Fabio Andina, «Sechzehn Monate», Rotpunkt

1944. Giuseppe Vaglio ist dreiunddreissig, Familienvater, Schreiner in einem kleinen Dorf in Norditalien. Durch die Schrecken des Krieges wird er Fluchthelfer, denunziert, verhaftet, eingesperrt, ins KZ Mauthausen verschleppt. Sechzehn Monate später schafft er es in sein Dorf zurück. Fabio Andina, preisgekrönter Schriftsteller und Enkel jenes Mannes, zeichnet ein literarisches Denkmal.

Ob in der Türkei oder in den USA, ob in Weissrussland oder bei den Uiguren; Von Freiheit, von Meinungsfreiheit, keine Spur. Wer in seinem Handeln nicht den vom Staat vorgegebenen Weg einschlägt, muss mit Repressalien rechnen. Dabei scheinen all jene Erfahrungen, die man mit totalitären Regimen machte, wirkungslos. Man(n) lernt nicht. Ob im Stalinismus oder im Nationalsozialismus, im Maoismus oder Militärdiktaturen wie damals in Spanien. Man taucht ab in ein System der Unterdrückung, der totalen Kontrolle, einer Staatsideologie. Freiheiten werden eingeschränkt, Selbstverantwortlichkeit wird zum Risiko, Empathie und Nächstenliebe zum Verbrechen.

Als Mitte des letzten Jahrhunderts ganz Europa im faschistischen Würgegriff erstarrte und man Andersdenkende, Andersgläubige und Anderslebende systematisch verfolgte, einsperrte und wie Ungeziefer vernichtete, wurde es für Menschen, die jenen Unterdrückten halfen, lebensgefährlich, nicht nur für sie, sondern auch für ihre Familien. Es wuchs ein System der gegenseitigen Überwachung, der Denunziation. Nachbarn wurden zu stillen Informanten. Man beglich so offene Rechnungen, zahlte heimlich zurück, sonnte sich im Gefühl der scheinbaren Macht, ohne zu merken, wie sehr man sich in Abhängigkeiten verstrickte.

Fabio Andina «Sechzehn Monate», Rotpunkt, 2025, aus dem Italienischen von Karin Diemerling, 216 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03973-052-0

Der kleine italienische Ort Cremenaga liegt zwischen dem Lago di Lugano und dem Lago Maggiore, direkt an der Grenze zur Schweiz. Dort lebte Giuseppe Vaglio, der Grossvater des Schriftstellers Fabio Andina, mit seiner Drei-Generationen-Familie und lebte von seinem Schreinerhandwerk. 1943 begann er Menschen, vor allem Juden, die vor den Grausamkeiten der Faschisten fliehen mussten, über die Grenze, durch den Fluss Tresa, einen Fluchtweg in die Schweiz zu finden. Ein ebenso risikoreiches Unternehmen für Flüchtende und Fluchthelfer. Am 5. März 1944 wurde Giuseppe Vaglio, verraten durch Nachbarn aus dem Dorf, von der SS festgenommen, zuerst in verschiedene norditalienische Gefängnisse gesteckt und später ins österreichische Konzentrationslager Mauthausen überführt. Nach Monaten der Misshandlung und Zwangsarbeit wurde er anfang Mai 1945 von us-amerikanischen Truppen befreit und gelangte zu Fuss und als Passagier am 6. Juli 1945, sechzehn Monate nach seiner Verhaftung, wieder in sein Dorf.

Als Giuseppe Vaglio in sein Dorf zurückkehrte, war er ein anderer, gezeichnet von seinen Erlebnissen, in prekärem psychologischem Zustand. Man schwieg weitgehend in der Familie über jene Zeit und was damals passierte. Und als Giuseppe Vaglio im Alter von fünfundsiebzig Jahren starb, war Fabio Andina, sein Enkel, zwölf und interessierte sich wenig für das, was damals geschehen war. Erst viel später, mit Hilfe Grossvaters „Arbeitsbuch für Ausländer“ begann Fabio Andina Recherchen über jene sechzehn Monate anzustellen, Recherchen, die daraus nicht nur einen äusserst lesenswerten Roman werden liessen, sondern die Heimatgemeinde seines Grossvaters veranlasste, mit einer Skulptur im Dorf an die Taten jener zu erinnern, die Flüchtenden halfen und all jenen, die dafür mit viel Schmerz und Leid bezahlen mussten.

„Sechzehn Monate“ erzählt aus wechselnden Perspektiven von den Tagen der Verhaftung bis zu jenem Tag, an dem Giuseppe Vaglio zu seiner Familie zurückkehrte. Eine Reise ins Ungewisse, für ihn immer hart am Tod, für seine Frau und seine Familie im permanenten Strudel von Verzweiflung, Angst und drohender Hoffnungslosigkeit. Ganz offensichtlich ging es Fabio Andina nicht darum, eine möglichst detailgetreue Nacherzählung jener dunklen Monate zu evozieren. Fabio Andina empfindet nach, was in den Herzen seiner Grosseltern passiert sein musste. Er lebt mit Literatur ein Leben nach, zeichnet mögliche Spuren. Er tut dies mit aller Behutsamkeit und dem grossen Respekt an Menschen, denen man keine Wahl liess, die man auch nach 1945, nach dem Zusammenbruch des Tausendjährigen Reiches sich selber überliess, ohne ihnen zu Lebzeiten für das erduldete Leid einen Funken von eben jenem Respekt zu zollen. „Sechzehn Monate“ ist eine Liebeserklärung an die Kraft der Liebe!

2025 wird Fabio Andina für «Sechzehn Monate» («Sedici mesi») der Schweizer Literaturpreis 2025 verliehen. Aus der Begründung der Jury: Anhand von weitergegebenen Erinnerungen, Briefen aus der Familie und historischen Nachforschungen rekonstruiert der Autor die Lebenslage seiner Grosseltern mütterlicherseits, Giuseppe und Concetta, während dieser unfreiwilligen Trennung.
In knapper, verinnerlichter Sprache wirft die Erzählung einen genauen und bewegenden Blick auf den Alltag und die Gedanken des jungen Ehepaars, das zu einer langen Zeit der Trennung und des Leidens gezwungen wurde.

Fabio Andina, geboren 1972 in Lugano, studierte Filmwissenschaften und Drehbuch in San Francisco. Heute lebt er im Bleniotal. Sein «Roman Tage mit Felice» erschien 2020 auf Deutsch, wurde mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt. 2021 folgten der zweisprachige Prosaband «Tessiner Horizonte – Momenti Ticinesi» (mit Zeichnungen von Lorenzo Custer) und 2023 der Roman «Davonkommen», der die Vorgeschichte des namenlosen Erzählers von Tage mit Felice enthüllt. Auf Italienisch liegt zudem der Erzählband «Sei tu, Ticino?» vor.

Karin Diemerling hat in Mainz, Hamburg und Florenz Germanistik und Romanistik studiert und übersetzt seit rund 25 Jahren aus dem Englischen und Italienischen. Sie lebt bei Winterthur.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Malik Andina

Wolfram Schneider-Lastin (Hrsg.) «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Grosseltern», Rotpunktverlag

30 Autorinnen und Autoren aus der Schweiz, Deutschland und Österreich erzählen von ihren Grosseltern, Geschichten bis nach Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR. Geschichten von Berührten, Geschichten, die berühren.

Auf einem meiner Regale steht ein eingerahmtes, sepiafarbenes Foto. Ein Mann in Anzug und Kravatte sitzt in einem Korbstuhl neben einem Tischchen mit Spitzendecke. Mein Grossvater. Er war Tischler, Schreiner. Auf dem Foto hatte er etwas zu repräsentieren. Dazu gehören wohl auch die Bücher auf der Ablage unter dem Tischchen und das offene Buch mit Stift auf dem weissen Tischtuch. Mein Grossvater starb, als ich ein Jahr alt war. Meine Mutter erzählt, er habe mich, schon gezeichnet von seiner Krankheit, noch in Händen gehalten. Er wurde nicht alt, aber von meinem Grossvater gibt er Zeugnisse, die noch immer an den Wänden im Haus meiner Mutter und meiner Tante hängen; Aquarelle und Ölbilder, von naturalistisch bis abstrakt. Mein Grossvater war begabt und hätte sich wohl viel lieber als Künstler gesehen, statt als Handwerker, der nur mit grösster Anstrengung dem nachgehen konnte, was seiner Leidenschaft entsprach. Aus Geldknappheit und weil meine Grossmutter wohl alles andere als glücklich darüber war, dass ihr Gemahl Geld für Ölfarben ausgab, bemalte er seine Leinwände gar beidseitig, sodass man sich später, als man dann doch das eine oder andere Bild einrahmte, stets für das eine oder andere entscheiden musste, im Wissen darum, dass das verborgene Bild Schaden nehmen würde. Die Begabung meines Grossvaters setzte sich in meiner Mutter, die auch heute noch mit über achtzig malt, meinem Bruder, der in Zürich seit Jahrzehnten ein Atelier führt und meinen Kindern fort. Eine Begabung, die mich stets in die Nähe der Kunst führte, gepaart mit dem ewigen Zweifel, der mit Sicherheit auch meinen Grossvater begleitete, denn nach seinem Tod sah man an den Wänden meiner zur Witwe gewordenen und wieder verheirateten Grossmutter nie ein gemaltes Bild meines Grossvaters. 

«Schon lange wollte ich meine Beziehung zu meinem Grossvater in einer Erzählung festhalten. Mir war klar, dass mir das einiges abfordern würde. Vielleicht hatte ich sie deshalb noch nicht zu Papier gebracht, als die Einladung mit der Frage kam, ob ich einen Text beisteuern möchte für ein Grosseltern-Buch. Ja, natürlich, das war mein erster Gedanke. Und doch zögerte ich ein paar Wochen lang, bevor ich zusagen konnte, denn ich wusste: Über meinen Grossvater schreiben bedeutet über mich schreiben. Und das heisst: rausrücken mit dem, was ich für sehr privat halte. Das war und ist schwierig für mich, denn ich leide durchaus nicht unter Bekenntiszwängen. Nun bin ich aber überglücklich, es gewagt zu haben, über diese Geschichte entspannen sich neue Beziehungen, auch in der Familie, ich stehe neu mit zwei Cousins in intensivem Kontakt, ich erfuhr so viel mehr über meinen Grossvater und meine Herkunft. Die Geschichte ist noch lange nicht auserzählt. Und nicht zuletzt: Die Geschichte meines Grossvaters verbindet sich mit allen Geschichten und mit allen Grosseltern im Buch. Und auch die Autorinnen und Autoren haben – so behaupte ich – einen neuen und vertieften Zugang zueinander. Das hat grosse poetische Kraft.» Romana Ganzoni

Wolfram Schneider-Lastin «Fragen hätte ich noch. Geschichten von unseren Großeltern», Rotpunkt, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03973-039-1

Vielleicht ist genau das die grosse Tür, die sich auftut, wenn man die Geschichtensammlung „Fragen hätte ich noch“ liest. Das Buch lädt ein, sich mit den eigenen Grosseltern zu befassen, sich zu fragen, was denn an Erinnerungen, an Wissen, an Persönlichem noch da ist. Wer sich nicht aktiv mit seinem Stammbaum, seiner Herkunft befasst, weiss vielleicht nur wenig, vor allem von dem, was Fotografien nicht erzählen. Urgrosselten und ihre Vorfahren verschwinden im Vergessen. So wie die meisten von uns in 100 Jahren vergessen sein werden. Meine Mutter ist weit über achzig. Wenn ich sie noch einmal fragen möchte, dann wäre es jetzt an der Zeit. Wer war meine Grossmutter? Warum habe ich von ihr ein derart nüchternes Bild? Warum empfinde ich meinem Grossvater gegenüber derart viel Wärme und Sympathie, obwohl ich ihn nie wirklich erleben konnte.

«Einige der Geschichten im Buch rufen in Erinnerung, dass Europa in der Weltgeschichte eine ebenso verdienstvolle wie zerstörerische Rolle spielt. Von hier gingen ja auch vielfältige Brutalitäten aus, die sich vor, während und nach den beiden Weltkriegen zugetragen haben, etwa die Gründung der Staaten Israel, Indien und Pakistan, oder die Zerstückelung ganzer Kontinente. Die meisten meiner Vorfahren – aber nicht alle von ihnen – entkamen der Vergewaltigung, Enteignung und Entwurzelung durch die europäischen Kolonialmächte. Durch eine postkoloniale Fügung des Schicksals bin ich in der Schweiz aufgewachsen: Mein Vater war Bankier.» Waseem Hussain

Wolfram Schneider-Lastin, der Herausgeber und Mitverfasser des Buches, schildert in seinem knappen Vorwort die Entstehungsgeschichte des Buches, wie er während der Pandemie begann, die Geschichte seiner Grossväter aufzuschreiben, sie an Freunde weitergab und Lektüre und Reaktionen eine wahre Welle auslösten. Entstanden ist eine erstaunliche Sammlung von Geschichten, von Frauen und Männern im 20. Jahrhundert, die sich ganz verschieden durch ein Jahrhundert der Kriege und Umwälzungen stemmten. Geschichten von Liebe und Hass, von Ernüchterung und Enttäuschungen, vom grossen Schweigen und dunklen Geheimnissen, von tiefer Verbundenheit und schmerzhaftem Ekel.

«Dass sich meine Grosseltern krumm und bucklig gearbeitet haben, dass vor lauter Arbeit kein Denken möglich war, das kam nochmals stärker durch. Und ist damit übertragbar auf Menschen, die eben am Rand und «unten» wie blöd und hart arbeiten, dass nichts anderes mehr möglich ist. (s.a. «Jahrhundertsommer»). Und – das ist mir im Vergleich mit den anderen Geschichten aufgefallen – dass es von meiner Oma nur überhaupt zwei Fotos gibt, denn niemand hatte einen Fotoapparat und auch keine Zeit für so etwas, dass sie auch kein Auto hatten, vor dem man sich hätte fotografieren lassen können, dass sie auch nie in Urlaub fahren konnten, von dem es Fotos hätte geben können, dass sie arm waren, ohne dass sie je von sich gedacht hatten, arm zu sein. (Und meine andere Seite der Familie war noch sehr viel ärmer.) D.h. die Klassenfrage, die Frage nach der Herkunft, drängt bei jedem weiteren Schreiben und im Alter immer stärker durch.» Alice Grünfelder

Ein wunderbares Buch, eine Einladung, ein Zeitdokument.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht.

Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A/CH), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), André Seidenberg (CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

«Ich wundere mich über die historische Amnesie in Jurys, Feuilletons, sogenannten Kulturkreisen, wie wenig von diesem Wissen vorhanden ist, wie wenig diese Leute in diesen Bubbles selbst von anderen Kreisen wissen, in denen sie sich nicht bewegen, wie viel für «alt» gehalten wird und noch lange nicht überwunden ist – und wie viel Kraft es kostet, diese Vergangenheit und auch Krisen anderswo wieder und wieder gegen den Mainstream in Erinnerung zu rufen.» Alice Grünfelder

Illustration © Hannes Binder