links» definierte.

In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf: Gibt es einen anderen deutschsprachigen Autor, der so intensiv wie Jürgen Ploog an den Grenz- und Zentralgebieten des Sexus, an den Perversionen, Fantasien und Gelüsten der Wunschmaschine Mann gearbeitet hat? Einen «Beitrag zur kybernetischen Erotik» nannte Ploog im Untertitel seine lange Erzählung Die Fickmaschine (Expanded Media Editions, Göttingen 1970), und zwei seiner jüngeren Titel lauten ebenso signifikant: Lustspuren oder Die Exekution der Sinne bzw. Kleine Pornografie des Reisens (Moloko Print, Pretzien 2012 bzw. 2017). Ploogs Arbeiten stellen, wie etwa die Bücher der von ihm hoch geschätzten Punk-Ikone Kathy Acker, eine Literatur des Begehrens dar.

In seiner Prosa verfolgt er seit den 1980er Jahren vermehrt Ansätze zu Geschichten – die Schnitte werden weniger hart, dafür geschmeidiger und konziser. Zugleich beginnt er grössere theoretische Essays zu verfassen; deren bekanntester sind die Strassen des Zufalls / Über Burroughs (Lichtspuren, Bern 1988, zweite Auflage Galrev, Berlin 1998); eine Fortsetzung von Ploogs Auseinandersetzung mit Burroughs‘ Arbeiten erschien 2014 in dem kurzlebigen, aber innovativen Luzerner Verlag Der Kollaboratör unter dem Titel Word is Virus / 100 Jahre WSB. Anderseits markiert die selbstreferentielle Schrift Rückkehr ins Coca & Cola-Hinterland (Engstler, Ostheim 1995) einen Höhepunkt in Ploogs theoretischen Arbeiten.

Damit ist der weitere Weg vorgezeichnet. Jürgen Ploogs späte Texte weisen einen Zustand sprachlicher Glätte und Präzision auf, den die früheren Texte selten erreichen (und natürlich auch nicht erreichen wollen). Gesteigert haben sich die passagenweise Schlüssigkeit der Narration sowie Dichte und Stimmigkeit der Atmosphären. «Auf seine Weise ist Ploog ein grosser Stilist», meinte Wolf Wondratschek einmal, und dies tritt wohl selten so klar zutage wie in den Geschichten aus den letzten Jahren, darunter Santa Muerte (Engstler, Ostheim 2011) und Ferne Routen (Moloko Print, Pretzien 2016). Dank der «verlegerischen Grosstat» (Joachim Sartorius) von Moloko Print sind wichtige frühere Werke Ploogs in neuen durchgesehenen und z.T. mit Hör- und Bildmaterial angereicherten Ausgaben wieder erhältlich, bislang Nächte in Amnesien, RadarOrient und Dillinger in Dahlem. Deshalb lässt sich Ploog als Autor heute (wieder) neu entdecken – diese einflussreiche Gegenfigur zum etablierten Betrieb, ohne welche es die deutschsprachige Pop- und Beat-Literatur so nicht gäbe!

Florian Vetsch

Diese Würdigung erschien in der Fabrikzeitung Nr. 354, Zürich, Dezember 2019; Teile daraus erschienen, ediert von Katja Kullmann, in Der Freitag, Berlin, Ausgabe vom 8. Januar 2015.

Die Fabrikzeitung mit weiteren Texten zu Jürgen Ploog von Udo Breger, Katharina Franck, Pablo Haller, Jan Herman, Boris Kerenski, Claire Plassard, Miriam Spies, Michelle Steinbeck und Wolf Wondratschek.

Webseite von Jürgen Ploog

Foto: Ira Cohen (Copyright: Ira Cohen Archives LLC)

Claire Plassard & Florian Vetsch «Steinwürfe ins Lichtaug»

Steinwürfe ins Lichtaug (Moloko Print, Pretzien 2014)

Die Schlange

Die Schlange machte Eurydike den Garaus
Als sie barfuss zur Kasse gebeten wurde
Auch da war es keine Frage des Alters
Eurydike musste hinab, zweimal

& Eva war offen für die Einflüsterungen der Klugen
Verlangte nach dem Apfel der Erkenntnis, viel
Intelligenter als Adam, der erst überzeugt
Werden musste, sie – geschaffen aus dem edlen
Rippenstoff, nicht aus Lehm, Torf & Dreck
Eva – die wahre Krone der Schöpfung

Den Rumpf auf der Erde, chthonisch durch & durch
Den Kopf leicht erhoben, züngelnd
In Höhlen & im Schatten mächtiger Steine, am Wegrand
Wohnend, wartet sie auf den Feind, die Beute

FV, 28. Januar 2012

Engadiner Tage

Eva – viel intelligenter als Adam,
Evas – deren zwei sind mir bekannt,
Die eine Feministin, die andere liebt
Lieber Rippenstoff statt Lehmfiguren,
Ein reiner Zufall?

Sie, dachte auch Annemarie,
Annemarie, die dort oben
Auf unserem ureigensten Boden
Stand, wo ich jetzt steh‘,
Annemarie, die ihren Blick
Zur Margna hin schweifen liess,
Welche majestätisch erhaben
Am Rande des Silsersees
Thront, ja sie – die wahre
Krone der Schöpfung

Wundert es da, dass ich
Aus Demut
Weinen muss, jedes Mal,
Wenn ich zu ihr hin, wenn
Ich von ihr weg fahre,
Über die Höhen des Julierpasses –

CP, 13. Februar 2012

Ja, dieses Hochtal
Brachte viele aus der Fassung

Offen
Nur nach oben
Nicht nach unten
Sils – als gäbe es
Keine Niederungen

Dieses Hochtal spricht
Mir aus der Seele & es bleibt

Dabei ganz stumm
Offen
Nach oben nur

FV, 14. Februar 2012

Kriegsjournalismus

für Marie Colvin & die Ihrigen

Die Augenzeugin
An der Front
Trägt eine schwarze
Piratenklappe
Hat von zwei Lidern
Nur noch eines
Offen
& doch sieht sie
Besser
Als die meisten Anderen

Sieht das, was
Nicht gesehen
Nicht gehört
Vielleicht gelesen
Werden will

Es bombt & schiesst
In Schutt & Blut
Im Morgenblatt
In sicherer Ferne

Als sie noch einmal
Sehen wollte
Stellte sie eine Rakete
Stumm

Schaut der Rest
Jetzt genauer hin
Vernimmt der Westen
Nun die Schreie –

CP, 5. März 2012

Ein dünner Faden hält alles zusammen (Moloko Print, Pretzien 2019)

Immer kurz innehalten

Den Mantel zuknöpfen
Aus Respekt vor der Kälte
Blätter & Kieselsteine wechseln sich ab
Unter meinen Sohlen
Gehen, Nachdenken, Katharsis

Über den Friedhof Richtung Sphinxe & Krematorium
Immer kurz innehalten.
Lebensfresser
Finden Gefallen an überbordenden Zukunftsplänen
Tragen dick auf mit der Namensgebung fiktiver Drillingstöchter
Duales Lachgebrüll in warmen Kissen
Wie wär’s mit West Virginia, South Carolina
& Jutta
Bekannte & Irre haben’s schon ärger getrieben
Irgendein Beamter, der sich mokiert
Bestimmt durchgewinkt
Mass halten ist eine Kunst
Das Laster der Glücklichen – die Masslosigkeit
Senke den Blick!
You forget so easily!
Unter Endorphin überspult das Gehirn Schmerzensbilder
Die zahlreich Verworrenen in der Diashow
Aus Eigenschutz vernebelt
Das Fallbeil schwebt permanent über Kopf & Kragen
Ein dünner Faden hält alles zusammen –

CP, 31. Oktober 2017

Am Tag der Toten

Unser Skelett Charlie
– Chaplin, Brown, Hebdo? –
Charlie eben auf dem Balkon
Zu Halloween installiert

Sein Gejachter & Geschlenker
Durchgeisterte die Nacht

Heute zwei Kerzen
Auf dem Grab meiner Eltern
Zu Allerheiligen angezündet –
Sie brennen noch jetzt

Die Seelenlichter –
Ein dünner Faden hält alles zusammen

FV, 1. November 2017

Paix

Catherine Ribeiro + Alpes

Die Schamanin schweigt
Instrumentale Minuten
Bevor sie ansetzt
Um durch Gänge
Von Gehörgebirgen
Zu rasen

Frieden den kranken Seelen
Sprechend

Wir werden ruhig schlafen
Bei starkem Luftzug
Den Seelenlichtern
Sei jeder Tag
Tag der offenen Tür

CP, 11. November 2017

Der schwarze Schwan 

für die Musik von Bert Jansch

Der schwarze Schwan steigt
Am Nordhimmel bis
Im November auf
Kreuzt den Horizont
Einsam. Er verblasst

Am Zelt, widerklingt
Im winterlichen
Raureif, wenn er
Den schwarzen Ozean
Durchgleitet

Eisblumen keltern
Die Sommertage
Duftbrüche zerstreuen sie
Raureif schmilzt & versickert
In schwarzer Erde

FV, 18. November 2017

Claire Plassard ist 1990 geboren, Florian Vetsch 30 Jahre davor. Ihr erstes Aufeinandertreffen kam im Gymnasium in St.Gallen zustande, wo Plassard in ihrem Abschlussjahr das Ergänzungsfach Philosophie bei Vetsch belegte. Aus dieser Begegnung entwickelte sich rasch, jenseits eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses, eine produktive Freundschaft, die ohne Rücksicht auf Kategorien wie Geschlecht und Alter aufblühte. Florian Vetsch, der bereits in Zusammenarbeit mit dem Beat-Imam Hadayatullah Hübsch (1946-2011) den Gedichtband Round & Round & Round (Songdog, Wien 2011) geschrieben hatte, jagte im Oktober 2011 per E-Mail einen ersten poetischen Federball in Claire Plassards Richtung; die junge Dichterin, die gerade mit dem Luzerner Lyriker Pablo Haller die Gedichtzyklen blut & blumen / verdaute zukunft (Privatdruck, Luzern 2012) abgeschlossen hatte, erwiderte den Ballanschlag noch im selben Monat. Regeln gab es für das Zusammenspiel der beiden keine. Weder stand eine Deadline fest, noch gab es thematische oder formale Einschränkungen. Die einzige Rahmenbedingung war, dass in chronologischer Folge ein Gedicht auf das andere antworten sollte usw. usf. Die Dynamik dieses Austauschs ergab nach zwei Jahren die 64 Gedichte, welche die Sammlung Steinwürfe ins Lichtaug (Moloko Print, Pretzien 2014) präsentiert, mit Zeichnungen von Harald Häuser und einem Nachwort von Felix Philipp Ingold; fünf Jahre später, im Frühjahr 2019, legten die beiden, mit einem Auftakt von Katharina Franck und Zeichnungen wiederum von Harald Häuser, 70 Gedichte unter dem Titel Ein dünner Faden hält alles zusammen (Moloko Print, Pretzien 2019) nach.

Claire Plassard, *1990, lebt und arbeitet in Zürich. Studium der Philosophie, Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft sowie der Gender Studies in Zürich und Berlin. Sie schreibt Lyrik, Essays, Rezensionen und Reportagen.

Florian Vetsch, *1960, lebt und arbeitet in St. Gallen. Studium der Philosophie, der Germanistik sowie der Literaturkritik in Zürich. Er veröffentlichte Poesie, Tagebücher, Essays, Anthologien sowie Übersetzungen von Paul Bowles, Ira Cohen, Jan Heller Levi, Mohammed Mrabet u.a.m.

«Steinwürfe ins Lichtaug» auf planetlyrik.de mit Nachwort von Felix Philipp Ingold

Beitragsfoto © Sabrina Peterer

Kult Bau St. Gallen: Superbastard comes to town

Am Dienstag, den 20. November, um 20.00 Uhr in St. Gallen, im Kult-Bau an der Konkordiastrasse 27 in St.Gallen: «SUPERBASTARD COMES TO TOWN» mit Susann Klossek, Benedikt Maria Kramer und Andreas Niedermann. Moderation: Florian Vetsch

Susann Klossek studierte in Leipzig Germanistik und Slawistik. Im Zuge der Wende verschlug es sie nach Zürich, von wo aus sie acht Jahre lang Rohöldestillationsanlagen nach Russland verkaufte. Später wechselte sie in den Journalismus und ist seither als freie Redakteurin und Produzentin für verschiedene Medien, fürs Theater und das Schweizer Fernsehen tätig. Bisher sind zehn Bücher (Reisereportagen, Gedichte, Shortstories, Zeichnungen) von ihr erschienen, zuletzt im Gonzo Verlag das Road-Poem Pferde wetten nicht auf Menschen und im Freiraum-Verlag die Kollaboration mit Benedikt Maria Kramer Der Mann im gelben Kleid – Hohelied der Flughunde. Unter dem Titel Nachrichten aus dem beschädigten Ich schreibt sie einen Blog.
Hier mehr Informationen über die als weiblicher Bukowski gefeierte Autorin

Benedikt Maria Kramer (*1979 in Dachau) studierte nach einer Ausbildung zum Steinmetz Medienkunst an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Zwischen 2002 und 2007 Regie bei Kurz- und Langfilmen. Einige Auszeichnungen und Nominierungen. 2010 Gründung des Literaturmagazins Superbastard, das von Anfang an im Maro-Verlag gedruckt und ab 2013 vom Songdog-Verlag verlegt wird. 2016 Veröffentlichung des Lyrikbands Glücklichsein ist was für Anfänger und des Wortgefechts Der Mann im gelben Kleid, ein Dialog in Gedichtform zwischen Kramer und der Zürcher Autorin Susann Klossek. Zuletzt erschien in der Reihe Verstreute Gedichte im gONZo-Verlag das Heft In der Nachbarschaft. Vertonung vieler Texte durch die Band Rabenbad, deren Sänger er ist. Die Lesung am 20.11. im Kultbau ist auch Buchpremiere für seinen neuen bei Songdog erscheinenden Gedichtband Würdest du die Cops rufen, wenn ich in deiner Einfahrt mein Portemonnaie verbrenne? Mehr Informationen unter: www.Benedikt-Maria-Kramer.de

Andreas Niedermann (*1956 in Basel) zog nach einer Ausbildung zum Chemie- und Textillaboranten quer durch Europa. Er war als Steinbrecher, Journalist, Kinobetreiber, Alphirt, Theatertechniker und Fitnesstrainer tätig. 1987 veröffentlichte er seinen ersten Roman Sauser (Neuausgabe 2007). 1989 zog er nach Wien, wo er 2004 den Songdog-Verlag gründete. Inzwischen sind von ihm ein halbes Dutzend weitere Romane sowie ein paar Story-Bände erschienen, zuletzt der atmosphärische, im hochsommerlichen Wien angesiedelte Kriminalroman Blumberg. Andreas Niedermann lebt als Autor und Verleger in Wien und Wengen. Mehr Informationen unter http://www.songdog.at/andreas-niedermann.html

Literaturfest mit Christoph Keller and friends

«Drachenschuppen, Wolfsgebeiss, Hexengift und Vollgeschiss aus dem Bauch des Salzmeerhais, Schierlingswurzel dunkelweiss, von dem Lästerjud die Leber; Ziegengalle; Blütengeber, die man von den Bäumen riss, als der Mond in Finsternis, Türkennas, Tartarengrind und den Finger von dem Kind, das erwürgt wird bei Geburt von ner Frau, die strassenhurt – all das macht den Kessel fein, und mit Tiger-Innerein wird die Suppe bald fertig sein.»

Christoph Keller, zuhause in New York und St. Gallen
Christoph Keller, zuhause in New York und St. Gallen

Zwar war nicht Mitternacht und man traf sich auch nicht im Pilzkreis im Hätterenwald. Aber was am späten Nachmittag in der Militärkantine St. Gallen rund um den Schriftsteller Christoph Keller und seinen neuen Roman «Das Steinauge & Galapagos»  (Sammlung Isele) über die Bühne ging, war derart gestopft mit künstlerischen Leckerbissen von unterschiedlichem Giftgehalt, dass das Gemisch durchaus an einen wilden Tanz um die Kunst erinnerte. Christoph Kellers Gäste waren die Musiker Zelda Umur und Daniel Schnyder, die Schriftsteller Jan Heller Levi, Rebecca C. Schnyder, Heinrich Kuhn, Florian Vetsch und Peter Weber, der Verleger Parantrap Chakraborty und die Künstler Marlies Pekarek und Roman Signer.

Alle abgebildeten Fotografien sind Arbeiten Christoph Kellers "Mugwumps are what they seem."
Alle abgebildeten Fotografien sind Arbeiten Christoph Kellers «Mugwumps are what they seem.»

In Christoph Kellers Roman kämpft Philip Gundolf mit der latenten Mitschuld am frühen Tod seines Schulfreundes Stieglitz. Gundolf, der erfolglose Schauspieler, quartiert sich einen Sommer lang im Elternhaus seines Freundes ein, um der Frage nachzugehen, ob er am Ende gar nicht sein eigens Leben, sondern das seines verstorbenen Freundes gelebt hat.
Die Tatsache, dass der Roman aus dem Erinnerungsbuch «Der beste Tänzer» nicht mehr bei S. Fischer Platz fand, mag darin begründet sein, dass Christoph Keller nicht daran interessiert ist, einfache Bücher zu schreiben. Wem Christoph Kellers Roman gefallen soll, muss sich einlassen, muss bereit sein, von der wilden Suppe zu kosten!

Rebecca C. Schnyder mit "Alles ist besser in der Nacht" (Dörlemann)
Rebecca C. Schnyder mit «Alles ist besser in der Nacht» (Dörlemann)

Ein herrlicher Vorabend. Während draussen der Regen trommelte, der Wind die Fenster quietschen liess, führte Eva Bachmann gekonnt und überaus freundschaftlich durch den Kulturmix: Rebecca C. Schnyder, junge St. Galler Schriftstellerin las aus ihrem ersten Roman «Alles ist besser in der Nacht» (Dörlemann), böse Stücke, Texte wie schwere Motorräder mit Auspuffen, die knallen, Stücke aus ihrem Roman über eine junge Frau, die mit allem Tun schmerzen will, selbst mit ihren verkorksten Liebeserklärungen.

Heinrich Kuhn "Alles Übrige ergibt sich von selbst" (VGS Verlagsgenossenschaft)
Heinrich Kuhn «Alles Übrige ergibt sich von selbst» (VGS Verlagsgenossenschaft)

Heinrich Kuhn, ein St. Galler Literatur-Urgestein, der zusammen mit Christoph Keller etliche Romane schrieb, las Geschichten aus seinem wieder mit Christoph Keller veröffentlichten Erzählband «Alles Übrige ergibt sich von selbst» um die beiden Stadtflanierer Maag und Minetti. Witzige, hintersinnige Texte, die mit Sprache und Möglichkeiten spielen; über den Arzt Dr. Guillotine, ein Taubenexperiment und die Möglichkeit, dass Dr. Röntgen auch Dr. Wolgensinger hätte heissen können.

Florian Vetsch "Steinwürfe ins Lichtaug" (Moloko Print)
Florian Vetsch «Steinwürfe ins Lichtaug» (Moloko Print)

Florian Vetsch, Lyriker, Herausgeber und Übersetzer rezitierte messerscharfe Gedichte, Lyrik, die weh tun kann, weil sie trifft und betroffen macht, die Weltgeschehen spiegelt, Zeuge ist für Literatur, die sich einmischt, unbequem, mit der scharf geschossen wird, weit weg vom lieblichen Schmeicheln.

Peter Weber "Gotthardfantasien" Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur von Boris Previšic (Verlag Hier und Jetzt)
Peter Weber «Gotthardfantasien» Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur von Boris Previšic (Verlag Hier und Jetzt)

Und Peter Weber, nicht vergessen, auch wenn schon lange nichts mehr auf der grossen Bühne erschien, bewies mit seinen Texten, warum es sich weiterhin lohnt, geduldig auf ein neues Buch von ihm zu warten, auf Sprache, die sich mit Peter Webers Wucht hoffentlich nicht in allzu ferner Zukunft auf mich Neugierigen wartet. Peter Weber ist nicht nur Textschöpfer, sondern Wortbildner. Da wabbert Hochliteratur! Und dabei waren seine Kostproben in Maultrommelkunst wie Telegramme, Signalreihen aus jener fernen, fremden Welt, in der Weber zum Medium wird.

Man möge mir verzeihen, wenn ich nicht allen in Aktion Getretenen gerecht werde. Aber ich war Zeuge eines Kunst-Sommerfests der Superlative.