Anna Weidenholzer repräsentiert genau das, was an der österreichischen Literaturszene bestechend ist; Vielfalt, Experimentierfreude und sprachliches Feingefühl. So poetisch die Titel ihrer Bücher sind, so tiefsinnig und tiefgründig sind ihre Geschichten in ihrem neuen Erzählband „Hier treibt mein Kartoffelherz“. Ein literarischer Leckerbissen.
2010 debütierte Anna Weidenholzer mit ihrem Erzählband „Der Platz des Hundes“, der von der Kritik einhellig gelobt wurde. Damals ein Versprechen für die Zukunft. Heute ist Anna Weidenholzer ein Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Nach ihrem Erzählband erschienen drei Romane: „Der Winter tut den Fischen gut“, „Weshalb die Herren Seesterne trugen“ und „Finde einem Schwan ein Boot“. Schon allein die Titel ihrer Bücher öffnen Türen, beschreiben programmatisch, was der Autorin wichtig ist. Anna Weidenholzer erzählt nicht einfach ein Stück Erlebtes, keine blossen Anektoten, schon gar nicht plottorientiert. Alles, was Anna Weidenholzer schreibt, sind menschliche Verschiebungen, Verwerfungen, die sich im Unscheinbaren manifestieren. Menschliche Verunsicherungen, die sich während des Lesens unweigerlich auf mich als Leser übertragen, eine Verunsicherung, die die Autorin mit ihrem sprachlichen Feingefühl auslöst, eine Mischung aus Verwunderung und Heiterkeit. Genau das, was literarische Feinkost bewirken soll.
25 Erzählungen, die einen eine halbe Seite lang, die anderen seitenlang, verteilt über die vier Jahreszeiten. Erzählungen, die alle für sich selbst stehen und doch miteinander verbunden sind, seien es Motive, Orte, aber auch in den letzten und jeweils ersten Sätzen, bei denen Anna Weidenholzer erzählerisch den Stab von einem Text zum andern weitergibt.

Anna Weidenholzers Erzählen ist unspektakulär. Aber es scheint, als hätte die Autorin ein Sensorium mehr als die meisten Menschen, als würde sie in Bereichen sehen, hören und fühlen, die den meisten anderen Menschen verschlossen bleiben. Wie eine Fledermaus, die in Frenquenzen hört, die uns verborgen bleiben. Anna Weidenholzer verrät, sie habe sich gar einen eigenen „Fledermausdetektor“ zuglegt, um in der Dämmerung den uns verborgenen Stimmen zu lauschen. Genau so schreibt die Autorin. Sie schreibt von dem, was knapp unter der offensichtlichen Wahrnehmung geschieht.
Zweimal habe ich der Autorin am Internationalen Literaturfestival zugehört, zweimal mit gebannter Verzückung, grossartig unterhalten und bas erstaunt über den feinen Witz und hintergründigen Humor, mit dem die Autorin nicht in erster Linie bestechen will, sondern meine für fest und stabil gehaltenen Untergründe in sanfte Schieflage bringt. Ein Blick auf Menschen und Dinge, der weit über Oberflächlichkeiten hinausgeht. Als ich mit einem Freund am Festival in einem Gasthaus zu Abend ass und auf die Perlen der Literatur anstiess, sass da Anna Weidenholzer nicht weit von uns an einem grossen Tisch, umgeben von anderen Akteur*innen des Festivals. Da ist nichts Divenhaftes, nichts Überzogenes. Es ist, als wäre Anna Weidenholzer genau das, was sie schreibt. Da schaut und hört jemand, der in Sphären wahrnimmt, die den meisten anderen verschlossen bleiben.
Und die Sprache. Das scheinbar Banale offenbart unsägliche Tiefe. Das spiegelt sich auch in der Sprache, in der Intensität ihres Erzählens, in dem, was die Texte bei sorgfältigem Lesen auslösen. Zugegeben, „Hier treibt mein Kartoffelherz“ ist weder Schnellfutter noch leicht verdaulich. Aber wer sich einlässt, wird mitten ins Herz getroffen.

Anna Weidenholzer, 1984 in Linz geboren, lebt in Wien. Mit ihrem ersten Buch, «Der Platz des Hundes» (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. Ihr zweiter Roman «Der Winter tut den Fischen gut» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2013 wurde sie mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet. Ihr Roman «Weshalb die Herren Seesterne tragen wurde» 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 erhielt sie den Outstanding Artist Award für Literatur der Republik Österreich.
Beitragsbild © Erika Mayer



gehe langsam vor, versuche sich psychologisch anzunähern, hineinzuhören, nicht auszuleuchten, nicht gewillt einer Pointe nachzurennen. Es reize sie, die Perspektive zu wechseln und sich nicht wie bei Romanen über Jahre mit dem gleichen Personal herumschlagen zu müssen. Franziska Gerstenberg , zierlich, fast zerbrechlich, las in Lederstiefeln mit drei grossen Schnallen übereinander, als müsse sie wenigstens in ihnen Halt finden. Sie las von Menschen in Not, wie dem stillen Dichter Stoll, der in der Orangerie an der Kasse hinter der Theke sitzt und mit seinem Lächeln auf Besucher wartet. Stoll, der in seinem Schreibzimmer zuhause den einzigen Ort besitzt, in dem und für den es sich zu leben lohnt.
Kopf, für die Stimme seiner Frau, die alles kommentiert, von der er stets weiss, wie und was sie sagen wird, wenn er etwas tun oder sagen will. Eine Stimme, die immer nur das „Richtige“ kennt. Anna Weidenholzer webt in ihren Roman Sätze, die haften bleiben, Sätze wie Schnappschüsse einer Meisterfotografin. Sätze, die klingen, Sätze, die man irgendwie kennt. Johannas Kehr bei Frédéric Zwicker, Stoll bei Franziska Gerstenberg und Karl bei Anna Weidenholzer; Männer, die zu verschwinden drohen.
Kähne, die durch die Meerenge ziehen. Auch wenn zu dieser Lesung in dem sonst gut besetzten „Raum für Literatur“ in der Hauptpost nur wenige Neugierige dem Dichter ihre Aufmerksamkeit schenkten, galten für mich diese 45 strahlenden Minuten als einer der Höhepunkte der diesjährigen St. Galler Literaturtage.