Katharina Alder verlieh als Initiatorin, Organisatorin und Sprecherin der Jury des 2. Weinfelder Buchpreises den mit 4000 Franken dotierten Literaturpreis an die junge Schriftstellerin Noemi Somalvico. Eine mutige Entscheidung für eine mutige Schriftstellerin mit einem mutigen Debüt.
Die fabelhafte Welt der Noemi Somalvico – Laudatio an das Gewinnerbuch «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein»
Schwein, Dachs und Gott begeben sich in Noemi Somalvicos charmantem Romandebüt gemeinsam auf Sinnsuche. Sie reisen ins Jenseits, wo sie in einem Hotel am Meer verweilen. Dort macht Schwein einen Tanzkurs, Dachs spielt Tennis und Gott verbringt viel Zeit im Bett.
Klingt kurios, oder? So erscheint einem Somalvicos falbelhafte Welt zunächst auch. Eine Fabel ist ihr Erstling Ist hier das Jenseits, fragt Schwein jedoch nicht. Obwohl Tierfiguren mit ziemlich menschlichen Eigenschaften die Erzählung tragen. Und obwohl der formale Aufbau des Romans sich durchaus für die Vermittlung von Moral eignen würde: Das schmale Buch ist in kurze Kapitel geteilt, die man auf den ersten Blick für Lektionen halten könnte. In ihnen spielen das Dreiergespann Schwein, Dachs und Gott die Hauptrollen – und noch viele weitere Tiere haben einen Auftritt, darunter das Reh, ein Fisch und ein zwielichtiger Hase.
Aber Somalvico verfällt nicht einem moralisierenden Ton. Die Lebensweisheiten, die hie und da dennoch vorkommen, wirken daher nie belehrend, sondern unkompliziert erfrischend. Wie wenn da steht: «Dem Himmel ist heute keine Farbe gelungen. Wenn es in schwierigen Zeiten auf etwas ankommt, dann aufs Licht». Mit dieser Beobachtung zeigt Somalvico ihr Talent, einen kindlichen Blick auf die Welt zu wahren – nicht naiv, sondern neugierig, unverfroren und ehrlich.
Auch nutzt sie ihre Tierfiguren nicht aus, um unsere menschlichen Lebens- und Verhaltensweisen satirisch vorzuführen. Nein, die junge Schweizer Autorin begegnet ihnen stets auf Augenhöhe. Und hat dabei ein Gespür fürs Zwischenmenschliche.
Als zum Beispiel das Reh verlassen wird und sagt, dass es noch nie so traurig war, legt sich Schwein zu ihm und «sorgt dafür, dass stets ein Bein oder sein ganzer Rücken gegen Rehs Körper drückt. Reh soll wissen, dass Schwein sich nicht verschieben oder gar verschwinden wird». Und auch als Schwein lieber im Jenseits bleiben würde, obwohl es Gott dort nicht gut geht, bleibt Somalvicos Sprache feinfühlig. Dem Schwein ist halt «das Herz in den Kopf gestiegen». Aber dann stürzt es doch bei «knapp 30 Grad im Schatten» an Dachs vorbei in Gottes Hotelzimmer und weint «alle Tränen, die es in der glücklichen Jenseitswoche nicht geweint hat».
Somalvicos Werk ist also keine Fabel. Was aber nicht heisst, dass ihrer wunderlichen Welt die Moral abhanden gekommen ist. Es fällt auf, dass die Autorin ihren Figuren anerkennend und wertfrei begegnet – so bleibt zum Beispiel das Gender der Charakteren bis zum Schluss offen. Auch dem Publikum wird keine Lesart aufgezwungen. Das Büchlein lässt sich einfach geniessen, kann aber auch diskutiert werden. Etwa im Hinblick die ethische Verantwortung gegenüber anderen, Gottes Existenz oder, nun ja, Tiersymbolik.
Mit Ist hier das Jenseits, fragt Schwein gelingt der Autorin also ein Balanceakt zwischen schlicht und wunderlich. Ihre literarische Welt kommt unbemüht vielschichtig, überraschend zauberhaft und doch altbekannt daher. Eine Lektüre lohnt sich für alle, die schon mal Fernweh hatten – und sich zugleich nach einem Zuhause sehnen.

Würdigung «Culturestress» von Sarah Elena Müller
Wenn man, um kurz ein Velo zu mieten, zuerst ein Abo abschliessen muss (aber zumindest noch einen Haselnussmilch-Latte dazu bekommt), wenn posttraumatische Verbitterungsstörungen in der «Post-Nüüt-Ära» überhand nehmen, wenn kleine Nager mit ihrer toxischen Mäuslichkeit hadern, oder wenn der Samichlaus vom Sonderkommando niedergerungen wird – ja spätestens dann ist man mitten im «Culturestress» angelangt. Sarah Elena Müllers Kolumnensammlung nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise durch die durchdigitalisierte, selbstoptimierte, spätkapitalistische Horrorshow, die wir unsere Gegenwart nennen. Die siebenunddreissig Kurztexte sind sprachlich treffsicher und mitreissend, es sind Kolumnen, die auch auf einer Poetry-Slam Bühne nicht fehl am Platz wären. Müllers Ton ist manchmal hässig, manchmal staunend, manchmal beissend, manchmal resigniert – immer gefühlt am Rand der Klippe, immer so lustig wie abgründig: «Du chasch no dis PhD mache, aber d Welt gaht unter. Du chasch no öppis publiziere, bi me Verlag, vilich chasch du das, aber d Welt gaht unter.» Wir freuen uns trotzdem auf ihren ersten Roman, der nächstes Jahr erscheinen wird.
Würdigung «Die Dinge beim Namen» von Rebekka Salm
Gleich im ersten Kapitel versucht sich ‘der Vollenweider’ als Autor. Endlich will er «die Wahrheit» über den unheilvollen Unterhaltungsabend im Jahr 1984 veröffentlichen – mit dem Ziel vor Augen, «die Dinge beim Namen zu nennen». Die Leerstelle in Rebekka Salms Romantitel Die Dinge beim Namen weist aber darauf hin, dass sich ihre Erzählweise deutlich von der ihrer Figur unterscheidet. Sie will in ihrem Roman nicht einfach be-nennen, von einer einzigen Wahrheit zu sprechen liegt dem Text fern. Stattdessen kommen die Figuren selbst zu Wort: Aus der Perspektive von zwölf Bewohner:innen wird die Geschichte eines Dorfes geschildert. Zusammengehalten werden diese unterschiedlichen Erzählstränge von jenem Abend im Jahr 1984, um den der Text kreist. Man erfährt von den allgegenwärtigen Träumen, der Beengung des Dorfes zu entkommen, von falschen Entscheidungen mitsamt deren Auswirkungen auf die Bewohner:innen und das Zusammenleben und vor allem von den Geschichten und den Gerüchten, die im Dorf die Runde machen. Mit seinem polyphonen Aufbau zeigt Rebekka Salms Roman, dass es eben doch nicht nur eine Geschichte ist, die sich über dieses Dorf, über den Unterhaltungsabend und über einen vermeintlichen Zuckerrübendiebstahl erzählen lässt, ganz im Gegenteil: Die verschiedenen Perspektiven ergänzen und korrigieren sich, sie widersprechen einander und ergeben zusammen doch ein kohärentes Bild. Nicht nur ist dies geschickt erzählt, sind die einzelnen Figurenperspektiven gelungen zusammengefügt, es macht auch Spass, diesen Text zu lesen.
Würdigung «Gegen Gewicht» von Andri Bänziger
Andri Bänzigers Erstling «Gegen Gewicht» besticht durch seine Leichtigkeit, mit der er sich durch schwere Themen manövriert. Den Brocken Depression, Psychose und Behinderung nimmt sich der Roman mit einer unaufgeregten, geschmeidigen Sprache und einer genauen Schilderung der Figuren an. Die viel gelesene Erzählung von Beziehung, Familie und sich später einschleichenden Problemen stellt er dabei auf den Kopf. Hier ist zuerst alles schwer und wird später leicht. Diese Umkehrung ist erfrischend, weil neu. Die Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und ihrer Tochter gestaltet sich zunächst schwierig. Da ist ein Kind, das purer «Rock» ist – keine Konvention kennt und nichts und niemandem gehorcht. Und da ist eine Frau, die eine zynisch-distanzierte Haltung hat, sogar wenn sie sieht, wie ihr Kind nicht in diese Welt passt. Als Lesende muss man dem beleidigenden, zuweilen aggressiven Verhalten der Tochter zuschauen, Wut und Fremdschämen inbegriffen. Dass man diese Gefühle nicht mit der Mutter teilt, ist umso befremdender. Sie sagt von sich, dass sie eine Mauer aufgebaut hatte, um ihre jahrelang angestauten Probleme zu verdrängen. Der Tochter gelingt es schliesslich, diese Mauer niederzureissen. Dass hinter einer gefallenen Mauer nicht nur Leichtes, sondern auch noch mehr Schweres zum Vorschein kommen kann, blendet der Roman aus. Nichtsdestotrotz birgt er auf vielen Ebenen – wie der der Figuren und der Sprache – Potenzial und wirft die Lesenden auf ihr eigenes Verstehen von (Ab-)Normalität zurück.
Würdigung „Vom Onkel“ Rebecca Gisler
In Rebecca Gislers Roman „Vom Onkel“ bestimmen die Marotten eines Onkels den Alltag: Am liebsten schaut er die blutrünstigsten Horrorfilme, verschlingt Berge an Wurstbroten und Keksen und leert kanisterweise Bier und Limonade. Der Blick der Autorin auf ihren Helden aber bleibt stets von einer faszinierenden und vorallem auch schillernden Präzision: Dieser Onkel ist naiv, kindlich, kindisch, komisch, tragisch, traurig, unberechenbar, auch animalisch, bedrohlich, erhaben und noch vieles mehr. So wie die Sprache an diesem Sonderling (oder Sonderding?) immer wieder abgleiten muss, so unangepasst ist der Onkel auch sozial. Unter der mitziehenden Komik des Skurrilen also verstecken sich durchaus auch neuralgische Punkte einer latenten Gesellschaftskritik. Man könnte sogar sagen, eine gnadenlos irdisch-materialistische Ökonomie prägt den Roman. Was nämlich in den Körper des Onkels eintritt, das sammelt sich in ihm an oder es wird ihn auch wieder verlassen müssen. Rebecca Gisler gelingt eine ausdrucksstarke, aufdeckende und somit treffende und aktuelle Groteske, die unser Bedürfnis nach Konformität und klinischem Oberflächenglanz herausfordert. Zum Lesen ist das unbedingt reizend – und zwar bewusst auch im Sinne einer lästigen Hautstelle, die weiterhin juckt, egal wie oft man sie noch kratzen wird.


Und dann noch:
Nach seinem vielbeachteten Roman «Am Rand» erschien 2018 sein neuster: «Drei Sekunden Jetzt». Ein Roman über ein Findelkind auf der Suche nach seiner Herkunft, seiner Identität. Hans Platzgumer, der auch Musiker und Theaterkomponist ist, erzählte, dass er bei der Lektüre von Tschechows Theaterstück «Der Kirschgarten» zweimal fast auf die gleiche Textstelle stiess, die Ursprung seines Romans wurde: «Ich weiss nicht, wie alt ich bin, und ich habe immer das Gefühl, ich bin jung. Woher ich komme, wer ich bin, wer meine Eltern waren… Ich weiss nichts. (Charlotta Iwanowa in «Der Kirschgarten von Anton Tschechowa, 1903). Es sei die Mischung aus der Melancholie des Nichtwissens und der unendlichen Chance, aller offen stehenden Möglichkeiten, die ihn beim Schreiben angetrieben hätten. Hans Platzgumer wollte einen Roman schreiben über jemanden, dessen Ankerseil gekappt ist.
Aber François genügt die neue Familie, in die er aufgenommen wird, nicht. Da bleibt dieser Schmerz, das Offene, diese Wunde, das Nicht-wissen. Kaum erwachsen haut François ab, landet in einem seltsamen Hotel am Löwengolf, westlich der Stadt Marseille. In einem heruntergekommenen, undurchsichtigen Hotel mit Namen «Le Richard», wo er ein Zimmer, eine Arbeit, einen Hafen am Meer der Möglichkeiten bekommt.
Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte an der Musikhochschule in Wien, absolvierte ein Filmmusik-Studium in Los Angeles und veröffentlichte in unterschiedlichen Formationen elektronische Musik. Er schreibt Romane, Hörspiele, Opern, Theatermusik und Essays. Sein Roman «Am Rand» stand 2016 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.


Elisabeth Binder sucht nach dem, was von ihrer Vergangenheit und derer des unscheinbaren Dorfes geblieben ist, nach Bildern aus der Kindheit, Spuren ihrer Familie und all jener Menschen, die damals das Leben des Dorfes ausmachten. Zugegeben, da schwingt manchmal Schmerz und Ernüchterung mit über all das Unwiederbringliche. Trotzdem ist jede Seite von so viel Liebe, Zartheit und Respekt getragen, dass selbst das Kaff, zu dem das Dorf geworden ist, zu einer Perle wird, zu einer ganzen Kette literarisch eingefärbter Perlen, von denen ich mich entzücken liess.
Elisabeth Binder ist 1951 in Bürglen (Thurgau/Schweiz) geboren. Nach einem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich war sie Lehrerin, dann Literaturkritikerin beim Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung». Seit 1994 ist sie freie Schriftstellerin. 2004 erschien bei Klett-Cotta ihr Roman «Sommergeschichte», 2007 «Orfeo» und 2010 «Ein Wintergast». Elisabeth Binder erhielt die Medaille der Schweizer Schiller-Stiftung sowie den Förderpreis zum Mörikepreis.