„Alles ist Herz; Herz ist alles!“, sagte einmal der am 1. Mai verstorbene Dichter, Romancier und Journalist Hans Peter Gansner (1953–2021). Der Tag der Arbeit passt zu dem bekennenden Linken. Doch wenn einer wie Gansner stirbt und ein weiterer Stuhl leer am Tisch bleibt, kann einem das schon zu Herzen gehen: konsequenter Antikapitalist, schlagkräftiger, scharfzüngiger Kritiker ungerechter Herrschaftsstrukturen, Freund des grossen Oikos, der Pflanzen, Tiere und Planeten, der Menschen auch, Liebender, an Herz-Insuffizienz demütig und kreativ Leidender, fulminanter Barde, freizügiger Conteur, Gründungsmitglied der Solothurner Literaturtage, ein Ausbund an Ideen und Projekten bis zuletzt… Auf der Homepage des Songdog Verlags schreibt Andreas Niedermann in seinem Nachruf: „Sein Output, sein Œuvre, ist beeindruckend und umfasst so ziemlich jede literarische Gattung. Un vrai homme de lettres.“ Bei Songdog, Bern/Wien, erschienen in den letzten Jahren Gansners „Herz“-Gedichtbände; darin spürt er in einem weiten Verweisungszusammenhang den konkreten und symbolischen Bezügen seines Leitthemas nach.
Der vor 10 Jahren verstorbene US-amerikanische Dichter, Fotograf und Filmemacher Ira Cohen (1935–2011), 18 Jahre älter als Gansner, wurde wie dieser von der Beat Generation beeinflusst, insbesondere von Brion Gysin, dem Entdecker der Cut-up-Methode. Surrealismus und Dadaismus, Alchemie, Dante und Rimbaud bildeten weitere Inspirationen seines Schaffens. Cohen unterhielt in New York eine Kammer, in der er die von ihm erfundene Mylar-Fotografie, eine Zerrspiegeltechnik, praktizierte und Jimi Hendrix, William S. Burroughs u.v.a.m. porträtierte. Er lebte in den 1960er Jahren in Marokko und in den 1970er Jahren in Katmandu, Nepal, wo er im Schatten des Himalaya auf einer Reispapier-Handpresse Erstausgaben von Paul Bowles, Diane di Prima oder Gregory Corso druckte. Er hinterlässt zahlreiche Gedichtbände, darunter Wo das Herz ruht (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010) und Alcazar (Moloko Print, Pretzien 2021), beide zweisprachig erschienen.
herzlinie
ich habe gelesen: der daumen des prokurators war nach unten gerichtet und eine hohle hand wurde verstohlen nach dem lohn ausgestreckt während rohe fäuste nägel durch hände hämmerten errichtend das weltreich des faustrechts. ich weiss: kolbenhiebe haben die hände verstümmelt des sängers im stadion von santiago de chile und fäuste schlagen noch immer in stumme gesichter und die finger am abzug krümmen sich wieder und wieder im sinternden licht des morgengrauens. du berichtest: eine hand hat den schlagstock ergriffen und eine andere im aufgerissenen kopfsteinpflaster gewühlt um den ersten stein zu werfen auf die gletscherwand und die hand eines verzweifelten lege schon die lunte an die zellentür hinter der er erstickt. und doch glaube ich: eine faust wird sich öffnen und zeigen dass sie leer ist und ein finger wird sich nicht krümmen sondern ausgestreckt vorwärts weisen und der verstümmelte wird mit seinen armstümpfen dirigieren in der erinnerung des volkes bis zur befreiung. und die hand des verzweifelten zieht die zündschnur zurück und eine hand dreht den schlüssel im schloss und stein und schlagstock entfallen den erhobenen händen die endlich zueinander finden nach den handgreiflichkeiten und allen wird schliesslich ihre schwesterliche hand reichen eine neue und nie gekannte herzlichkeit
(aus Hans Peter Gansner: „megaherz – Gedichte“. Songdog. Wien 2016)
When I have nothing more to say will some greater truth come forth to fill the page with an understanding never experienced before? Will the precious yellow satin cover my thoughts & speak of secrets hidden from my deepest self? After all the scratching out will anything remain to say that recovery follows crucifixion that loss engenders victory in the passing of things, that to stand alone is to encounter the world and be done with it once & for all
Dec 27, 2006
DAS LETZTE GEDICHT
Wenn ich nichts mehr zu sagen habe wird dann eine höhere Wahrheit eingreifen, um die Seite mit einem Verstehen zu füllen das noch nie zuvor erfahren wurde? Wird die kostbare gelbe Atlasseide meine Gedanken verhüllen & von Geheimnissen sprechen, die meinem tiefsten Selbst verborgen sind? Nach all dem Geschabe wird noch etwas zu sagen bleiben dass Aufschwung auf die Kreuzigung folgt dass im Lauf der Zeit Verluste den Sieg erzeugen dass wer allein steht der Welt begegnet und damit hat sich’s erledigt, ein für allemal
Es war an meinem zehnten oder elften Geburtstag, als mein Vater bei meiner Geburtstagsfeier, die in einem Garten stattfand, auf einen Baum kletterte. Als er oben war, rief er: „Ich bin ein Vogel!“ Dann begann er zu pfeifen und zu zwitschern. Meine Freunde fanden das lustig, ich nicht. Mein Vater bewegte die Arme, als ob sie Flügel wären. Dabei fiel er fast vom Baum. Meine Freunde lachten, ich nicht. „Komm sofort herunter!“, rief ich. Als er endlich wieder unten war, sagte ich: „Wenn du noch einmal lustig bist, dann bringe ich mich um.“ Er hat nicht aufgehört, lustig zu sein. Und ich lebe immer noch.
Kuh spielen
Im Schwimmbad trafen wir Freunde von mir, die sich zu uns setzten. „Wer spielt mit mir Kuh?“, fragte mein Vater plötzlich in die Runde. Meine Mutter und ich sahen uns an. „Wie geht das?“, fragte einer meiner Freunde, und mein Vater antwortete: „Auf allen vieren durch die Wiese gehen, immer wieder laut muhen, mit dem Mund Gras zupfen, blöd in die Luft schauen …“, und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „und mit dem Schwanz die Fliegen vertreiben!“ Daraufhin musste er selbst am meisten lachen.
Die bissige Banane
Einmal waren zwei Freunde von mir zu Besuch, die auch mit uns zu Abend aßen. Es gab Würstel mit Senf und Ketchup. Nach dem Essen gingen meine Freunde und ich ins Wohnzimmer, um dort fernzusehen. Plötzlich stürmte mein Vater mit einer geschälten Banane in der Hand ins Zimmer und rief: „Hilfe, die Banane hat mich gebissen! Au weh, au weh, tut das weh!“ In ein Ende der geschälten Banane hatte er einen geöffneten Mund, das heißt, ein aufgerissenes Maul hineingeschnitten, an dem sich etwas Ketchup befand. Und auch auf dem linken Unterarm, in den ihn die Banane gebissen hatte, war Ketchup. Mein Vater zeigte auf die Wunde an seinem linken Unterarm und wiederholte mit schmerzverzerrtem Gesicht: „Die Banane hat mich gebissen! Böse Banane! Ganz ganz bö-se Ba-na-ne!“ Später im Bett soll ich zu ihm gesagt haben, er sei „deppert, ultradeppert und sogar ultraschalldeppert“.
Lumpi
Irgendwann trieb mein Vater in einem Geschäft für Zauberartikel eine ganz besondere Hundeleine auf. Sie war verstärkt, in ihrem Inneren musste sich ein dickerer Draht befunden haben oder so etwas, an ihrem Ende war ein Hundegeschirr angebracht. Wenn man die Leine entsprechend hielt, sah es aus, als ob ein unsichtbarer Hund an der Leine wäre – eine beeindruckende, fast perfekte Illusion. Mein Vater war begeistert von dieser Hundeleine. Dem unsichtbaren Hund gaben wir den Namen Lumpi. „Lumpi ist ein Traumhund!“, sagte mein Vater. „Er bellt nicht, er haart nicht, er braucht nichts zu fressen und zu trinken, er beschwert sich nicht, jagt keinen Katzen nach, kackt nicht auf den Gehsteig, nicht einmal Gassi gehen muss man mit ihm.“ Auch ich war eine Zeitlang begeistert von Lumpi. Auf unseren Spaziergängen wurden wir immer wieder auf unseren unsichtbaren Hund angesprochen, was oft recht unterhaltsam war. Kinder kamen gelaufen, interessierten sich für Lumpi, der auch recht laut knurren konnte, wenn mein Vater Lust hatte zu knurren.
Die Erbse
Meine Eltern und ich saßen in einem Gastgarten beim Essen. Auf meinem Teller befanden sich Fleisch mit Reis, Kohlsprossen und Erbsen. Während ich es mir schmecken ließ, sagte meine Vater plötzlich: „Die Erbsen sind die kleinen Brüder der Kohlsprossen.“ Ich korrigierte ihn: „Nein, es sind ihre Kinder!“ „Brüder!“ „Kinder!“ „Brüder!“ „Kinder!“ … Meine Mutter mischte sich ein und rief: „Ruhe!“ „Nur eins noch“, sagte mein Vater: „Egal, ob die Erbsen die Brüder oder die Kinder der Kohlsprossen sind, keine von ihnen wird überleben!“ Kurz darauf sagte er: „Doch, eine schon!“ und wischte mit dem Messer eine Erbse vom Teller, so dass sie auf die Erde fiel. Meine Mutter verdrehte die Augen, worauf er mit Unschuldsmine sagte: „Ich bin mit dem Messer ausgerutscht!“ Da musste ich so lachen, dass ich einen regelrechten Lachkrampf bekam. Ich konnte sehen, wie sich mein Vater darüber freute. Und auch meine Mutter musste jetzt lachen. Dann setzte mein Vater noch eins drauf. Er trat mit dem Schuh auf die Erbse und sagte bedauernd: „Nein, leider, auch sie überlebt nicht. Das Leben ist hart! Hart wie eine Schuhsohle.“
(Alle Texte mit spezieller Erlaubnis zur Veröffentlichungen aus «Mein Vater, der Vogel»)
Christian Futscher «Mein Vater, der Vogel», Czernin, 2021, 160 Seiten CHF 30.90, ISBN 978-3-7076-0728-4
Christian Futscher, geboren 1960 in Feldkirch, Studium der Germanistik, lebt seit 1986 in Wien, wo er u. a. Pächter eines Stadtheurigen war. 1998 erfolglose Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, dafür 2006 Publikumspreis bei der «Nacht der schlechten Texte» in Villach. 2008 Gewinner des Dresdner Lyrikpreises. 2014 österr.-ungarisches Austauschstipendium. Seit 2010 Verfasser von Schulhausromanen mit Schulklassen. 2015 Aufenthaltsstipendium in Schloss Wartholz und 2016 in Winterthur.
Der Schweizer Autor David Weber legt seinen dritten Roman «Im Schwarzlicht» vor, in dem es um Abgründe in der Kunst und der Liebe geht. Der Philosoph Spinoza spielt darin eine wichtige Rolle. Der Autor erklärt die Hintergründe dazu.
«Malen ist befreiender.» von Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Im ersten Roman «Kral» dreht sich eine Liebesgeschichte um die Raumplanung Schweiz, im «Reduit» zerbröselt ein Beziehungsgeflecht an einem Geschäftsmodell mit Überlebensbunkern und im Roman «Im Schwarzlicht» betreten Sie die Welt der Raubkunst umrankt mit einer zerstörerischen Liebe. Wenn Sie ein neues Buch beginnen, was ist denn als erstes da, die Kulisse einer Liebe oder der gesellschaftliche Aspekt?
David Weber: Im Falle dieses Romans war beides gleichzeitig da. Andys zerstörerische Liebe und der zerstörerische Sog eines Kunstwerks, dem Ludmilla verfällt.
Das klingt nach einem persönlichen Moment als initialem Auslöser…
Richtig. Es begann mit einem Zufall, ähnlich wie ihn Andy Heim, der Hauptprotagonist, erlebt. In einem menschenleeren Atelier traf ich auf ein Bild, das mich faszinierte. Davor lag ein Ausstellungskatalog mit dem Porträt einer Frau. Ich nahm an, dass es die Künstlerin sein müsse. Diese zwei Dinge haben eine Gedankenspirale ausgelöst. Am nächsten Tag wusste ich, dass ich über eine verrückte Liebe und ein magisches Gemälde schreiben würde.
«Im Schwarzlicht» beginnt mit einem Prolog à la James Bond mit einer Auktion die mit Kopfschütteln über den gebotenen Betrag endet. Wann beginnen Sie mit der Dramaturgie, wenn die Geschichte schon steht, oder…?
Der Roman hat Züge eines Thrillers. Da muss der Plot stimmen, der kann nicht erst während des Schreibens entstehen. Aber ich lasse mich immer wieder überraschen. Anfang und Schluss des Buches waren so nicht geplant. Die Story würde auch ohne funktionieren, aber das Ende wäre zu abschließend gewesen. Jetzt verweist der Prolog auf den Schluss, so entsteht eine Art Bilderrahmen, zwischen dem sich die Geschichte entfaltet.
Die Figur Andy Heim verliert sich, das eigene familiäre Leben zerstörend, in das Charisma der Künstlerin Ludmila Borodin. Wird zum Geliebten, deren Muse ja Sklave. Ein gendergerechter Umkehrschub als Hommage der weiblichen Musen in der Kunstgeschichte?
David Weber «Im Schwarzlicht», Knapp Verlag, 2021, 390 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-76-0
So habe ich das nicht gesehen, aber man kann selbstverständlich aus der Besonderheit, dass Andy zum männlichen Aktmodell wurde, diesen Schluss ziehen. Tatsächlich sind es vor allem weibliche Musen, die Geschichte geschrieben haben. Vermutlich, weil die Kunstgeschichte bis Ende des 20. Jahrhunderts von Männern dominiert wurde. Mir ging es darum, Ludmilla als starke, skrupellose Persönlichkeit zu zeigen, die sich nimmt, auf was sie Lust hat. Insofern sind die üblichen Geschlechterrollen vertauscht.
Was ganz anderes, Sie rhythmisieren Ihren Erzählstil, in dem Sie bei Dialogen auf Anführungs- und Schlusszeichen verzichten und auch den Umbruch des Layouts entsprechend so gestalten, dass pro Zeile manchmal nur ein Wort steht. Wie kam es dazu?
Es hat mit Abstraktion und Rhythmus zu tun. Der Fluss wird besser und der Text beginnt zu atmen. Der Satzbau ist natürlich auch ein Mittel, um Spannung zu erzeugen.
Interessant sind die gewählten Namen Ihrer Figuren. Die Künstlerin, die mit ihrer Verführungskunst und krimineller Energie zur Falle der Hauptfigur wird, heißt Ludmilla Borodin. Die russische Geschichte ist voll mit diesem Namen, von Komponisten, Banker über Fußballer oder Revolutionären.
Ich habe den Namen beim russischen Komponisten Alexander Borodin geliehen. Der Name musste klingen und zweifelsfrei russisch tönen. Dafür gibt es eine Bewandtnis, die erst gegen Ende der Geschichte aufgelöst wird.
Auch in diesem Roman spielen Sie das Spiel zwischen kleinbürgerlicher Provinz und große weite Welt, wie Toggenburg und Russland, was einen leichten ironischen Unterton erklingen lässt. Absicht?
Es sind die Gegensätze, die Spannung erzeugen. Wie das Glarner Hinterland und Nizza, beides Stationen von Andys Odyssee. Andy und Ludmilla sind gegensätzliche Persönlichkeiten, auch die Welten, in denen sich die beiden Hauprotagonisten bewegen, könnten nicht unterschiedlicher sein.
Durch diese ganze Geschichte führt der berühmte rote Faden durch den Philosophen Spinoza (1632 – 1677), was ein Grund mit für die Lektüre Ihres Romans spricht. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu diesem Denker beschreiben?
Ich habe mich erst mit Spinoza befasst, als ich für die Figur Andy Heim ein Thema für seine Masterarbeit suchte. Es musste ein Philosoph sein, der ihn überforderte. Mit Spinoza wollte er sich etwas beweisen, aber die «Ethik» verweigerte sich ihm. Erst als er sich dem zweiten bis fünften Teil dieses epochalen Werks zuwandte, erschlossen sich ihm die Lehrsätze. Die Lehre über die Affekte wurde völlig unerwartet zu einem Spiegel seiner Gefühle.
Mit anderen Worten, Sie haben sich mit dem Philosophen zu beschäftigen begonnen, als Sie wussten, dass Ihre Romanfigur über ein Werk Spinozas eine Masterarbeit schreiben wollte?
Kann man so sagen. Für den Roman musste ich mich mit diesem sperrigen Denker auseinandersetzen. Ich habe Philosophiestudenten und einen Philosophen interviewt und wurde tatsächlich gefragt, ob ich eine Masterarbeit über Spinoza schreiben würde.
Ohne zu viel zu verraten, darf erwähnt werden, dass in Ihrem Roman die malende Kunst nicht nur den Kunsthandel antreibt, sondern einen therapeutischen Effekt ausübt. Wie sehen Sie das mit dem Schreiben?
Ich denke, Schreiben eignet sich nicht in dem Mass wie Malen als therapeutisches Medium. Natürlich gibt es Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihr Ego mit Schreiben therapieren, aber dann ist die Peinlichkeit nicht weit. Beim bildnerischen Gestalten kann man sich mehr von der eigenen Person lösen. Insofern wirkt Malen befreiender.
Inspirationen generieren neue Objekte. Wie ist es in der Literatur? Bei der Lektüre erinnert man sich an den Roman «Athena» von John Banville, in dem sich ein Gutachter ebenfalls in eine Frau verliebt und sich deshalb im Kunstraub verheddert. Wie wichtig ist für Sie literarische Inspiration?
Natürlich gibt es die literarische Inspiration, ich lese viel, aber John Banville kenne ich nicht. Ich werde «Athena» nachholen. Ansporn, einen Thriller zu schreiben, war «Ruhelos» von William Boyd. Im Hinterkopf war das Werk vorhanden, als ich erste Skizzen zu «Im Schwarzlicht» entwarf. Thematisch ist es völlig anders gelagert, aber die Hauptrolle spielt ebenfalls eine starke Frau.
«Nichts ist da, aus dessen Natur nicht eine Wirkung erfolgte» laut Spinoza. Welche Wirkung würden Sie sich für Ihre Leserinnen und Leser wünschen?
In erster Linie sollen sie sich gut unterhalten, sie sollen überrascht werden, das Buch verschlingen. Erste Feedbacks zeigen, dass Leserinnen und Leser Anteil an Andy Schicksal nehmen, das ist natürlich erfreulich.
Die Lektüre kann Boden locker machen…
Es gibt auch einige Geschichten in der Geschichte, die neugierig machen und Lust auf mehr wecken. Im Mittelpunkt des Romans steht ein Gemälde, eine Ikone der Kunstgeschichte. Die Legenden, die sich um dieses Mysterium ranken, kann der Leser gerne weiterverfolgen.
David Weber wurde 1952 in Zug geboren, studierte Architektur und befasst sich seit seiner Jugend mit Musik und Literatur. Er lebt und schreibt in Zug und Caccior (Bergell, Graubünden). Im Schwarzlicht ist sein dritter Roman. Bereits erschienen sind Kral (2018) und Reduit (2019).
Am 25. April 2021 vor zehn Jahren starb in New York City der Dichter, Fotograf und Filmemacher Ira Cohen (1935 – 2011). Aus diesem Anlass publiziert das Literaturblatt hier aus Ira Cohens Gedichtband WO DAS HERZ RUHT (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010) das Poem PEPE LE MOKO / PEPE LE MOKO LEBT.
Gastbeitrag von Florian Vetsch, Autor, Übersetzer und Herausgeber amerikanischer und deutscher Beatliteratur
PEPE LE MOKO LIVES
for Yasha & Gherasim Luca
I would like to write a poem in French as if I were a man with only one arm returning from an alligator hunt in the sewers of New York It should be avant-garde as a menu & could be titled Service Non Compris, something really soulful like the howl of a wolf looking for food in the streets of Paris during that terrible winter when François Villon died The poem should contain the black lunettes worn by God to protect Himself from his admirateurs, O Mon Dieu, a poem without price written for an audience not for sale, something unforgettable as white excrement, something with panache and the taste of next year’s Beaujolais It should also be practical as selling chemicals for poison gas to Saddam Hussein or arms to both sides during a civil war in a backward country like Rwanda Long live Haute Couture Like a whore I want to please you I would like to write a poem in French which would last forever, not a button without a buttonhole, something logical & purposeful, something mesmerizing & really feminine with no regrets like the high kick of a cancan dancer exposing everything just for fun Like Boris Vian I would like to spit on your grave Artaud, Cocteau, Crapaud Vive la France The Power & The Glory Let there always be injections of surrealist intelligence March on March on Long live Hemophilia!
PEPE LE MOKO LEBT
für Yasha & Gherasim Luca
Gerne schriebe ich ein Gedicht auf Französisch wie ein Mann, der einarmig von der Alligatorenjagd aus New Yorks Kloaken zurückkehrt Avant-garde sollte es sein wie eine Speisekarte & sein Titel könnte Service Non Compris lauten etwas so voller Seele wie das Heulen eines Wolfs der auf den Strassen von Paris nach Fressbarem sucht in jenem fürchterlichen Winter, als François Villon starb Das Gedicht sollte die schwarzen Lünetten besingen, die Gott zum Schutz vor Seinen Admirateurs trägt O Mon Dieu, ein unbezahlbares Gedicht für ein Publikum geschrieben, nicht für den Verkauf etwas so Unvergessliches wie weisse Exkremente etwas mit Panasch und der Blume vom nächstjährigen Beaujolais Ein Gedicht mit so viel Zündstoff wie wenn man Chemikalien zur Giftgasproduktion an Saddam Hussein oder in einem Bürgerkrieg Waffen an alle verfeindeten Parteien verschachert in einem rückständigen Land wie Ruanda Lang lebe die Haute Couture Wie eine Hure will ich dich bedienen Gerne schriebe ich ein Gedicht auf Französisch eines, das Bestand hat keinen Knopf ohne Knopfloch etwas Zweckmässiges & Logisches etwas Mesmerisierendes & echt Feminines ohne Reue wie eine Cancan-Tänzerin ihre Beine hochwirft & alles ausstellt, ein Heidenspass Wie Boris Vian würde ich gern auf eure Gräber spucken Artaud, Cocteau, Crapaud Vive la France Die Macht & Die Herrlichkeit Niemals soll es an Spritzen surrealistischer Intelligenz fehlen Marchons Marchons Lang lebe Hämophilia!
aus dem Privatarchiv von Florian Vetsch
Ira Cohen (1935 – 2011) war ein US-amerikanischer Dichter, Fotograf und Filmemacher aus der Post-Beat-Ära. Sein Werk verarbeitet Elemente aus dem Dadaismus, dem Surrealismus, der Beat Culture sowie der ganzen Weltliteratur; Brion Gysin, den Erfinder der Cut-up-Schreibmethode, bezeichnete er als seinen grössten Inspirator. Ira Cohen wuchs in der Bronx von New York City als Kind tauber jüdischer Eltern auf. Er verbrachte die 1960er Jahre in Marokko und Amerika, die 1970er Jahre in Kathmandu, Nepal, dann kehrte er, nach einem dreijährigen Aufenthalt in Amsterdam, nach New York City zurück, wo er bis zu seinem Tod, unterbrochen von vielen Reisen, lebte.
Ira Cohen ist der Inventor der Mylar-Fotografie, einer fotografischen Zerrspiegeltechnik, mit welcher er in seinem psychedelischen Experimental-Streifen THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA (1968) arbeitete und u.a. Persönlichkeiten wie William S. Burroughs, Pharoah Sanders, Jack Smith oder Jimi Hendrix porträtierte. In der Fulgur Press, New York City, erschien 2019, herausgegeben von Allan Graubard, INTO THE MYLAR CHAMBER, eine umfassende Würdigung von Ira Cohens Mylar-Arbeiten, mit Beiträgen von Ian MacFadyen, Thurston Moore, Ira Landgarten, Alice Farley and Timothy Baum. Cohens Film KINGS WITH STRAW MATS (1998) zeigt Cohen in Hardwar, Indien, zwei Mal an einem Kumbh Mela Festival, dem weltweit grössten religiösen Fest, das nur alle zwölf Jahre stattfindet; der Film kann auf YouTube zur Gänze angeschaut werden.
Cohen wirkte nicht zuletzt als Herausgeber; berühmt geworden sind seine in Kathmandu mit einer Reispapier-Handpresse hergestellten Bücher und Einblattdrucke mit Texten von Angus MacLise, Paul Bowles, Gregory Corso, Diane DiPrima, Charles Henri Ford u.v.a.m. – lauter Preziosen; legendär war bereits GNAOUA, das Magazin, das Cohen in Marokko zusammengeschlagen und 1966 in Brüssel herausgegeben hatte, mit Beiträgen u.a. von Allen Ginsberg, Brion Gysin, Michael McClure, Harold Norse und Ian Sommerville.
Ira Cohen war ein charismatischer Performer, der ohne Schwierigkeiten auch ein grosses Publikum zwei bis drei Stunden lang unterhalten konnte und zahllose Lesungen von Okinawa bis Leukerbad, von San Francisco bis Tanger gab; seine mesmerisierende Stimme halten mehrere CDs seit 1994 fest, als THE MAJOON TRAVELER – THE POETRY OF IRA COHEN (Sub Rosa, Brüssel) erschien, eine Kollaboration mit DJ Cheb i Sabbah, welche auch Klangmaterial von Don Cherry, Ornette Coleman und marokkanischen Jilala-Trancemusikern präsentiert. Der Multimedia-Schamane Ira Cohen veröffentlichte seine Poesie in ungezählten Little Mags und mehreren Gedichtbänden, die meisten davon in rar gewordenen Ausgaben, zuletzt POEMS FROM THE AKASHIC RECORD (Panther Books, New York City 2001), WHATEVER YOU SAY MAY BE HELD AGAINST YOU (Shivastan Press, Woodstock 2004), CHAOS AND GLORY (Elik Press, Salt Lake City 2004), GOD’S BOUNTY (Elik Press, Salt Lake City 2008) und die zweisprachige Ausgabe WO DAS HERZ RUHT (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010); postum erschienen Gedichte von Ira Cohen in A NIGHT IN ZURICH (Gonzo, Mainz 2018), einer bunt illustrierten Kollaboration von Jürgen Ploog und Florian Vetsch, und im zweisprachigen Gedichtband ALCAZAR (Moloko Print, Schönebeck 2021).
Ich sah den leuchtenden Schweif eines Kometen, der nur im Abstand eines Menschenlebens erscheint, sah ihn viele Male, bis er mir zum Gefährten wurde, mir keinen Schrecken einflösste wie jenen, die an Omen glaubten. Ich sah den Himmel, als er noch so hoch war, dass Götter darin leben konnten, und ich sah diese Götter ausziehen aus dem Himmel nach und nach, einem Allmächtigen platzmachend erst, bis auch dieser ausziehen musste, sodass der Himmel nun leer ist. Ich sah die Berge, als sie noch keine Namen trugen, als niemand daran dachte, sie zu besteigen, und ich sah diese Berge nach und nach bezwungen werden, auch jene, die als heilig galten. Ich sah in der Wüste einen Mann auf einer Säule stehen, sah ihn auf dieser Säule verharren für Jahre, und der Mann antwortete auf meine Frage, warum er das tue, er wolle sich nicht in Versuchung führen, er entsage dem Weltlichen, um das Himmlische zu erlangen. Ich sah die Meere, als sie noch weit waren, als sie noch als unüberwindbar galten, als in ihnen noch Leviathan und Cetus lauerten darauf, die Seefahrer hinabzureissen, sah diese Kreaturen schrumpfen und schliesslich verschwinden von den Meereskarten, ich sah Schiffe auslaufen in diese Meere, und ich sah sie zurückkommen tief im Wasser liegend und betörend duftend. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Tod, dass sie behaupteten, es gäbe den Tod nicht, hörte sie sagen, das Leben ginge nach dem Sterben weiter bis in die Ewigkeit. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Leben, dass sie ihre Körper aufschnitten, ihre Körper aufhängten, ihre Körper wegwarfen in Schluchten und in Flüsse. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Verlust eines andern Menschen, dass sie behaupteten, dass das Leiden, das einem der Verlust eines andern Menschen verursache, schlecht sei, dass man niemanden so sehr lieben dürfe, dass sein Verlust einem Leiden verursachen könnte. Ich sah einen Mann brennen, angezündet von denen, die nicht glauben wollten, dass jeder Stern am Himmel eine Sonne sei, und dass um jeden dieser Sterne Planeten kreisten. Ich sah Frauen brennen, viele Frauen, denen man vorwarf, Nadeln in Milch gezaubert zu haben, ich kenne den Geruch von brennendem Haar, von schmelzender Haut, ich kenne den Anblick von Gesichtern, die in Flammen verkohlen. Ich sah Frauen sich die Zähne schwärzen, sah sie sich die Zähne weissen, die Haare lang tragen oder kurz, sah sie all diese Dinge tun im Namen der Schönheit. Ich sah Tiere, die als heilig galten, und deren Tötung bestraft wurde, und ich sah dieselben Tiere bezeichnet als schmutzig und nichtswürdig, und sah ihre Tötung gefeiert von vielen Menschen. Ich sah die Menschen Gesetze aufstellen, wen man lieben durfte und wen nicht, sah sie die eine Liebe erheben zum Höchsten, was es gebe, die andere Liebe als teuflisch verbannen. Ich sah die Menschen Dinge schaffen, die ihnen die Arbeit erleichterten auf dem Felde, sah sie Maschinen schaffen, die sich bewegten wie sie selbst,aber nicht aussahen wie sie selbst, ich sah die Menschen Fabriken errichten, welche die Bedürfnisse der Menschen befriedigen sollten, und ich sah sie Fabriken errichten, die Menschen vernichteten.
All das sah ich mit meinen eigenen Augen, aber niemand glaubt mir, dass ich all das gesehen habe.
Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2
Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker. Bald merkte er, dass er Bücher lieber schreiben als drucken würde und studierte am Literaturinstitut in Biel. Für das Manuskript «Buch der geträumten Inseln» erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 einen Förderpreis des Kantons Solothurn.
Eine von X.’ vielen Reisen auf dem afrikanischen Kontinent führte ihn – vermutlich 2014 – in die burundische Hauptstadt Bujumbura. Ich weiss nicht genau, was er dort machte. Manchmal frage ich mich, was er in solch abgelegenen Orten eigentlich suchte. War er für den Geheimdienst unterwegs? Bei dieser Reise allerdings war eher das Gegenteil der Fall. Er wurde beschattet, aber entkam den Agenten.
Er war wie so oft als Journalist eingereist, was auch seltsam ist, weil es die Formalitäten verkomplizierte, und er ja nichts schrieb. Er wäre einfacher als Tourist gekommen. Viele Journalisten reisen der Einfachheit halber lediglich mit einem Touristenvisum, was mit Risiken verbunden ist. Warum machte er es umgekehrt? In Ländern wie Burundi werden ausländische Reporter routinemässig überwacht. War es für ihn eine Art Spass zu versuchen, die Verfolger abzuhängen?
Er stieg zuerst im gediegenen Hotel Roca ab, wo oft Korrespondenten und internationale Delegationen unterkommen. Die Räume sind verwanzt, Telefon und Internet werden überwacht. Er besuchte gelegentlich ein billiges, schummriges Restaurant und beobachtete, dass zwei Agenten draussen, auf der anderen Strassenseite, warteten. Die Toiletten befanden sich im Hinterhof des Restaurants. Bei einer kleinen Inspektion stellte er fest, dass von dort ein schmaler Durchgang zum Innenhof des Nachbarhauses führte. Von dort wiederum gab es einen Ausgang auf ein Seitensträsschen, das weiter ins dichtbevölkerte Quartier und zu einem kleinen, überdachten Markt ging. Bei seinem vierten oder fünften Besuch der Imbissbude haute er durch diesen Hinterausgang ab. „Double-door“ nennt man dieses Manöver im Gangsterslang. Er verschwand im Labyrinth des Viertels.
Er hatte kein Gepäck mehr im Roca-Hotel. Das war bereits am Busbahnhof deponiert. Er zog ins Botanica-Hotel in Downtown um. Man hatte ihm gesagt, dort müsse man keinen Pass vorweisen. So würden auch die Behörden nicht erfahren, wo er war.
Er erschrak zwar, als die Frau am Empfang (es war eher eine Abstellkammer) ihm sagte, er solle seinen Pass nachher dem Chef geben, der komme in einer Stunde. Er versuchte, dem Chef auszuweichen. Aber als er ihm dann später am Abend doch über den Weg lief und an das kleine Pult beordert wurde, merkte er, dass der Chef davon ausging, er habe den Pass bereits der Frau gezeigt (oder zumindest so tat, um den offiziellen Schein zu wahren).
X. hatte Benoît in einem Klub namens „Arena“ kennen gelernt. Sie waren in einer Sitzgruppe am Rand eines Pools miteinander ins Gespräch gekommen. Mit dabei war ein älterer Franzose. X. hatte ihn gefragt, woher komme, und er antwortete, er lebe aus dem Koffer. Es stellte sich heraus, dass er Burundi seit Jahrzehnten kannte, wie auch viele andere afrikanische Länder. Über seine Tätigkeit wollte er nicht allzu viel preisgeben. „Sagen wir, ich bin Consultant.“ Auf X.’ Nachfrage sagte er: «Ich arbeite regional.» Er stellte sich auch nicht mit Namen vor. Irgendwann erhob er sich mit seinem Whiskyglas und sagte: „Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Falls jemand nach mir fragt – wir sind uns nie begegnet“ – und verschwand in der tropischen Nacht. Es hörte sich an wie aus einem schlechten Film, aber er meinte es ernst. Da blieben nur noch Benoît und X. übrig. Es war Benoît, der ihm das „Botanica“ empfahl und nebenbei erwähnte, man müsse dort keinen Pass vorzeigen. Er schwärmte ihm von Vanessa vor, einer Burunderin, in die er sich verliebt hatte. Eigentlich wollte er sie an diesem Abend ein letztes Mal treffen, aber seit 24 Stunden nahm sie das Telefon nicht mehr ab. Benoît war verwirrt, er konnte sich ihr Verhalten nicht erklären. Hatte sie ihr Handy verloren, wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben, oder war etwas Schlimmes passiert? Die Stunde seiner Abreise näherte sich, und er geriet immer mehr in Panik. Kurz vor der Fahrt an den Flughafen meldete sie sich, aber es war zu spät für ein Treffen. Benoît gab X. 200 Dollar und ihre Telefonnummer. Sie sollte später am Abend vorbeikommen, und X. würde ihr das Geld aushändigen.
X. wartete im «Botanica»-Hotel auf sie, im kleinen Restaurant des Innenhofs. Gegen elf Uhr nachts tauchte sie auf. Sie war nachlässig gekleidet und schmutzig, aber X. verstand sofort, warum Benoît so fasziniert von ihr war. Ihre Augen leuchteten, eine fast sichtbare Aura ging von ihr aus. Sie wollte nicht, dass X. ihr das Geld im Restaurant gab. Er ging zur Rezeptionistin, die eingezwängt hinter dem Eisenpult sass, und liess sich den Schlüssel geben. Die Decke war so niedrig, dass ihr der Ventilator bei einem brüsken Aufstehen die Haare wegrasiert hätte. Sie reichte ihm den Schlüssel für Zimmer Nr. 7. Das war das Zimmer von Benoît. Offensichtlich verwechselte sie ihn mit ihm, vielleicht, weil Benoît auch schon mit Vanessa hier gewesen war. In diesem Moment erst merkte er, dass es tatsächlich eine entfernte Ähnlichkeit zwischen ihm und Benoît gab. Darüber hinaus hatten Afrikaner oft Mühe, weisse Gesichter auseinanderzuhalten, so wie es Europäern oft auch umgekehrt mit ihnen ergeht. X. liess sich nichts anmerken und ging mir ihr in Benoît ehemaliges und jetzt leeres Zimmer. Sie erzählte ihm, dass sie verhaftet worden sei und eine Nacht im Gefängnis hinter sich hatte. Das Telefon hatte man ihr abgenommen, deshalb verpasste sie Benoîts viele Anrufe. Sie hatte Benoît nichts von ihrer Verhaftung erzählt, sie schämte sich. Nun, sagte sie, wolle sie so rasch als möglich nach Hause, um sich zu duschen und sich umzuziehen. X. sagte ihr, sie könne schon hier ein Bad nehmen, wenn sie wolle. Sie blickte ihn stumm und erstaunt an und lachte dann. Bevor sie ging, lud X. sie für den nächsten Tag zum Mittagessen ein. Er begleitete sie hinaus und hielt ein Taxi für sie an. Als er zurückkam, war niemand mehr an der Rezeption. Er schnappte sich seinen Schlüssel und brachte seine Sachen ins Zimmer Nr. 7. Am nächsten Morgen begrüsste ihn die Rezeptionistin mit „Bonjour Monsieur Benoît“.
Vanessa erschien tatsächlich zum Mittagessen. Sie gönnten sich in der Pergola des Hotels Stachelschwein mit Kochbananen und eine Flasche eisgekühlten Rosé. Nachher landeten sie im Bett. Sie setzte sich rittlings auf ihn und schlug ihm mit der Hand auf den Hintern, wenn er nachliess, und mit den Füssen auf die Oberschenkel, als ob er ein Pferd wäre und sie ihm die Sporen gäbe. Ein schlechtes Gewissen hatte er nicht. Er beendete gewissermassen für Benoît, was dieser angefangen hatte. Er brachte die Sache zu Ende, aber er machte es für ihn, in seinem Namen.
Am Abend gab sie ihm einige Texte, eine Art Tagebuch, die sie Benoît versprochen hatte. X. war neugierig auf ihren Inhalt, öffnete sie jedoch nicht und übergab sie, wieder in Europa, Benoît. Dass er mit ihr im Bett gewesen war, verschwieg er.
Was er allerdings nicht wusste: Vanessa erzählte Benoît alles, der X. jedoch nichts davon sagte. Dafür erzählte Benoît es mir, nach X.’ Verschwinden.
***
Ich ertappe mich bei der Fantasie, nach Bujumbura zu reisen und die Geschichte weiterzuführen. Ich könnte mich als Benoît oder als X. ausgeben (ich habe noch einen seiner Passports). Ich würde im selben Hotel Botanica absteigen, im selben Zimmer Nr. 7, und Vanessa anrufen. Ich kenne ihre Nummer (die bestimmt längst nicht mehr funktioniert – ich vergesse, wie viele Jahre das schon her ist! X. meinte manchmal auch, er könne irgendwohin zurückkehren und nahtlos dort weitermachen. Das ist eine Illusion, und wie viel mehr, wenn ich dort weitermachen will, wo jemand anders aufgehört hat. X. allerdings würde sagen: Natürlich kann ich in die Haut einer fremden Person schlüpfen – ich mache es dauernd! Und natürlich kann ich die Zeit austricksen – auch das tun wir unaufhörlich, ohne es zu merken).
(Der vorliegende Text ist ein bisher unveröffentlichter Auszug aus der entstehenden Erzählung «Tod eines Tricksters».)
David Signers acht Erzählungen in «Dead End» kreisen um biografische Wendepunkte, an denen bisher geregelte Existenzen aus den Fugen geraten. Eben noch im Alltag verhaftet, finden sich die Protagonisten plötzlich an fremden, düsteren Orten wieder. In Situationen, die sie überfordern. Oder in denen ihr Leben zu einem jähen Ende kommt. Dead End. Signer schickt in seinem Erzählband weisse, europäische Männer im mittleren Alter ins Verderben. Ob in Varanasi oder in Zürich, alle jagen verlorenen Träumen und unstillbaren Sehnsüchten hinterher, neben denen die Fassaden der bürgerlichen Leben zu Staub zerfallen.
David Signer, geboren 1964, promovierter Ethnologe, hat mehrere Jahre in Afrika verbracht. Er ist Autor des zum Standardwerk gewordenen Buches «Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt» über die Auswirkungen der Hexerei auf die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas. Von 2016 – 2020 lebte er als NZZ-Afrikakorrespondent in Senegal, seit 2020 wohnt er in Chicago und berichtet für die NZZ aus Amerika und Kanada. Zuletzt erschienen von ihm die Erzählungen «Dead End» (Lector Books, 2017) und der Roman «Die nackten Inseln (Salis, 2010).
Im Herbst erscheint von ihm im NZZ Libro-Verlag das Buch «Afrikanische Aufbrüche. Wie mutige Menschen auf einem schwierigen Kontinent ihre Träume verwirklichen».
Der Autor und Philosoph Martin Kunz lässt mit sechszehn Gelegenheitstexte zum Innehalten auffordern, sie sollen um Unterbrechen verführen. Zu diesem Buch, das durch die Pandemie-Krise eine neue Qualität erhält, stellt er sich Fragen.
«Ich muss ja nur noch, was ich muss.» Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Melancholie ist ein grosses Wort, das jedoch oft missverstanden wird, warum findet dieser Begriff Eingang in den Titel Ihres Buches?
Martin Kunz: Der Vorschlag, die Überschrift des siebten Textes als Buchtitel zu wählen, stammt vom Verleger. Aber ich war sofort einverstanden. Ich will der Melancholie etwas von ihrer Schwärze nehmen. Sie ist das wertvolle Gefühl des Unzulänglichen. Sie steht im Gegensatz zum Affentheater der Eitelkeit. Sie muss nicht in die Resignation führen, sie kann sogar lächeln. Ihr Lächeln wäre dann kein gestelltes, kein nervöses, keines, das die Zähne zeigt. In ihm erschiene ein Ja, das entwaffnet, aber nicht applaudiert. So kann eben auch das Erotische beginnen: als scheues Spiel, dem innewohnt, dass Lachen und Tod Hand in Hand gehen, wie beispielsweise Georges Bataille schön herausgearbeitet hat. Und jetzt sind wir beim Grundton der Betrachtungen in diesem Buch: Es gibt kein Licht ohne Schatten, was nicht zur Schwarzweissmalerei verführen soll, sondern zur Differenzierung der Farbzuschreibungen, zur Nachdenklichkeit. Und diese gehört zur Grundhaltung des Philosophen.
Ihre Reflexionen bewegen sich zwischen Themen gesellschaftlicher Natur und ganz persönlichen Notizen, wie lässt sich auf dieser Gratwanderung, schreiben ohne gleich die Seele ausstülpen zu müssen?
Die meisten dieser Texte sind aus bestimmten Erlebnissen heraus entstanden. Irgendetwas lässt mich nicht mehr los, und so setze ich mich hin, um zu schreiben, um dem vielleicht Zufälligen des Alltags etwas Grundsätzliches abzugewinnen. Ich bin im Spital; bin mit Freunden am Feiern; erhalte eine Nachricht von einem Kritiker meines Denkens; ich sitze am Meer, und es beginnt zu nieseln; eine Klage geht ein wegen des Verhaltens von Studierenden usw. Da kann es geschehen, dass es mich packt, und ich schreibe.
Quasi ein aus der Hüfte geschossener Affekt-Text?
Oder, manchmal entsteht zunächst so etwas wie ein polemischer Kommentar, den lasse ich dann ruhen und setze mich später wieder hin, will über das Glossenhafte hinaus zur wirklichen Erwägung gelangen. Meine Innereien kehre ich nicht nach aussen, aber sie müssen mitbeteiligt sein.
Sie tangieren mit Ihren philosophischen Erwägungen Bereiche wie Religion, Wahrheitssuche, pädagogische Grenzen, Eros, Träume, Sturm und Drang und Respekt. Damit geben Sie zu, dass trotz den immens vielen Tonnen philosophischer Schriften nach wie vor alle Fragen offen sind. Oder nicht?
Warum und wozu noch mehr schreiben? – das frage ich mich manchmal auch. Aber es ist vielleicht die falsche Frage. Schreiben ist wie jede innengeleitete künstlerische Arbeit eine Art Muss. Wenn man Glück hat, interessiert das Hervorgebrachte auch andere. Doch wer nur auf Massenerfolg zielt, ist kein Künstler.
Sagen Sie das mal den Kolleginnen und Kollegen mit Bestsellernauflagen…
«Die stille Erotik der Melancholie», Erwägungenn und Improvisationen, mit Illustrationen von Jeanine Osborne, Bucher Verlag, 2018, 96 Seiten, CHF 22.90, ISBN 978-3-99018-476-9
Natürlich ist gegen Erfolg nichts einzuwenden. Aber zu ihrer Frage zurück: Warum so unterschiedliche Themen? Weil das meinem Selbstverständnis entspricht. Ich sehe mich als vielseitig denkenden Flaneur, als Universaldilettanten auf professionellem Niveau, als jemanden, der kraft seiner Kompetenzen über alles und nichts nachdenken kann. Das ist etwas verspielt gesagt, was Philosophen in einer Welt von Spezialisten wieder sein sollten. Aber selbst eine erhaben gedachte Philosophie ist nochmals aufzubrechen auf eine Weite hin, die sie selber nicht hat. Und dort tummeln sich die Fragen, die wir vielleicht besser umspielen als definitiv beantworten. Platon wird von Aristoteles in Frage gestellt, Aristoteles von Platon. Bedeutende Denkformen fruchtbringend in die Existenz mit hineinnehmen, das wäre ein Philosophieren, das zur Gestaltung des Lebens beiträgt. Und weil dies denkerisch kaum je gelingt, brauchen wir die Kunst. Und wohl auch so etwas wie Religion.
Wie oft kommen Sie sich als Künstler und Philosoph bei der Arbeit in die Quere?
Eine listige Frage. Der Romantiker in mir möchte ja, dass Philosophie, Mythos, Kunst und Logos eins werden. Ich fühle mich Byung-Chul Han verbunden, der kürzlich geäussert hat, dass es der Welt gut täte, reromantisiert zu werden. Der Melancholiker bedauert schmunzelnd, dass dies nicht gelingt. Und der allem Hinterwäldlerischen abholde Spätmoderne sagt Ja, aber zur Welt, wie sie ist.
Und als Musiker…?
Freue ich mich über all das Gelungene in der Musik, die, wo sie ganz bedeutend ist, nie nur bejaht. Als Improvisator versuche ich das auszudrücken, was jetzt gerade zu sagen wäre.
Also mitnichten Konflikte zwischen den unterschiedlichen Schaffensarten?
In Wirklichkeit ist es aber durchaus so, dass sich die Arbeitsformen Denken, Poetisieren, musikalisches Gestalten tatsächlich in die Quere kommen können. Die erste Seminararbeit, die ich damals an der Universität ablieferte, kommentierte mein Professor so: Vielleicht ist es besser, wenn Sie Künstler werden. Ich habe dann zu sortieren gelernt. Aber als ich meine Dissertation schreiben sollte, entstanden wieder zuerst Gedichte. Unterdessen kann ich gut umgehen damit und lasse zu, was sich aufdrängt. Ich muss ja nicht mehr, muss nur noch, was ich muss.
Apropos Kunst, wenn ich ein Gemälde malte mit einem lesenden Menschen, der Ihr Buch in Händen hält, wie müsste dieses aussehen?
Da fällt mir ein Bild ein, das ich als Student liebte: Die Lesende von Jean Jacques Henner, einem während des Fin de siècle beliebten Malers. Das Bild mag künstlerisch problematisch sein, aber ich habe die zum Lesen verführte Daliegende gemocht, eine Nackte, die ihrerseits den Betrachter, scheinbar ohne es zu wollen, noch zu ganz anderem als zum Lesen verführt. Und der Gipfel war, dass, kaum war das Bild aufgehängt, eine Frau in mein Leben trat, die ihr glich und die während einiger Jahre grosse Bedeutung für mich hatte. Orientieren Sie sich also beim Malen des Bildes an einem solchen Ereignis.
Auch für das vorliegende Buch fanden Sie eine Künstlerin, mit der sich schon länger zusammen arbeiten…
Richtig. Nun hat sich ja Jeanine Osborne, eine interdisziplinäre Künstlerin, mit der ich seit rund zwanzig Jahren arbeite, in meine Texte vertieft und eine Fülle von Zeichnungen geschaffen, mit denen sie meine Gedankengänge augenzwinkernd kommentiert. Ich freue mich sehr, dass einige dieser Arbeiten in mein Buch aufgenommen werden konnten. Jeanine Osborne und allen andern, die mich mit ihren Kommentaren zu meinen gedanklichen Streifzügen herausgefordert haben, danke ich herzlich.
Martin Kunz studierte Philosophie, anthropologische Psychologie, Pädagogik und deutsche Literatur in Zürich und Berlin. Weiterhin studierte er am Konservatorium und an Kunstschulen und liessß sich zum analytisch orientierten gestaltenden Psychotherapeuten ausbilden. Bis vor kurzem war er Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Heute führt er am Rande des Zivilisationslärms ein Atelier für Kunst und Philosophie. Von ihm sind u. a. «Honig und Quarz. Lyrik und philosophische Zuspitzungen» (Collection Entrada 2017) und das «Wider der Selbstvergessenheit», Bucher Verlag 2020).
Sie kam zu spät, die anderen hatten schon mit dem Essen begonnen. Es war nur noch ein Platz frei, zwischen einem Mann und einer Frau. Wenn die Frau lächelte, wirkte es, als würde sie eine Übung durchführen, deren Ablauf sie beherrschte, an deren Sinn sie aber zweifelte. Der Mann war zierlich mit strähnig blondem Kinderhaar und schnurgeradem Scheitel. Auf dem Tisch standen große Schüsseln mit Miesmuscheln, jemand füllte ihren Teller, ein anderer ihr Glas. „Entschuldigung“, sagte sie nochmals, aber außer dem Mann neben ihr schien es niemand zu hören. Er sagte, „angenommen“, und hob sein Weinglas. „Pavel.“ „Mona“, sagte sie. Dann tranken sie.
Es ging um Politik, den Flüchtlingsstrom, der sich durch Mexiko zog, eine Wanderung von zweitausend Menschen. Viertausend, korrigierte einer. Und da kommen noch mehr, versprach ein anderer. „Da war diese Mutter“, erzählte die Frau, die Mona schräg gegenüber saß. Ein beeindruckender Afro über einem ebenmäßigen Gesicht, irgendwie kostbar, dachte Mona, wie eine dieser kunstvoll geschnitzten Holzmasken. „An einem Seil kletterte sie von der Brücke auf ein Floß, um den Grenzfluss zu überqueren. Und ihr hinterher ihre Kinder, ganz fassungslos vor Angst.“ „Habe ich auch gesehen“, warf jemand vom anderen Tischende ein. „Und dann das Interview mit ihr!“ „Ja“, sagte die Frau. „Als der Reporter zu ihr sagt: Trump schickt Militär an die Grenzen, und sie nur entgegnet: Gott hat das letzte Wort, nicht Trump.“ „Zu flüchten, ist so unvernünftig. Aber zu bleiben auch“, sagte ein Mann mit grauen, millimeterkurzen Haaren. Er trug eine dickrandige Brille, wie sie vor einigen Jahren modern gewesen war. Ein asketisches Gesicht, schmaler Clark Gable Schnurrbart. Bestimmt Künstler, tippte Mona, vielleicht bekannt. Oder verkannt. Auf jeden Fall der Älteste hier. Sie zählte lautlos die Anwesenden, mit Felix, dem Gastgeber, waren sie dreizehn. Die dreizehnte Fee, dachte sie. Die zu spät kam. Wütend, weil für sie kein goldener Teller mehr da war. „Das ist es, was Trump nicht kapiert“, fuhr der Künstler fort. „Dass seine Härte gegen die Verzweiflung nichts ausrichten wird.“ „Ist das ein Krieg?“, fragte die Frau neben Mona. „Eine Invasion?“ „Da hat wohl jemand zu viel Fox News gesehen“, sagte Pavel verächtlich. Muscheln durchreichen. Die Weinflasche. Das Klirren der leeren Muschelschalen, als sie zurück in die Schüssel geschoben wurden. Die Teller behalten, das Besteck auch, die Spülmaschine streikt, ihr versteht?, zustimmendes Nicken, dann erhoben sich zwei, nahmen die Schüsseln mit, gingen mit Felix in die Küche, Mona hörte sie lachen. „Pavel“, sagte sie. „Ist das tschechisch?“ „Korrekt“, sagte Pavel. „Der Kleine. Das passt doch.“ „Mona… Vielleicht von Mönch abgeleitet?“ „Und? Passt das? Lebst du mönchisch?“ „Ach je.“ Mona lachte. „Kommt vor.“ „Selbst schuld.“ Pavel klang plötzlich gelangweilt. „Du lebst nur einmal, kleine Nonne. Denk dran.“ Der nächste Gang. Kalbsfilet durchreichen. Die Schüssel mit Kartoffeln, klein und rund und gelb. Erbsen. Bohnen. Ein Sonntagsessen. Das Gespräch war inzwischen zur Kunst gewechselt. Eine Ausstellung in der Bronx. Die Kunstsammlung von König Charles dem Ersten. Tizian, Holbein, Tintoretto, you name it. An der Wand der Lebenslauf des Königs, mit 49 hingerichtet, und davor neun Kinder, von denen nur eines älter als 35 wurde. „Wenn du in den ersten Raum kommst, ist es wie in einem Albtraum: all die weißen Männer mit ihren Halskrausen und strengen Blicken, die dich anstarren.“ Die Frau neben Mona verzog angewidert das Gesicht. „Starrst nicht viel eher du sie an?“, fragte ein Mann, den Mona bisher noch nicht bemerkt hatte. Sie musste sich vorbeugen, um ihn zu sehen: Vollbart, braune, etwas zu eng stehende Augen, nicht viel älter als sie, achtundzwanzig vielleicht, der oberste Knopf des weißen Hemdes geschlossen, was ihm etwas Verklemmtes gab. „Das eine schließt das andere nicht aus“, sagte die Frau. Mona schätzte sie auf Ende dreißig. Sie hatte etwas Kindliches an sich, stupsnasig im Profil. Sie stocherte in den Erbsen herum, stach dann und wann ein paar auf, ihre Stimme klang fast trotzig. Kim Jong-Un. Der Islam. Natürlich sei der Koran nicht gewalttätiger als die Bibel. Du sprichst vom Alten Testament? Weil beim Neuen sieht das dann doch etwas anders aus. Okay, aber wer war nicht alles Christ. Truman, Reagan, Bush, Trump. Oha. Jemand erzählte von einem neuen Gesellschaftsspiel, das natürlich nicht neu war, sondern genau wie Wahrheit oder Pflicht. Das hatte Mona schon mit ihren Freundinnen gespielt. Also: Was ist für dich persönlich Erfolg? Spaß am Beruf. Die Liebe. Taxifahren in Manhattan. Wie bescheiden! Eine eigene Wohnung. Die Privatschule für die Kinder. Das war der Mann mit den grauen Haaren gewesen, offenbar der einzige mit Kindern, da niemand darauf reagierte. Das charakterlich Mieseste, was du in letzter Zeit gemacht hast. Meine Mutter ausgeladen. Einen Kollegen gemobbt – aber hey, er hatte es verdient, glaubt mir. Wählt niemand die Pflicht? Was ist die denn? Alles außer Telefonscherze! Küsse eine der anwesenden Personen. Partner ausgenommen. „Ich überleg’s mir noch“, sagte der bärtige Mann. „Und du, was hast du Schlimmes getrieben?“, fragte Pavel leise. Mona trank einen Schluck Wein. „Eine Freundin belogen“, sagte sie dann. „Und was ist daran schlimm?“, fragte Pavel ungläubig. „Ich lüge jeden Tag.“ Er wechselte die Tonlage, leutseliger Gesichtsausdruck: „Aber nein, Liebling, natürlich bin ich dir treu, wo denkst du hin? Meinst du etwa, dass ich in deiner Wohnung, deinem Bett…? Wie kannst du nur!“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum muss er auch dauernd verreisen, n’est pas?“ „Bist du Schauspieler?“, fragte Mona. Sie merkte, wie sie innerlich ein Stück von ihm abrückte. „Nein.“ Er sah sie prüfend an. „Bin ich nicht.“ Apple, Facebook, Tesla. Die Nerds sind Milliardäre geworden, und die großartige Idee vom guten Konsum verpufft. Wäre ja auch zu schön gewesen, so einfach sich und gleich noch der Welt was Gutes zu tun, indem man in einen neuen Laptop investiert oder ein Bild von seinem Lunch hochlädt. Und ist euch aufgefallen, dass wir alle gleich eingerichtet sind? Sogar dann, wenn wir die Sachen vom Flohmarkt holen, damit sie schön abgeschabt aussehen. In einer Ecke steht immer auch ein Eames Chair rum. Vielleicht müsste man aufhören zu konsumieren – hinaus ins Freie, ins abgeschiedene Leben, die Glückseligkeit an frischer Luft. Hat eigentlich jemand dieses Interview mit Sean Penn gesehen? Egal, was er gesagt hat, egal was er tut: alle reden nur über seine Raucherei und dass er auf Ambiant war. Als ob er der Einzige wäre! Als ob wir uns nicht alle aufputschen und runterholen müssten. Wer hat in der letzten Woche alles Drogen konsumiert? „Okay“, sagte der Bärtige. „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, jemanden zu küssen.“ Alle lachten, keiner hob die Hand, auch Mona nicht. Und der Bärtige blieb sitzen und küsste niemanden. Alles fake, dachte Mona. „Und du bist Deutsche?“, fragte Pavel. „Hört man das?“ „Nein. Oder vielleicht doch: ja. Aber Felix hatte dich angekündigt: seine deutsche Freundin.“ Pavel lächelte spöttisch und lieb. „Eigentlich bin ich Amerikanerin.“ Das war immer ihr Ass im Ärmel: Eigentlich bin ich Amerikanerin. Auch wenn sie ihre Staatsangehörigkeit nur dem unwahrscheinlichen Umstand zu verdanken hatte, dass ihre Eltern ein Jahr in Houston gelebt hatten, wo ihr Vater als Ingenieur beim amerikanischen Ableger des bayrischen Mutterkonzerns arbeitete und ihre Mutter, von der texanischen Sonne belebt, unerwarteter Weise doch noch einmal schwanger geworden war. Sodass nicht ihre Tochter, die zwecks Abitur in Deutschland geblieben war, sondern sie nach ihrer Rückkehr mit einem Baby dastand. Immerhin gab es Mona jetzt die Gelegenheit, in Amerika zu studieren und sich hier wie alle anderen Studenten bis zum Hals zu verschulden. Das erzählte sie Pavel. Nicht aber, dass sie sich immer nach Amerika gesehnt habe. Dass sie sich nie ganz heimisch gefühlt hatte in Deutschland. Das war zu albern, fast so sehr wie dieses dämliche Gesellschaftsspiel. „Und“, sagte Pavel. „Gefällt es dir hier?“ Er hatte jetzt nichts Spöttisches mehr an sich. Schien ganz zugewandt, nur an ihr interessiert. „Vieles“, sagte sie, „gefällt mir. Die Atmosphäre, die Uni, die anderen Studenten. Anderes verunsichert mich: ich habe den Eindruck, als könnte ich jeden Moment versagen. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich mitten in einem Strudel und ganz allein.“ „Das kenne ich“, sagte Pavel und Mona lächelte ihn dankbar an. Er sah nachdenklich auf seine Hände, dann sagte er: „Drogen. Mir helfen da immer Drogen.“ „Welche?“ „Ecstasy, Speed, Koks, je nachdem.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und Sex.“ Er warf ihr einen belustigten Blick zu. „Sei nicht schockiert, kleine Nonne.“ „Keine Sorge“, erwiderte Mona. „Bin ich nicht.“ Sie nahm seinen und ihren Teller, stellte sie aufeinander, dazu die Schüssel mit den restlichen Kartoffeln und trug sie in die Küche. Der bärtige Mann stand vor dem Fenster, drehte sich kurz nach ihr um und winkte sie dann zu sich heran. „Schau mal“, sagte er leise und nickte mit dem Kinn zum Fenster. Eine Amsel saß direkt davor auf der Fensterbank, im Schnabel einen Wurm, ihr zuckender Kopf mit dem runden schwarzen Auge. „Ein Männchen“, flüsterte er. „Erkenn ich am gelben Schnabel.“ Die Amsel flog weg, und er sagte: „Wie schön, dass wir uns jetzt endlich kennen lernen.“ Mona wandte ihm ihr Gesicht zu, sodass sich ihre Nasen fast berührten. „Finde ich auch.“ „Wollen wir das Abspülen übernehmen?“ „Wie romantisch.“ Mona lachte leise. „Oh, unterschätz das nicht. Die Hände im warmen Wasser, das Reiben und Polieren. Und vielleicht kommt die Amsel noch mal zu uns, vom Spülbecken aus könnten wir sie sehen. Übrigens mag ich dein Kleid, dieses schillernde Grün, du siehst darin aus wie eine Nymphe.“ „Ich bin eine“, sagte Mona. „Geboren aus Schaum, einer Muschel entstiegen.“ Er nickte. „Jetzt, wo du’s sagst.“
Er hieß Alex. Er kam aus Michigan und studierte Medizin an der Columbia. Mit dem Schwamm rieb er die Teller sauber, dann hielt er jeden unter warmes fließendes Wasser, bevor er ihn ihr gab. Schmale lange Hände, fast wie die einer Frau, sie stellte sich vor, wie er ein Skalpell hielt, wie er Körper öffnete, wie er darin herumbastelte, geschickt und sicher und unbeeindruckt. „Nein“, sagte er. „Ich will kein Chirurg werden.“ „Sondern?“ „Frauenarzt.“ „Wie schrecklich“, sagte sie. „Diese Entzauberung, meine ich.“ „Eigentlich nicht.“ Er hielt mit dem Spülen inne und sah sie an. „Der Zauber bleibt.“ „Dann ist ja gut.“ Sie nahm den Stapel mit Tellern. „Wohin damit?“ „Kinder, Kinder, Kinder!“, rief Felix, der in die Küche kam. „Ihr seid hier doch nicht zum Arbeiten. Raus mit euch, gleich gibt’s den Nachtisch.“ Er holte eine große Glasschale mit Vanillecreme aus dem Kühlschrank. „Nein“, sagte er streng, als Mona die Schale mitnehmen wollte. „Da müssen noch Verzierungen drauf. Kirschen, Krümel, der ganze Kram, du weißt schon. Raus jetzt mit dir.“ „Schon gut“, sagte Mona. „Ich geh ja schon.“ Im Bad sah sie sich im Spiegel an. Nur wenn sie lächelte, war sie schön. Ansonsten sah sie mürrisch aus. Auf ihrem Kleid Wassertropfen in gerader Linie, wie eine Markierung. Bevor sie die Tür öffnete, wusste sie, dass Alex davor stehen würde. „Er will mir nicht seinen Platz überlassen“, sagte er. „Ich habe ihm fünfzig Dollar geboten, aber er weigert sich.“ „Hast du nicht ernsthaft“, sagte Mona. Sie hatte Lust, ihn zu küssen. „Doch.“ Alex nickte. „War das zu wenig?“ „Wahrscheinlich“, sagte sie und ging zu ihrem Platz.
Also, sagte Pavel, jetzt da sie sich in der Küche amüsiert und ihn hier allein gelassen habe, müsse er ihr offenbaren, dass sie etwas versäumt habe, einen Streit nämlich, und wofür, wenn nicht dafür, gehe man schließlich zu einem Abendessen. Der Streit sei entbrannt zwischen zwei Frauen. Er deutete unauffällig auf die Frau mit dem Afro und auf eine zierliche Blonde, die am anderen Ende des Tisches saß und von einem bulligen Glatzkopf fast verdeckt wurde. Sie war die Einzige, die wie eine Geschäftsfrau aussah: Bluse, Blazer, Goldkette, der akkurat geschnittene Pagenkopf. Sie sah klug aus, fand Mona, und so, als wisse sie das auch. „Es ging um Emanzipation“, sagte Pavel. „Um sexuelle Belästigung, gleiche Bezahlung, Frauenquote – nichts Neues unter der Sonne. Das Witzige war, dass sie eigentlich einer Meinung waren und sich dann doch anfeindeten. Oh je“, unterbrach er sich. „Da kommt dein Verehrer.“ Alex hatte eine Schale in der Hand und einen Löffel. Er sagte, „ich setz mich dazu, falls das okay ist“, und Pavel sagte: „Nur zu, wackerer Kämpe, du lässt dich ja eh nicht abhalten.“ Alex holte einen Stuhl und setzte sich so neben Mona und Pavel, dass sie einen Halbkreis bildeten. „Es ging gerade um den Streit, den ihr verpasst habt“, sagte Pavel. „Zwei Frauen, die sich wegen MeToo und all dem Scheiß anfeindeten, ganz wunderbar.“ „Warum Scheiß?“, fragte Mona. Pavel sah sie abschätzig an. „Weil’s Scheiß ist, darum. Wir steuern auf prüde Zeiten zu, das kann ich dir verraten, meine Liebe.“ „Das sagt dir deine lange Lebenserfahrung, nicht wahr?“ Mona war auf einmal wütend, es überraschte sie beinahe selbst. Bis eben hatte sie Pavels Blasiertheit noch unterhaltsam gefunden. Wie alt war er überhaupt? Fünfunddreißig, vierzig? „Da hast du wohl recht.“ Pavel ignorierte ihre Wut. „Und ich für meinen Teil muss sagen: wenn mich Kevin Spacey betatscht hätte, hätte ich mich nicht wirklich aufgeregt.“ „Aber darum geht’s doch gar nicht“, sagte Mona. „Ob es dir persönlich gefallen hätte oder nicht. Sondern ob du dich hättest wehren können, wenn du in einer abhängigen Position gewesen wärst.“ „Hör mal, Süße. Das ist doch ein Nehmen und Geben. Ich meine, schau dir doch die Frauen mal an, Titten und Ärsche, wohin man sieht, und das alles nur, weil sie sich Vorteile damit verschaffen wollen. Aber dann dieses ‚nur gucken, nicht anfassen‘, eiteitei, die Unschuld vom Lande plötzlich! Dabei ist das doch ein Tauschgeschäft, von alters her und so bekannt wie der Katechismus.“ „Und damit ist jede Belästigung, sogar wenn es dann eine Vergewaltigung wird, in Ordnung?“ Mona sah fassungslos von Pavel zu Alex. Alex aß seine Vanillecreme, ohne den Blick zu heben. „Ach, Vergewaltigung.“ Pavel schnaubte spöttisch. „Wer da nicht alles vergewaltigt worden sein will.“ Mit hoher Stimme sagte er: „Also ich bin da nur so mit ins Hotelzimmer und hab mir nix dabei gedacht und plötzlich liegt der auf mir. – Merkst du nicht, was das für ein Mist ist?“ „Dann gibt’s für dich also gar keine Vergewaltigung?“ Mona sah hilfesuchend zu Alex, der ihren Blick erwiderte und kurz eine Grimasse komischer Ratlosigkeit schnitt. „Doch“, sagte Pavel. „Klar, im Park, von irgend einem Triebtäter. Aber der Begriff wird einfach inflationär gebraucht.“ „Nein“, sagte Mona. „Nein, nein, nein.“ Sie merkte selbst, dass ihre Stimme mit jedem Nein lauter geworden war. Für einen Moment schien ihr, als verstummten die Gespräche um sie herum. Aber vielleicht kam es ihr nur so vor, weil sie ganz auf Pavel konzentriert war, und auf das, was sie sagen wollte. Pavel sah sie abwartend an, sie amüsierte ihn offensichtlich. „Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung.“ Sie bemühte sich geduldig zu klingen – geduldig und herablassend. „Sie liegt dann vor, wenn Sex an jemandem vollzogen wird, ohne dass der- oder diejenige das will.“ „Und woher weiß man immer so genau, was der andere will?“, fragte Pavel. „Jetzt stell dich nicht dumm.“ „Wenn also beide den Sex wollen, ist er okay?“ Pavel legte die Stirn in Falten und stützte sein Kinn in die Hand. Er schien sich überwinden zu müssen, um die nächste Frage zu stellen, aber etwas in seiner Stimme – diese Naivität vielleicht: zugewandt und unschuldig -, verriet Mona, dass das ganz und gar nicht so war. „Wenn es also so ist, wie es in meinem Fall war: dass jemand mit acht Jahren das erste Mal Sex hat, mit einem Vierzigjährigen, und das ganz einfach, weil beide es gerne wollen, dann ist das okay, nicht wahr?“ „Nein“, sagte Mona. Sie fühlte eine Kälte, die sich plötzlich in ihr ausbreitete, eine dumpfe Trostlosigkeit. „Nein“, wiederholte sie. „Das ist nicht okay.“ „Und warum nicht?“ „Weil das Kind“, sie sprach jetzt leise, „also du, ausgenutzt wurde: weil dein Bedürfnis nach Liebe oder Zuneigung oder was auch immer sexuell ausgenutzt wurde.“ Pavel schob sein Gesicht nah an ihres und sah sie forschend an. Sie hielt seinem Blick stand, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. „Mehr hast du nicht zu bieten?“, fragte Pavel. „Mehr nicht als diese Küchen-Psychologie? Und was, wenn ich dir verriete, dass ich derjenige war, der ihn bedrängte? Ganz einfach, weil ich geil auf ihn war?“ Jetzt nicht weinen, dachte Mona, und dann dachte sie, dass das lächerlich war: dass sie hier saß und um diesen Pavel – um das Kind, das er gewesen war, und vielleicht auch um ihn, wie er heute war, so freundlich und grausam und falsch – trauerte. Aber sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Herz sich zusammenzog bei dem Gedanken daran, wie dieses Kind sich anbiederte und benutzt wurde. „Ist ja gut“, sagte sie leise. Sie stand auf. „Du hast gewonnen.“
Sie hatte ihre Jacke vergessen, darum fror sie nun in ihrem dünnen grünen Kleid. Dem Meerjungfrauenkleid. Egal, sie würde morgen bei Felix anrufen und sich entschuldigen, dass sie einfach so gegangen war. Und irgendwann in den nächsten Wochen würde sie ihre Jacke holen gehen. Dann fiel ihr ein, dass es Duncans Jacke war, und dass sich in der Innentasche die silberne Pillendose befand, die er ihr vorsorglich überlassen hatte, bis die Prüfungen vorbei waren. „Mist“, fluchte sie, „Mist, Mist, Mist.“ Wenn sie jetzt wieder zurückging und ihre Jacke holte, würde das mehr Aufsehen erregen als ihr eiliger Aufbruch von vorhin. Und Pavel würde sie lächelnd beobachten, voll mitleidiger Verwunderung. Einen Block vor Felix’ Haus kam ihr Alex entgegen, ihre Jacke über seinem Arm. „So bekam ich wenigstens deine Adresse raus.“ Er hielt ihr die Jacke hin und sie zog sie an und tastete nach der Pillendose. „Okay“, sagte sie. Sie war immer noch wütend auf Alex, weil er sie nicht unterstützt hatte. Aber sie war auch froh, dass sie nicht zurück in Felix’ Wohnung musste. „Danke.“
Am Morgen strich Alex mit seinen langen, schmalen Fingern über ihre Hüfte und ihr Bein, und es nervte sie nicht: sie ließ sich weiter streicheln und küssen und drehte sich irgendwann zu ihm um. Ihr Schlafzimmer war ein Chaos, nicht nur seine und ihre Kleider lagen auf dem Boden, auch zwei Weinflaschen standen da, die sie mit Duncan geleert hatte, und eine Baseballkappe lag auf dem Stuhl, von der sie nicht mehr wusste, wem sie gehörte. Es war alles etwas viel im Moment, aber es war auch schön: wenn, wie jetzt, die Sonne durch das Fenster fiel und Streifen von Staub in die Luft zauberte, die so breit und massiv aussahen, als könnte man sich auf sie setzen und geradewegs in den Himmel über New York reiten. Natürlich würde man fallen. Aber für einige Momente wäre es wunderbar. Man brauchte nur Mut.
Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.
Rezension von «Dieses entsetzliche Glück» auf literaturblatt.ch
Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.
Sandra Künzi «Die Hülle», Eine Erzählung, Der gesunde Menschenversand, essais agités, 2021, Taschenbuch, 88 Seiten, CHF 17.00, ISBN 978-3-03853-994-0
Nach einem schönen Wandertag im Spätwinter werden die Erzählerin und ihre Freundin Charlotte von finsteren Gesellen überfallen. Während sie Charlotte kidnappen und in eine Kneipe entführen, flüchtet die Erzählerin und wird vom Gemeindeschreiber persönlich angefahren. Welche Tragweite dieses Erlebnis hat, erfährt die Erzählerin erst später, als Charlotte sie bittet, für sie in eine Rolle zu schlüpfen. Sie soll als Burkaträgerin in einer Talk Show auftreten. Offenkundig spielt sie ihre Rolle bar jeglicher Gottesfurcht derart gut, dass niemand den Betrug erahnt. Sie wird immer wieder in Gesprächsrunden eingeladen, doch irgendeinmal fällt auch ihr die gewünschte Antwort nicht ein. Sandra Künzis Erzählung verarbeitet auf amüsante, literarische Weise die Diskussion rund um die “Burka-Initiative”, die am 7. März 2021 in der Schweiz zur Abstimmung gelangt.
«Am meisten ärgert mich, dass Burka und Niqab mit Islam gleichgesetzt werden. Das ist Quatsch.» Sandra Künzi
Interview mit Sandra Künzi von Beat Mazenauer, Germanist und Historiker, Literaturkritiker und freier Autor
Beat Mazenauer: «Die Hülle» hast du vor zwei Jahren geschrieben, lange vor der Burka-Initiative. Weshalb hast du damals dieses Thema aufgenommen?
Sandra Künzi: Die konkrete Idee zu der «Hülle» entstand im Herbst 2017, nachdem am 15. September 2017 die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» mit 105’553 gültigen Unterschriften eingereicht worden war. Ich fand die damalige Diskussion absurd. Es geht in dieser Diskussion im Grunde gar nicht um die Burka, den Niqab oder den Islam, sondern um unsere Projektionen und Ängste. Der Ganzkörperschleier bietet sich geradezu als Projektionsgefäss an. Man weiss nicht, was unter diesem „ Tuch“ steckt; aber interessanter im Grunde ist, dass man es offenbar auch gar nicht genauer wissen will. Diesen Eindruck hat man in der gesamten Diskussion: Sie wird emotional geführt, dabei rückt in den Hintergrund, worum es eigentlich geht. Die Gleichsetzung von Islam mit einem Verhüllungszwang ist absurd und fremdenfeindlich. Von diesen Ängsten und Projektionen handelt meine Erzählung.
Es geht um die Freiheit, heisst es im Zusammenhang mit der Burka immer wieder, von allen Seiten. Geht es wirklich um die Freiheit, oder ist das bloss vorgeschoben?
Ja, es ist interessant, dass die Freiheit sowohl von den Befürwortern wie auch den Gegnerinnen der Initiative ins Feld geführt wird. Freiheit bedeutet offenbar für jeden und jede etwas anderes. Beide haben Recht mit den Freiheiten, auf die sie sich berufen: Die Freiheit der Kleiderwahl, wobei eine Burka aus meiner Sicht kein Kleidungsstück ist. Die Freiheit der Religion und ihrer Symbole. Die Freiheit… hmm welche nochmal? Ah, genau, das Egerkinger Komitee erfindet eine neue Freiheit, nämlich jene des „das Gesicht zeigen“. Es gehöre „in aufgeklärten europäischen Staaten wie der Schweiz zu den zentralen, unveräusserlichen Grundwerten des Zusammenlebens, sein Gesicht zu zeigen“. Solche Sätze sind natürlich unglaublich reizvoll für eine Autorin.
Du verbindest in der Erzählung Mediensatire und Burka-Tragen. Worin liegt für dich der enge Zusammenhang?
Wir erinnern uns an die fortschreitende Zentralisierung der Medien z.B. im sogenannten TA-Media-Mantel, der seit 2018 die regionalen Redaktionen frisst, was gerade auch für die Kulturberichterstattungen und generell für die Medienvielfalt ein Problem ist. Dieser „Mantel“, also eine Hülle, ist natürlich nicht dasselbe wie die Burka oder der Niqab, aber die Symbole ähneln sich. Inhaltlich passen die Themen zusammen, weil die Medien natürlich der Kampfplatz dieser emotional geführten Abstimmung sind und weil sie manchmal auch mitverantwortlich sind für ins Feld geführte Unsachlichkeiten. Interessant ist auch, dass sich die Medien bemühen, „echte“ NIqabträgerinnen vor die Kameras zu bekommen, aber dennoch immer „nur“ Konvertitinnen finden. Und auch davon eigentlich nur etwa zwei. So sehr wir uns bemühen die Hülle zu heben, es gelingt uns nicht.
Du gehst am Rande auch auf den Fall des Fake-Journalisten Relotius ein: Ist das für dich ein journalistischer Burkaträger?
Hmm…. ich möchte die Burka nicht als „Verheimlichungs-Instrument“ verstanden haben. Ich bin keine Islamwissenschaftlerin, ich kenne die genaue Geschichte der Burka oder des Niqab nicht. Aber sicher habe ich die Figur Klaus aus meiner Erzählung an den Fall Claas Relotius angelehnt, weil Relotius verhüllte. Aus dem Abschlussbericht der Aufklärungskommission zum Fall Relotius geht hervor, dass er geschickt vorging. Es war wohl nicht ganz offensichtlich, dass er in seinen „Reportagen“ lügte oder Fakten zurechtbog. Das machte die Geschichten gerade so gut oder vielleicht sogar so „echt“.Gleichzeitig wollte man ihm schnell glauben und ihn wenig hinterfragt haben. Des Kaisers neue Kleider? Oder Baron von Münchhausen? Es hat nichts mit der Ganzkörperverhüllung zu tun, die Fundamentalisten unter dem Titel Islam für Frauen fordern. Sondern unsere Projektionen in die „Hülle“, die Burka stehen im Zusammenhang mit den Projektionen in die Texte von Relotius. In beiden Fällen glaubt man nur, was man will und man sieht nur, was man glauben will.
Deine Erzählung «Die Hülle» thematisiert ein aktuelles politisches Thema als Erzählung. Denkst du, dass solche Texte dabei mit helfen können, die politische Diskussion wieder anregender zu gestalten?
Das hoffe ich natürlich. Aber eigentlich müssen wir einfach lernen, wie eine sachliche Debatte geht. Dafür gäbe es auch Kurse, aber wenn Literatur mithelfen kann …
Bist du in der Sache gänzlich entschieden – oder ist das erzählerische Format auch für dich selbst eine Form der differenzierten Auseinandersetzung?
Ich bin gegen die Verhüllung, vor allem weil es meistens die Frauen trifft. Aber ich stimme trotzdem gegen diese Inititative. Man kann gegen die Burka oder den Niqab sein und trotzdem Nein stimmen. Am meisten ärgert mich, dass Burka und Niqab mit Islam gleichgesetzt werden. Das ist Quatsch. Als Muslimin wird man da in eine ganz blöde Ecke gedrängt, die mit der realen Religion vermutlich nicht viel zu tun hat. Und ja, diese Erzählung war auf jeden Fall mein Weg, mich in diesen Ambivalenzen zurecht zu finden.
Die Reihe «essais agités. Edition zu Fragen der Zeit» pflegt den kritischen Essay. Sie führt aktuelle Diskurse, spürt verborgene Themen auf und setzt überraschende Ideen in die Welt. Sie ist offen für ein bewegliches Nachdenken über Fragen der Zeit. Zugrunde liegt ihr eine eigens für die Reihe entwickelte Schreibsoftware, die Texte mit einem automatisierten Verfahren in Buchform bringt. Diese Software ermöglicht es, die Texte schnell, variabel und in unterschiedlichen Formaten zu präsentieren und sie in der Schweiz zu drucken. Die Reihe «essais agités» wurde von «alit – Verein Literaturstiftung» initiiert und erscheint in Buchform beim Verlag Der gesunde Menschenversand. Sie wird begleitet von einer Chapbook-Serie, die on demand bestellt werden kann.
Sandra Künzi, geboren 1969, Autorin, Musikerin und Juristin. Künzi schreibt für Bühne, Radio, Papier und tritt alleine oder mit ihrem Spokenword-Duo Künzi&Frei auf. Künzi ist Käptn der legendären Autorinnenreihe «Tittanic», deren gleichnamige CD 2009 im Verlag Der gesunde Menschenversand erschien. 2013 veröffentlichte derselbe Verlag ihr Buch «Mikronowellen». Sie ist Mitbegründerin des Berner Lesefestes «Aprillen». Als Präsidentin von t. Theaterschaffende Schweiz und Mitglied der verbandsübergreifenden Taskforce Culture engagiert sie sich für Kulturschaffende und Veranstaltende. Sie lebt in Bern.