Zum 46. Mal Literatur total!

So sehr sich engagierte LeserInnen auf diese Tage in Solothurn freuen, so sehr ist ihr Stellenwert in der Literaturszene Schweiz eine übersteigerte. Die Solothurner Literaturtage, das Highlight für die einen, die marktiefe Enttäuschung für die anderen.

Kein literarisches Ereignis in der Schweiz kann und will den Solothurner Literaturtagen das Wasser reichen. Nirgends ist der Publikumsanmarsch grösser, auch dieses Jahr mit Rekordzahlen. Kein Literaturfestival in der Schweiz generiert mehr Aufmerksamkeit. Nur die Solothurner Literaturtage schaffen es, selbst Radio SRF mit einem eigentlichen Begleitprogramm an ihre Seite zu binden. Das ist gut so und tut der Literatur gut, erst recht jenen ausgesuchten AutorInnen, die in der kleinen, zum Radiostudio umgestalteten Weinbar an der Aare mit einem grossen Publikum beglückt werden. Umso grösser die Enttäuschung jener, die von der Programmkommission nicht eingeladen werden. Eine Enttäuschung, die bis zur Frustration auswachsen, nie versiegenden Schmerz auslösen kann.

Die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata auf der grossen Bühne

Was für Lesende, Bücherbegeisterte und FeinschmeckerInnen zum tagelangen Festmal wird, zu einem Tempel der Offenbarungen, einem Schnittpunkt vieler Begegnungen, einem Hort neuer Hoffnungen, ist für andere der Beweis für Ignoranz und unverständliche Verirrung. Sie waren da, die grossen Namen und enttäuschten nicht, Anne Weber, die den Solothurner Literaturpreis erhielt, Klaus Merz, den man mit dem Schweizer Literaturpreis auszeichnete oder die grosse japanische Schriftstellerin Sayaka Murata, die mit ihrem Erzählband „Zeremonie des Lebens“ gleichermassen entzückt wie verunsichert. Und auch die Namen, die überraschten, die zu entdecken waren, wie Elvira Dones, die in ihren Romanen mit starken Bildern tief ins Mark brennt oder Levin Westermann, der mit seinem Prosadebüt auf langen, räumlichen und literarischen Spaziergängen den menschgemachten Veränderungen nachgeht.

Klaus März lässt sich im Stadttheater Solothurn feiern.

Ich war drei Tage in einem Rausch und danke all den nicht Beklatschten für ihren grossen Einsatz und den Hochgenuss an Wortkunst. Perfekt organisiert, mit erneutem Wetterglück und gestärkter Hoffnung auf eine Zukunft mit gedrucktem Buch, waren die Literaturtage, bei denen grosse Experimente ausblieben, ein Abbild dessen, was die Welt bewegen muss. Erstaunlicherweise ohne Demonstration, mit einer einzigen Ausnahme. Erstaunlicherweise aber auch ohne Repräsentanten der nationalen Politik. Erstaunlicherweise auch ohne ernstzunehmende Konfrontationen auf der Bühne.

Ariane Koch, Theres Roth-Hunkeler mit Miderator Lucas Marco Gisi im Gespräch

Einmal sass ich für eine Pause vor dem Restaurant Kreuz, dem Geburtsort der Solothurner Literaturtage. Bei einem Glas Weisswein sah ich so viel junge BesucherInnen wie noch nie. Zumindest war das mein Eindruck, ist doch die Frage, wie man junges Publikum lockt, bei literarischen Veranstaltungen allgegenwärtig. Sie sind da. Sie mischen sich ein, ob im Publikum oder im Rampenlicht. Das macht Hoffnung! Zumal sich das Urgestein der Schweizer Literatur, Peter Bichsel, nur noch punktuell am Festival zeigt. Solothurn lebt! Die Literatur gedeiht! Auch wenn da die eine oder der andere sich schwertut, die bittere Pille zu verdauen.

Pedro Lenz füllt an der „offenen Bühne“ die Treppe zur Kathedrale bis zum letzten Platz.

Die nächsten Solothurner Literaturtage finden vom 30. Mai bis 1. Juni 2025 statt. Keine Frage, ich komm wieder!

Beitragsbilder @ fotomtina

«Du bist, also versagst du, das ist menschlich» , «Sensus» von Armin Senser (5)

«Was unterscheidet dann noch einen Attentäter von einem Busfahrer, der dreissig Kinder mit sich in den Tod reisst, weil er den Bus an eine Wand fährt. Weil er sich umbringen wollte? Und was unterscheidet einen Attentäter von einem Piloten, der eine volle Maschine zum Absturz bringt, um sich das Leben zu nehmen? Was unterscheidet die Absicht von den Folgen? Was die Folgen von der Absicht? Wer bist du?» Armin Senser 2018

Lieber Gallus

Dass es an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen eine Begegnung mit Armin Senser geben wird, freut mich sehr. Das in grünem Farbton vorliegende Buch «Der ich bin» lese ich gerade mit Begeisterung. Im Sommer 2016 (oder 2017?) bin ich diesem Autor erstmals auf der Terrasse des «Alpina» am internationalen Literaturfestival in Leukerbad begegnet und auf den ersten Teil seiner autobiografischen Trilogie gestossen. Dass «Sensus, Chronik des Scheiterns» der erste Band einer Trilogie ist, wusste ich damals allerdings nicht. So ist das Erscheinen von «Der ich bin, Chronik des Vergessens» (2018) an mir vorübergegangen und erst jetzt vor meinen Augen. Aus dem dritten Teil «Requiem, Chronik des Erinnerns» wird der Autor in Solothurn lesen.

 

Armin Senser «Sensus. Chronik des Scheiterns» Edition Korrespondenzen, 2016, 112 Seiten, CHF ca. 26.90 ,ISBN 978 3 902951 25 0

In diesen drei «Chroniken» wird Autobiografisches mit dem Geschehen um Autor herum nicht erzählt, sondern als Collage voller Assoziationen literarisch gestaltet. Unverkennbar ist ein Lyriker am Werk. Armin Senser stellt Fragen zur eigener Identität («Wer ist ich?»), zu seiner Beziehung zu den Angehörigen (Suizidversuch des Bruders, Tod der Mutter) und zum eigenen Schreiben, zur Auswirkung der täglichen Katastrophenmeldungen in den Medien auf das eigene Leben. Da Literatur langsamer reagiert als die Massenmedien wirkt sie nachhaltiger, weil erlebt oft fassbarer. Die Lektüre dieser Bücher ist anspruchsvoll, aber belohnt mich als Leser mit tiefer Erkenntnis über mich, mein Wesen und meine Beziehung zur Umwelt. Auch sind diese Bücher eine kritische Auseinandersetzung mit der Informationsflut der heutigen Zeit.

Es erstaunt mich, dass dieser bemerkenswerte Autor im Literaturblatt nicht vorkommt. Kannst du mir berichten, warum?

Herzliche Grüsse

Bär

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Lieber Bär

Vielen Dank für Deine Gedanken, Deinen Tipp, Deinen überdeutlichen Schubser. Jedes Jahr, wenn die Gästeliste der Solothurner Literaturtage veröffentlicht wird, stürze ich mich auf die Namen: Sind Namen dabei, auf die ich warte? (Die Warteliste derer, auf die ich hoffe, wird nicht kleiner!) Welche Namen überraschen mich? (Manchmal mischen Namen die Literaturszene auf, die bisher meine Wahrnehmung verfehlten, von denen ich keine Ahnung hatte.) Und welche Namen tauchen überraschend auf, hätten eigentlich schon lange meine Beachtung verdient? Armin Senser gehört zu jenen. Seit ich weiss, das er liest, liegen seine Bücher auf meinem Nachttisch. Ich freue mich ungemein auf die Begegnung mit dem Autor.

Stimmt, Armin Senser hätte eine Auseinandersetzung auf dem Literaturblatt längstens verdient. Aber ich habe keine Chance, all jenen gerecht zu werden, die man pushen sollte, denen man eine Plattform bieten müsste, die man ins Rampenlicht setzen sollte, bevor ihr Stern im unbarmherzigen Kosmos der literarischen Sternbilder wieder verlöscht. Zu viele Sterne leuchten nicht mit jener Kraft, die sie ausstrahlen würden, wären nicht Störnebel in ihrer Nähe. Zuviele Sterne sind längst wieder ins kollektive Vergessen gerutscht. Wie gut, dass es Literaturvermittler wie Charles Linsmayer gibt, die mit ihren Büchern auch jenen einen Platz geben, die ihre Leuchtkraft verloren haben. Aber selbst so engagierte Kämpfer wie Charles Linsmayer hinterlassen einen Schweif, der Namen schwärzt, die seinem Geschmack missfallen. Einmal von relevanten Literaturkritiken geschwärzt, scheinen Namen auf ewig gezeichnet.

Darum mache ich mich alljährlich nach Solothurn auf, um mich von all jenen Namen überzeugen zu lassen, die bisher meiner beschränkten Lesekapazität entgingen. Ich freue mich auf die Tage im Epizentrum der nationalen Literaturszene – und die Streifzüge von Gallus und dem Bär.

Auf bald!

Gallus

Armin Senser, geboren 1964 in Biel. Der Lyriker und Schriftsteller studierte Philosophie, Germanistik und Linguistik an der Universität Bern. Nebenbei ist er als Übersetzer und Dramatiker tätig. Sein literarisches Schaffen wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Senser lebt in Berlin.

Anne Weber «Bannmeilen», Matthes & Seitz

Die deutsche Schriftstellerin Anne Weber, heuer mit dem Solothurner Literaturpreis 2024 für ihr Lebenswerk geehrt, lebt seit vier Jahrzehnten in Paris, einem Sehnsuchtsort vieler, einer Stadt, die wie kaum eine andere mit Klischees verhängt ist. „Bannmeilen“ ist der beeindruckende Versuch der Schriftstellerin, jenen Teil ihrer Stadt zu erkunden, der ihr bisher verschlossen blieb.

Anne Weber lebt und schreibt dort, wo andere Ferien machen – in der „Stadt der Liebe“. Eine ebenso irrwitzige Bezeichnung wie Ausblendung immer krasser werdender Gegensätze. Eine Blendung, der auch ich verfalle, einer Blendung, die zeigt, wie Wahrnehmung mit Wissen, mit Bereitschaft zur Aueinandersetzung verzahnt ist. Anne Weber liebt „ihre“ Stadt – und vielleicht ist genau diese Liebe der Ursprung für ein Abenteuer, dass der Schriftstellerin ihren Lebensmittelpunkt ganz neu erschliessen sollte.

Im Sommer 2024 finden in Paris die Olympischen Spiele statt. Wie immer bei solchen Mega-Sportevents will sich der Austragungsort von der besten Seite zeigen. Man baut und pflanzt, man gräbt und schleift. Die Erzählerin im Buch bittet ihren Freund Thierry, der einen Film über die Auswirkungen der Olympischen Spiele drehen will, ihn auf seinen Recherchestreifzügen begleiten zu dürfen. Thierry will wissen, wie sich Paris verändert, sein Paris, auch wenn er im Gegensatz zur Erzählerin, einen ganz anderen Bezug zur Stadt hat. Thierry ist algerischer Abstammung, zwar in Paris geboren und aufgewachsen, aber ganz anders sozialisiert wie sie, sie, die einst aus Deutschland in die Stadt an der Seine zog und dort wohnt, wo Einheimische und Touristen in Strassencafés Kaffee trinken und an noblen Schaufenstern vorbeispazieren. Thierry selbst ist in den Banlieues aufgewachsen, dort, wo sich normalerweise kein Tourist hinverirrt, in jenen Teil der Stadt, ein Vielfaches grösser als das Postkarten-Paris, in dem Armut, Dreck und soziale Ungerechtigkeit grassiert.

Anne Weber «Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen», Mattes & Seitz, 2024, 301 Seiten, CHF ca. 32.50, ISBN 978-3-7518-0955-9

Die beiden machen sich zu Fuss auf einen langen Weg durch jenen Teil der Stadt, der von Schnellstrassen und Autobahnen durchzogen, von schmutzigem Beton zugepappt, von Müllhalden gezeichnet und von der nach Idylle lechzenden Gesellschaft vergessen vor sich hindämmert. Dort gibt es kein Flanieren, schon gar keine einladende Bank in einem lauschigen Park, keine Läden, keine Cafés. Dafür Wohnsilos für Abertausende, Bauruinen, kaputte Strassen, Obdachlose, Zugefixte, Sans-Papiers, die unter Brücken hausen und schwarz gekeidete Chouffeurs, die allerorts auf Kundschaft lauern. Hinein in die Gegenden auf der anderen Seite des Boulevard périphérique, einer Ringautobahn rund um den Vorzeigeteil der Stadt Paris. 600 Kilometer auf unzähligen Streifzügen, für die beide den Blick des jeweils anderen brauchen. Sie beide spiegeln sich, in dem was sie mit ihrem Blick lesen, was hängen bleibt und zu Gespächen während ihrer Wanderungen führt. Paris ist viel mehr als der Eiffelturm, der Louvre und die Notre Dame. Paris pumpt sich dort auf, wo sich im Sommer der kollektive Blick bündelt, ungeachtet dessen, dass es für alle jene, die dort wohnen, oder auch von dort verdrängt werden, damit nicht besser wird.

Anne Weber spinnt in all die Streifzüge Geschichten. Thierry und die Erzählerin treffen sich immer wieder in einem der seltenen Cafés in den Banlieues, im Le Montjoie von Rachid, der mit jedem Besuch etwas mehr Vertrauen in die beiden fasst und zaghaft zu erzählen beginnt. Mitgenommene Geschichten wie jene des algerischen Marathonläufers Boughera El Ouafi, der bei den Olympischen Spielen 1928 für Frankreich zwar eine Goldmedaille erlief, der aber nach Profiläufen in den USA seinen Amateurstatus verlor, nicht mehr an Wettkämpfen zugelassen wurde, nach geschäftlichem Unglück immer mehr verarmte und schlussendlich durch eine Pistolenkugel sein Leben in der Bedeutungslosigkeit verlor. Ein Mann, der für einen kurzen Moment ruhmreicher Franzose sein durfte, begraben in einem vermüllten Pariser Friedhof.

Anne Webers „Roman in Streifzügen“ ist ein Bekenntnis zu den Schattenseiten, eine Vergewisserung des Andersartigen, eine Annäherung an eine fremde Welt. Es gibt diese Ausblendungen urbaner Tatsachen überall. Zu hoffen ist, dass das Café Le Montjoie von Rachid nicht zu einem Hotspot alternativer Reiserouten durch das unentdeckte Paris wird. Zu hoffen ist, dass Paris nach den Olympischen Spielen gewonnen hat. Nicht das Paris der Boulevards, sondern das Paris der Banlieues. Jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.

Die fünfköpfige Jury des Solothurner Literaturpreises ehrt die deutsche Autorin Anne Weber für ihr Gesamtwerk. Der Preis ist mit 15’000 CHF dotiert und wird zum 31. Mal verliehen.
In der Begründung der Jury zum Solothurner Literaturpreis heisst es: «Ob historischer Stoff, politisches Verhängnis oder gescheiterte Liebesgeschichte: Anne Weber stellt sich mit jedem Buch einer neuen Herausforderung. Kühn setzt sie ihre Position als Autorin aufs Spiel und lotet die Beziehung von Fiktion und Leben neu aus, wobei sie darauf bedacht ist, ihrem Lesepublikum eine Rolle der aktiven Teilnahme zu gewähren. Anne Weber wird für ein schriftstellerisches Werk von formaler und thematischer Vielseitigkeit und Experimentierfreude ausgezeichnet, das vom Essay über den Roman bis zum Epos reicht.»

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u. a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis, dem Johann-Heinrich-Voß-Preis und dem Solothurner Literaturpreis 2024 ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Anne Weber an den Solothurner Literaturtagen 2024

Rezension von «Kirio» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bruno Boudjelal