„Der letzte Schnee“ im letzten Schnee? Arno Camenisch in Amriswil

Zwei grosse Geschichtenerzähler an einem Schlepplift. Zwei Wartende, zwei Philosophen, der eine schwatzend, der andere mehrheitlich zuhörend. Plaudernd und fabulierend der eine, kommentierend der andere. Zwei, auf Schnee wartend, richtigen Schnee, so wie damals, früher. Buchhändlerin Brigitta Häderli lud den «James Dean» der CH-Literatur nach Amriswil ein. Hätte sie nicht ihren ehemaligen Laden zur Verfügung gehabt, hätte der  Ansturm auf die Matinée den neuen Laden an der Freiestrasse überrannt.

Der Schlepplift ist ein alter Freund. Das beruhigende Geratter, das immerwährende Auf und Ab. Der Allererste im Kanton, einst der Nabel der Welt, ein «Schlepper», die «ehrlichste Form, den Berg hinaufzukommen». Aber weil Petrus droht, den weissen Zucker zu entziehen, warten die beiden, Paul mit dem Feldstecher (Fernglas) in der Hand, mit Blick aufs Dorf und die Welt, aber vornehmlich rückwärts gewandt.

Die Presse lobt «Der letzte Schnee», überschüttet ihn mit Qualitäten, vergleicht ihn gar mit «Warten auf Godot» von Samuel Beckett. Verzückt vom ganz eigenen Sound, den der Surselver nicht nur ins Buch bannt, sondern wie ein Rockmusiker stehend ins Mikrophon performt, mit viel Atem, dem Slang, den der Bündner mit Leidenschaft zelebriert.

Paul und Georg schwelgen in Erinnerungen, den guten, alten Zeiten, als der Berg noch war, was er verspricht; Spektakel, Pilgerort, als noch Leben in und um den Mannen das Leben ausmachte. Aber das Leben droht mit dem Verschwinden des grossen Schnees mit Rückzug.

«Sterben will man gut», sagt Paul zu Georg. Weil der Schnee nicht mehr mitspielt und den Berg zum Sterben teibt. Weil kaum mehr jemand kommt und sich anbügeln lässt, wird gar die Unfallübung unter den beiden Übriggebliebenen ausgetragen. Paul und Georg sind die Letzten. Pflichtbewusst und umtriebig selbst ohne Gäste. selbst dann, wenn der grosse Schnee auf sich warten lässt.

Arno Camenisch ist längst zur Marke geworden. Camenisch ist Camenisch ist Camenisch. Camenisch spielt sich selbst, spielt Paul und Georg, zelebriert den Schnee von gestern, den rauen, ungeschliffenen Ton. Camenisch muss Camenisch bleiben. Das Rattern des alten Schlepplifts, Baujahr 71 ist das Rattern seiner Stimme. Auch der nächste Camenisch wird ein unverkennbarer Camenisch sein, ein erfolgreiches Nischenprodukt der Literatur, das nicht zuletzt wegen seiner Einmaligkeit glänzt. So wie seine Bücher aus dem Engeler Verlag als Einheit in Erscheinung treten, bleibt Camenisch mit jedem Buch Camenisch. Es ändert sich bloss die Färbung.

«Auf dem Sonnenschirm steht Sinalco» (ein urtypisch schweizer Süssgetränk, seit über 100 Jahren!). Eine untergehende Welt. «Draussen lernt man mehr als drin!» Heute noch? Paul und Georg sind «Urtiere» des Beamtentums, auch wenn sie sich so sicher nicht mehr sind. So wie sie den Gletschern durch das Fernglas beim Schmelzen zusehen, sehen sie die Vergangenheit, das bisher Verlässliche wegschmelzen. Sie legen «Zwei Brettli auf zwei Böckli und ein Paar Blizzard (Skis) drauf», hocken in der Sonne und sehen den Schnee tropfen. Sie erzählen Geschichten. Vom Bügellift, der einst Weltbühne war, besucht von Prinzen, denen man nach jedem Rank applaudierte, dem Amerikaner mit seinen fünf Meter langen Brettern – Hauptsache die längsten. Sie drehen am alten Radio mit der abgeknickten Antenne und hören selbst da bloss noch das Rauschen.

Arno Camenisch ist ein Ereignis.

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren, schreibt auf Deutsch und Rätoromanisch. Er studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er auch lebt. 2009 erschien im Engeler-Verlag der Roman „Sez Ner“, 2010 „Hinter dem Bahnhof“, 2012 „Ustrinkata“, 2013 „Fred und Franz“, 2014 „Nächster Halt Verlangen“, 2015 „Die Kur“, 2016 „Die Launen des Tages“, 2018 „Der letzte Schnee“. Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und seine Lesungen führten ihn quer durch die Welt, von Hongkong über Moskau und Buenos Aires bis nach New York. Im März 2015 strahlte das Schweizer Fernsehen und 3sat den Dokumentarfilm “Arno Camenisch – Schreiben auf der Kante” aus.

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Titelfoto: Pascal Häderli