«Jürgen Ploog, eine Gegenfigur zum etablierten Literaturbetrieb» von Florian Vetsch

Das Spielen mit Bombensplittern gehörte für den 1935 in München geborenen Jungen zu den Illuminationen im tristen Kriegsalltag. «Ich habe nie unter der Bettdecke Bücher verschlungen. Nach dem Krieg war keine Zeit fürs Lesen.» Es folgt ein Schnitt: Der Adoleszente verbringt ein Jahr in den USA und kehrt mit einem glühenden Interesse an der transatlantischen Subkultur nach Deutschland zurück. Er bricht ein Studium der Gebrauchsgrafik ab, heuert bei der Deutschen Lufthansa an, absolviert die Pilotenausbildung und fliegt schliesslich 33 Jahre lang in deren Langstreckendienst. Das sichert Jürgen Ploogs bürgerliche Existenz, neben der es aber diejenige des Autors gibt: «Ich bin doppelt belastbar.»

Ploogs erste literarische Versuche erscheinen in Zeitschriften, wobei sich rasch die Montage, dann das Schneiden als bevorzugte Schreibmethode abzeichnen. Der Schnitt entspricht dem unsteten, diskontinuierlichen Pilotenleben: 10 Tage zu Hause in Frankfurt, dann New York, dann Buenos Aires, dann Sydney, Kalkutta, Port Said… Jürgen Ploog wendet seit den frühen 1960er Jahren – im direkten Anschluss an ihre Erfindung in Paris durch Brion Gysin im September 1959 – die Cut-up-Methode an:

«Nehmt ein buch irgendein buch
zerschneidet es
zerschneidet
prosa
gedichte
zeitungen
zeitschriften
die bibel
den koran
das buch von moroni
lao-tse
konfuzius
das bhagawadgita
irgendwas
briefe
geschäftskorrespondenz
werbung
alle wörter

schlitzt es der mitte nach auf würfelt
die abschnitte zusammen
wie es euerm geschmack entspricht
schneidet ein wenig bibel hinein
streut ein wenig werbeprosa
darüber
mischt es wie karten werfts
wie konfetti herum
schmeckt es ab wie kochendheisse
buchstabensuppe

gebt die briefe eurer freunde
euer durchschlagspapier
durch irgendein sieb das ihr findet
oder erfindet

ihr werdet bald sehen
was sie in wirklichkeit sind
und sagen dies ist die ultimative methode
der wahrheitsfindung

reimt ein meisterwerk zusammen
pro woche
verwertet bessere materialien
hochexplosivere wörter

es ist nicht länger nötig eine zeit
der genies
anzubahnen seid euer eigener agent»

Mit diesen Worten rief Brion Gysin 1960 in Minutes To Go zur allgemeinen Anwendung der Cut-up-Methode auf. Und einer seiner Komplizen wurde der junge Ploog, der sich zum konsequentesten deutschsprachigen Cut-up-Autor mausern sollte – um nicht mit Carl Weissner zu sagen: zum «besten deutschen Cut-up-Autor». Wie William S. Burroughs, zu dessen persönlichen Kollaborateuren Ploog seit 1969 zählte, entwickelte er Gysins Erfindung zu einem eigenen Stil weiter.

Cut-up oder die Durchkreuzung des Nullpunkts der Literatur. Was erscheint auf der anderen Seite? Was passiert nach dem Durchbruch in den Grauen Raum? Welche Gestalten und Prozesse treten jenseits des Flusses in Erscheinung? Ploogs Schriften stellen zweifellos eine Antwort auf diese Fragen dar.

Einen politischen Spiegel fand die anarchische Schnittmethode in den linkstheoretischen Pamphleten von Kropotkin oder Herbert Marcuse, die Ploog als schmale Hefte in der Nova Press abdruckte. Doch seine eigenen frühen Experimente mündeten in ein Buch, das 1969 im Melzer Verlag erschien, ins Cola-Hinterland, das nur deshalb nicht «Coca-Cola Hinterland» heisst, weil Ploog den Darmstädter Kleinverleger Joseph Melzer von allem Anfang an vor einer millionenschweren Klage des Riesenkonzerns bewahren wollte. Cola-Hinterland wird – wie die späteren Bücher von Ploog – vom offiziellen Feuilleton weitgehend ignoriert, ver- oder geschmäht, erlangt aber in subliterarisch orientierten Kreisen Kultstatus.

Ploogs frühe Prosa zeichnet sich durch harte, rasche Schnitte aus, durch Atemlosigkeit und hohe Pressur, durch einen dissoziativen Bewusstseinsstrom, durch ständiges Auf-Zack-Sein gleichsam: «Ich versuche zu schlafen/Durcheinander aus Nerven Kreislaufschwächen & Sex-Gerüchen nach einem türkischen Bad/ die Kabine erinnerte mich immer stärker an eine Zelle/ ‹versuche dir den Orgasmus bewusst zu machen› sagte Suzie Geruch kirgisischer Haut zurücklassend – (…) gerade noch trinkbares Wasser wird von Syros gebracht… waschen ist unmöglich… es wären mindestens 5 Dimensionen nötig um eine solche Reise zu beschreiben… um der erdrückenden Gewissheit zu entgehen dass 20 000 Jahre Geschichte verspielt sind… es wurde spät, der Wind rappelte – Nordwind – das Postboot werde nicht kommen. Sagte der Kapitän… keine Spur von Kalypso… wenigstens heissen Kaffee zum Frühstück?»

Jürgen Ploog: Collage

Ploog ist kein Einzelkämpfer. In seiner Frankfurter Wohnung trifft sich, von der lokalen Szene bizarr und dandyhaft umschwirrt, die Underground-Avantgarde, darunter Jörg Fauser, Carl Weissner, Wolf Wondratschek und Udo Breger. Fauser setzt in seinem dieser Zeit gewidmeten autobiografischen Roman Rohstoff (1984) Jürgen Ploog unter dem Pseudonym Anatol Stern ein Denkmal: «Manchmal ging ich nach Feierabend zu Anatol Stern. Er lebte mit Frau und Tochter im Westend. Stern war im Hauptberuf Pilot, das Schreiben erledigte er nebenher, meistens in den Hotels, in denen die Crews abstiegen, in Karachi, Bombay, Bangkok, New York, Los Angeles, Rio. Seine Frau war außerordentlich attraktiv und gastfreundlich. Es schienen eine Menge Hippies und Junkies in der Wohnung zu verkehren, aber nach und nach bekam ich mit, dass es Literaturstudenten waren, Models, Boutiquenbesitzerinnen, Künstler, Autoren. Alle trugen lange, fließende Gewänder und lange, wehende Haare und waren mit Ketten, Ringen, Tüchern, Zöpfen, Glasperlen behängt. Unentwegt kreisten die Joints und die Teekannen.»

Ploog veröffentlicht nicht nur weitere Bücher, sondern gibt auch die Zeitschrift Gasolin 23 und, zusammen mit Walter Hartmann und Pociao, 1980 den Reader Amok/Koma – Ein Bericht zur Lage (Expanded Media Editions, Bonn) heraus. Das little mag Gasolin 23 erscheint mit einer fingierten ersten Nummer in acht Ausgaben von 1972 bis 1986. Es verdankt seinen Namen der Zusammenführung der Schicksalsziffer 23 mit dem ins Deutsche transponierten Titel des Gedichtbands Gasoline von Gregory Corso (City Lights, San Francisco 1958). Ploog sagt dazu: «Der Aufbruch im Kulturellen übers rein Rhetorische hinaus zeigte sich uns in der Entwicklung von Beat-Literatur & weiterführenden experimentellen Techniken wie Cut-up, wo sich zeitgemäßes Bewusstsein am direktesten & unverfälschtesten niederschlug. Deswegen sahen wir in Arbeiten von Burroughs, Kerouac, Ginsberg, Pélieu & Norse eine Art Leitmotiv. Entwicklungen auf besonderen Gebieten wie etwa dem Trivialen (Raymond Chandler) oder der Story (Charles Bukowski) zeichneten sich ab. Wir behandelten das nicht theoretisch, sondern belegten Einflüsse & Auseinandersetzungen durch eigene ästhetische Versuche, Übersetzungen oder auch Counterscripte. Wir erfanden die Zeitschrift also, ‹um unabhängiges, nicht zensiertes Schreiben am Leben zu erhalten›. Damit ist nicht etwa eine institutionelle Zensur gemeint (die es hier nicht gibt, sonst könnten wir zweifellos nicht veröffentlichen), sondern die Zensur, die der etablierte Begriff von tradierter ‹Kultur› immanent ausübt.»

Aber Ploogs Schreibe unterwandert nicht nur aufgrund expliziter politischer Äusserungen, randständiger Publikationsstrategien oder der anarchischen Schnittmethode die Konventionen. Es sind auch seine Motive, die mit allen moralischen Standards der konventionellen Literatur brechen. Durch das Universum der Ploog-Texte treiben massenhaft politisch inkorrekte Elemente: Pornografisches, Sodomie, Sexismen, Betrug, Diebstahl, Terror und Gewaltverherrlichungen… Doch keines dieser Elemente bleibt ungebrochen. Die Messermethode dekodiert sie, macht ihre Abgründe transparent, konterkariert sie mit wesensfremdem Material oder führt sie in gewitzten variativen Durchläufen, sogenannten Routines, ad absurdum. Schnitt und Falz deterritorialisieren Machtansprüche, Engführungen und Schrecknisse, kappen Erwartungshaltungen. Deshalb sei vor oberflächlichen Lesarten dieser Prosa gewarnt, auch wenn es klar ist, dass wir mit Ploogs Werken eine rotledern eingefasste dunkle Phiole aus dem Giftschrank für die Menschheit in Händen halten, ein wortalchemistisches Abenteuer eines Zöglings aus der Schule des Marquis de Sade, eine schwarzromantische Ausschweifung eines «Weltraumjunkies», eine Zumutung, ein Wagnis, aber auch ein besonderes Album der deutschen Subliteratur, die im Schatten der Gruppe 47 in den Sixties und Seventies zählebig und innovativ Wurzeln schlug – neben Hubert Fichte, Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann auch hier, mitten im Kreis der Gasolin 23.

«Ein alter blaustichiger Porno, der an jeder Stelle reissen kann»… Ploog und seine Komplizen leisteten einen namhaften Beitrag zur Verbreitung «kosmo-orgasmonautischer Produkte», zum Sexualisierungsprozess ihrer Epoche, den Klaus Theweleit in seinen Ghosts-Vorträgen (Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/M 1998) treffend als «Salzen» im Widerspiel von «Salzen & Entsalzen», von Enthemmung und Hemmung, bezeichnet hat. Stimuliert u.a. von Wilhelm Reichs Orgon-Schriften, startete in den 1960er Jahren, feministisch oft unterbelichtet, der Prozess einer selbstbestimmten Befreiungssexualität, der, um an Äusserungen von Peter Sloterdijk anzuknüpfen, den «Orgasmus links» definierte.

In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf: Gibt es einen anderen deutschsprachigen Autor, der so intensiv wie Jürgen Ploog an den Grenz- und Zentralgebieten des Sexus, an den Perversionen, Fantasien und Gelüsten der Wunschmaschine Mann gearbeitet hat? Einen «Beitrag zur kybernetischen Erotik» nannte Ploog im Untertitel seine lange Erzählung Die Fickmaschine (Expanded Media Editions, Göttingen 1970), und zwei seiner jüngeren Titel lauten ebenso signifikant: Lustspuren oder Die Exekution der Sinne bzw. Kleine Pornografie des Reisens (Moloko Print, Pretzien 2012 bzw. 2017). Ploogs Arbeiten stellen, wie etwa die Bücher der von ihm hoch geschätzten Punk-Ikone Kathy Acker, eine Literatur des Begehrens dar.

In seiner Prosa verfolgt er seit den 1980er Jahren vermehrt Ansätze zu Geschichten – die Schnitte werden weniger hart, dafür geschmeidiger und konziser. Zugleich beginnt er grössere theoretische Essays zu verfassen; deren bekanntester sind die Strassen des Zufalls / Über Burroughs (Lichtspuren, Bern 1988, zweite Auflage Galrev, Berlin 1998); eine Fortsetzung von Ploogs Auseinandersetzung mit Burroughs‘ Arbeiten erschien 2014 in dem kurzlebigen, aber innovativen Luzerner Verlag Der Kollaboratör unter dem Titel Word is Virus / 100 Jahre WSB. Anderseits markiert die selbstreferentielle Schrift Rückkehr ins Coca & Cola-Hinterland (Engstler, Ostheim 1995) einen Höhepunkt in Ploogs theoretischen Arbeiten.

Damit ist der weitere Weg vorgezeichnet. Jürgen Ploogs späte Texte weisen einen Zustand sprachlicher Glätte und Präzision auf, den die früheren Texte selten erreichen (und natürlich auch nicht erreichen wollen). Gesteigert haben sich die passagenweise Schlüssigkeit der Narration sowie Dichte und Stimmigkeit der Atmosphären. «Auf seine Weise ist Ploog ein grosser Stilist», meinte Wolf Wondratschek einmal, und dies tritt wohl selten so klar zutage wie in den Geschichten aus den letzten Jahren, darunter Santa Muerte (Engstler, Ostheim 2011) und Ferne Routen (Moloko Print, Pretzien 2016). Dank der «verlegerischen Grosstat» (Joachim Sartorius) von Moloko Print sind wichtige frühere Werke Ploogs in neuen durchgesehenen und z.T. mit Hör- und Bildmaterial angereicherten Ausgaben wieder erhältlich, bislang Nächte in Amnesien, RadarOrient und Dillinger in Dahlem. Deshalb lässt sich Ploog als Autor heute (wieder) neu entdecken – diese einflussreiche Gegenfigur zum etablierten Betrieb, ohne welche es die deutschsprachige Pop- und Beat-Literatur so nicht gäbe!

Florian Vetsch

Diese Würdigung erschien in der Fabrikzeitung Nr. 354, Zürich, Dezember 2019; Teile daraus erschienen, ediert von Katja Kullmann, in Der Freitag, Berlin, Ausgabe vom 8. Januar 2015.

Die Fabrikzeitung mit weiteren Texten zu Jürgen Ploog von Udo Breger, Katharina Franck, Pablo Haller, Jan Herman, Boris Kerenski, Claire Plassard, Miriam Spies, Michelle Steinbeck und Wolf Wondratschek.

Webseite von Jürgen Ploog

Foto: Ira Cohen (Copyright: Ira Cohen Archives LLC)

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» III

Alice Grünfelder ist in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine.

Collage von A. Grünfelder

Glück ist…

… wenn die sichelförmigen Holzplättchen im Tempel richtig fallen
und eine Frage mit Ja oder Nein beantwortet wird.

… wenn zum Ausfüllen eines Formulars die Behörde drei Lesebrillen
mit drei verschiedenen Dioptrien zur Verfügung stellt.

…. wenn einer sein Schwein mit einem Glücksbringer am Halsband
im Park spazieren führt.

… wenn die Erde einmal nicht bebt.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt „Sri Lanka. Geschichten und Berichte“ (2014) und „Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen“ (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman „Die Wüstengängerin“ (Verlag edition8).

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» I

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» II

Tim Krohn «Und was erzählt Ihr Parfüm?», eine Versuchsanordnung

Die Versuchsanordnung: Tim Krohn trägt ein Parfüm auf den Duftträger auf und riecht ihn viermal: sofort, nach einer Stunde, nach drei und acht Stunden (durchgeführt an den Solothurner Literaturtagen 2019). Jedesmal notiert er ganz ungefiltert, welche Bilder der Duft bei ihm auslösen. Daraus komponiert er anschliessend die “Geschichte des Parfüms”. (Stand 2. Juni 2019)

Die Düfte der DuftBar

© Julia Schöni

Azur
(Andreas Wilhelm)

Morgens um acht aus dem Haus auf die Veranda zu treten und barfuss durch den Garten zu gehen, der mehr Wiese als Garten war, entzückte Monica Settembrini jedesmal von neuem. Sie fühlte das noch taufeuchte Gras, stützte sie sich kurz auf den von Wind und Wetter ausgewaschenen Gartenzaun und genoss den melancholischen Anblick der Weisswäsche. Ihr Nachbar, ein pensionierter höherer Beamter namens Hämmerli, hatte sie tags zuvor wieder einmal auf der Leine vergessen, so dass der Nachtwind sie in komplizierten Mustern zusammengepappt, gefaltet, in sich verklebt hatte. Ihr Bonbon lutschend – seit sie das Rauchen aufgegeben hatte, begann sie den Tag stets mit einem Bonbon –, schlenderte sie weiter in die Garage, nur um sich kurz in die roten Polster eines fahruntauglichen Lamborghini Cabrio zu setzen, den sie zusammen mit dem Haus übernommen hatte. Wenn das Bonbon sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte, lutschte sie an ihrer Perlenkette.
Ihre nächste Etappe war das kleine tropische Gewächshaus, das sie nur betrat, um die Tonanlage einzustellen, die Affengeschrei hören liess und die Pflanzen zu Wachstum animieren sollte.
Manchmal begegnete sie auf dem Weg zurück ins Haus dem alten Gärtner, der ihr die Bäume schnitt, und fast immer hatte er beide Arme voll, entweder mit Werkzeug oder mit Zweigen. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern, ihm jemals die Hand geschüttelt zu haben, sondern immer nur das Handgelenk, und jedesmal überraschte sie, wie kühl es war und wie zart seine Haut: Sie erinnerte an Birkenrinde, und einmal konnte Monica nicht widerstehen, sich kurz an ihn zu lehnen, wie man sich an einen Baumstamm lehnt, ganz voller Vertrauen in seine Stärke. Der Gärtner stolperte und fiel hin, mit all seinen Werkzeugen im Arm, und blieb benommen liegen. Monica hatte schon ihren chinesischen Fächer gezückt, um ihm Sauerstoff zuzufächeln – wie unsinnig, draussen in der klaren Morgenluft! –, als er zu lachen begann und etwas zu ihr sagte, das durchaus bedeutungsvoll klang. In der Aufregung hatte nicht zugehört, trotzdem, irgendwie mechanisch, lächelnd genickt, und deshalb getraute sie sich danach nicht nachzufragen. Das Bedauern darüber beschattete seither ihre Begegnungen.

Blask

© Matthias Holm

(Christophe Laudamiel)

Ben hatte zu schnell „nein“ gesagt (er war sechzehn, ein wandelndes Bündel Unsicherheiten und sagte vorsichtshalber immer erst mal „nein“). Nun bereute er es bitter, denn alle fünf Frauen und Mädchen der Gutsfamilie waren mit geschürzten Röcken oder hochgekrempelten Jeans – die mollige Doris sogar nur im Slip – damit beschäftigt, in einem grossen Zuber Trauben zu stampfen, und er war nicht dabei.
Ben Peter Harris (in anderem Zusammenhängen Benjamin P. Harris Junior) kam aus den vereinigten Staaten, aus Macon, Arkansas, um genau zu sein, einem Städtchen in den Südstaaten also, dass von der nahen Luftwaffenbasis Little Rock lebte. Er hatte die Reise nach Europa an einem Schulwettbewerb gewonnen, für vier Monate durfte er als Austauschschüler ins burgundische Mâcon reisen. „Was für ein Kaff“, hatte er gedacht, als er feststellte, dass in Mâcon noch weniger Menschen lebten als in seinem erzlangweiligen Städtchen. Zu allem Überdruss sollte er auf einen Bauernhof ziehen – er, der in einem viktorianischen Holzhaus mit Säulen und einem englischem Rasen gross geworden war, der fast so kurz geschnitten war wie Bens Haar (denn Benjamin P. Harris Senior war Kommandant des Stützpunkts und legte Wert darauf, die Haarlänge seiner Söhne wöchentlich mit einem dafür entwickelten Massstab zu kontrollieren). Doch die Auszeichnung war eine Ehre und musste angenommen werden. Nun war er seit vier Tagen da und mit der französischen Lebensart, wie er sich eingestehen musste, gänzlich überfordert.
„Ben, komm runter“, hatte Silvie an diesem erstaunlich schwülen Septembermorgen vom Vorplatz her gerufen, „heute ist Erntefest!“
Er hatte an Thanksgiving gedacht, an seine Mutter, die den ganzen Tag in der Schürze zwischen Küche und Esszimmer hin und her rannte, an den zähen Truthahn, die Dekoration aus Kürbis, Strohgebinden und buntem Laub aus Plastik, an die geladenen Gäste in Uniform und Zweireiher und die unvermeidliche Rede seines Vaters, die jedes Jahr, seit die Demokraten an der Macht waren, gehässiger wurde. „Nein, danke“, rief er, „da lerne ich lieber.“ Denn er hatte feststellen müssen, dass er in jedem Fach hinterherhinkte.
Silvie hatte leider nicht insistiert, denn eben kamen ihre beiden Tanten an. Charlotte war eher unscheinbar, doch auch nicht übel, grosse Brüste, Anfang zwanzig. Die andere aber, Marie, eine Französischlehrerin, wie er später erfuhr, war in Worten nicht mehr zu beschreiben, lang, schlank, dunkelhaarig, klar, entschieden, keinerlei Getue, wie er es von den amerikanischen Frauen kannte, auch kein Gequäke. Im Gegenteil, sie hatte eine tiefe, warme Stimme, die alles in ihm aufrüttelte, einen – wie er später feststellen sollte – wunderbar lakonischen Humor (den er leider oft nicht begriff) und über all dem eine Wesensart, die jede ihrer Bewegungen zu einem Ereignis machte.

© Lea Frei

Ben beobachtete vom Fenster seines kleinen Mansardenzimmer aus, wie die Frauen sich begrüssten, scherzten und darauf warteten, dass die Männer die ersten Trauben in den Bottich leerten. Der stand in der Scheune, die Scheune wiederum war ans Wohnhaus angebaut. Also schlich Ben sich, sobald sie hineingegangen waren, auf den Estrich – es war ein schlimmes Gefühl, in Socken (denn trotz der Hitze weigerte er sich, barfuss zu gehen) über das unbehandelte Holz zu gehen, das tausend kleine Splisse und Risse hatte, an denen er mit jedem Schritt wie kleben blieb. Den Estrich hatte Silvie ihm am ersten Tag gezeigt, er roch nach jahrhundertealtem Staub und war praktisch leergeräumt, neben einigen hölzernen Gerätschaften, deren Zweck er nicht kannte, sah er nur eine Bananenschachtel mit Fotoalben, ein Goldfischglas mit einem aufgerissenen Tütchen Enzianbonbons darin und ein besticktes Geschirrtuch, auf dem stand: Beurre et pain font joli teint. Durch die Lücken im Riemenboden beobachtete er die Frauen und wunderte sich über so viel Unbefangenheit.
Erst zum Abendessen – und nachdem er sich zweimal von Silvie hatte rufen lassen) – wagte er sich unter die Menschen und murmelte etwas von „schrecklich viel zu büffeln.“ Doch Marie (er hatte nur Augen für Marie) sah keinen Augenblick lang aus, als kaufe sie ihm das ab. Stattdessen lag, wann immer sie ihn ansah (und das tat sie öfters, während sie jemand anderem lauschte), etwas Amüsiertes in ihrem Blick, das Ben unmöglich deuten konnte. Auf seiner Stirn wiederum stand den ganzen Abend über nur der eine Satz geschrieben: „Bitte berühren Sie mich!“ (Denn tatsächlich siezte er Marie, was sie zusätzlich amüsierte.)
Auch wenn Ben nicht begriff, wie er sich in dieser Runde zu benehmen hatte, fühlte er sich – wie er irgendwann erkannte, in einer der Phasen, in denen sich alles um Themen drehte, für die ihm das Vokabular fehlte, und niemand sich mehr die Mühe nahm, ihm zu übersetzen – hier doch weniger einsam als in seinem Elternhaus, in dem vor lauter Prinzipientreue (oder Prinzipienreiterei – wo, fragte er sich, war da die Grenze?) das Flüchtige, Flapsige, Freche und Freie des Menschen verloren ging. So dachte er tatsächlich, denn er war in jenem Alter, in dem man grosse Gedanken liebt. Und er ging noch weiter: Er beschloss, seine Erkenntnis zum Ausgangspunkt des Berichts zu machen, den zu verfassen und bei seiner Heimkehr der Schulleitung vorzulegen er sich verpflichtet hatte.
Gern hätte er Marie von seinen Gedanken erzählt, doch sie sprach ihn lange Zeit nicht an, und als sie es ganz überraschend tat, hatte er sich gerade an einen Film im Internet erinnert, in dem auch eine Französischlehrerin vorkam, dargestellt von einer gewissen Trudy Bitch, die für eine Wohltätigkeitsorganisation von Haus zu Haus ging und Tombolalose verkaufte; zog jemand das richtige Los, durfte er sie auf der Stelle vögeln (und es gab erstaunlich viele solcher Lose). So konnte er nur stottern und hatte Marie so gar nichts Substantielles zu entgegnen.
„Sixteen, what a shitty age, istn’t it?“, sagte sie darauf (vermutlich wollte sie ihn trösten, doch ihm war, als habe sie ihm die Brust durchbohrt), und bald darauf stand sie schon auf. In ihrem kleinen Renault fuhr sie durch die sternenklare Nacht heim in ein Dörfchen namens Digoin, in dem sie, wie er hörte, mit Mann und Kindern lebte. Zum Abschied gab sie allen Küsschen, nur Ben drückte sie kameradschaftlich die Hand (vermutlich hatte sie auch hier nur Rücksicht zeigen wollen).
Der Polstersessel aus abgewetztem Cordsamt, in dem sie vor dem Abendbrot gessessen und ihren Kir getrunken hatte, roch aber noch einige Tage nach ihr, und Ben sass oft darin, wenn ihm – in Socken und mit langen Jeans – zu heiss war, um sich zu seiner Gastfamilie nach draussen zu setzen.

© Eva Meister

Eau radieuse
(Christophe Laudamiel)

Sein erstes erotisches Erlebnis hatte Samuel Ox – den seine Kameraden „Muh“ nannten – mit dreizehn Jahren im Garten seiner Tante Gudrun. Sie hatte sich auf dem letzten Glatteis des Winters den Fuss gebrochen und lag seither im Krankenhaus, denn der Bruch war komplizierter. Damit das Grundstück „im Schuss blieb“, zahlte sie für gewisse Dienste fünf Mark die Stunde. Der Frühling war in diesem Jahr schnell und heftig ausgebrochen, schon Anfang April stand das Gras knöchelhoch. Das sollte Samuel schneiden.
Am Ostermontagmorgen fuhr er mit dem Bähnchen hin, das die Dörfer des Tals verband, und lief vom Bahnhof den Kanal hoch bis zu Tante Gudruns Haus. Dort war schon ein Mädchen an der Arbeit, das er nicht kannte. Es hiess Helga oder Hella, er hatte nicht genau verstanden, denn das Mädchen sprach schneller als die Leute im Tal, und er getraute sich nicht nachzufragen. Jedenfalls war Hella oder Helga – er entschied sich irgendwann für „Helga“, hütete sich aber den ganzen Tag über, sie mit Namen anzusprechen – zu Besuch bei Verwandten, die wiederum Tante Gundruns Nachbarn waren und im Haus nach dem Rechten sahen, und so war sie beauftragt worden, den Gartenzaun zu streichen. Helga war blond, sie hatte einen verstrubbelten Pagenkopf, der aussah, als hätte sie die Haare selbst geschnitten, trug Latzhosen und schob sich alle paar Minuten einen neuen Kaugummi in den Mund, Wrigleys Spearmint, ohne die alten auszuspucken – das machte das Verständnis nicht leichter. Sie war dreizehn wie er. So hatte sie das Gespräch am Gartenzaun eröffnet: „Ich bin dreizehn“, sagte sie, noch ehe sie sich vorstellte, „und du?“ Und wie die meisten gleichaltrigen Mädchen schüchterte sie Samuel ein.
Tante Gudrun hatte noch einen dieser altmodischen Rasenmäher, die mit Muskelkraft betrieben wurden, das Messer war durch eine Übersetzung mit den Rädern verbunden, und am besten liess sich damit mähen, wenn man mit Schwung über den Rasen rannte. Samuel machte gehörigen Krach, das geschnittene Gras flog hoch. „Kleb mir bitte das Gras nicht in die Farbe“, rief Helga, als er beim Wenden kurz den Griff losliess und sich den Schweiss abwischte. Er murmelte etwas Unbestimmtes, das ebenso als Entschuldigung wie als Verteidigung herhalten konnte, dann pulte er ein paar Grasschnipsel von einer frisch gestrichenen Latte und fragte: „Was ist denn das für eine Farbe?“
„Ölfarbe“, antwortete Helga.
Samuel schüttelte den Kopf. „Ich meine, das ist doch kein Weiss. Oder Grün, oder Braun. Das ist doch keine Farbe für einen Zaun.“
„Das ist Milchblau“, sagte Helga. „Gefällt es dir nicht?“
Samuel zuckte mit den Achseln, obwohl ihm die Farbe sogar sehr gefiel. „Milch ist doch nicht blau“, sagte er. „Milch ist weiss.“
„Dünne Milch schon“, antwortete sie. „Jedenfalls heisst diese Farbe hier Milchblau.“
„Du hast dich beschmiert“, stellte er fest, als ihm keine Antwort einfiel.
„Und wenn schon“, sagte sie leichthin, „das ist normal, wenn man einen Zaun streicht.“ Zum Beweis drückte sie den Arm gegen die Latten und zeigte ihm den Abdruck auf der nackten Haut, dann beugte sie sich vor und pinselte die Stelle am Holz wieder über, denn wo sie es berührt hatte, war es matt geworden. „Du hast noch eine ganze Menge zu mähen“, bemerkte sie.
„Wetten, ich bin eher fertig als du?“, rief er, doch Helga hob nur die Schultern und meinte: „Ist mir wurscht, Samuel. Ich will dreissig Mark verdienen, also male ich bis vier Uhr. Bis viertel nach, eine Viertelstunde lang mache ich Pause.“
Samuel schämte sich etwas, dass er nicht so vernünftig gedacht hatte. Nachdem er sich wieder an die Arbeit gemacht hatte, schob er den Rasenmäher etwas gemächlicher, so flogen auch die Grasschnipsel weniger weit. Aber der feuchte Abschnitt verklebte die Sohlen seiner Turnschuhe, und als er eine Bahn gerecht hatte und den vollen Korb zum Kompost tragen wollte, glitt er auf den Stufen zum Gemüsegarten aus und schlug hin. Er fluchte und verbiss sich knapp die Tränen.
„Weh getan?“, rief Helga vom Zaun her.
„I wo, aber es blutet“, sagte er. „Das Knie.“
„Kleb ein Sauerampferblatt mit Spucke drauf, das hilft“, riet sie ihm.
Samuel wusste nicht, wie Sauerampfer aussah und ob im Garten welcher wuchs, und Helga dachte nicht daran, ihm zu helfen. Also humpelte er in die Küche, tupfte die Wunde mit Küchenkrepp ab (er hatte nur die Haut leicht aufgeschürft), in Tante Gudruns Bad durchsuchte er die Schränke, bis er ein Pflaster fand, dann sammelte er notdürftig den Grasmatsch, den er eingeschleppt hatte, von den Teppichen.
Inzwischen war auch Helga ins Haus gekommen. „Ich mache mir ein Rundstück“, rief sie aus der Küche, „isst du mit?“ Was sie „Rundstück“ nannte, war eine Käsestulle, die assen sie mit Joghurt, sie sass auf dem Küchentisch und liess die Beine baumeln. Er lehnte an der Anrichte und untersuchte mehrmals sein Pflaster, um zu sehen, ob es durchblutete. Sie sprachen nicht viel, denn Samuel war noch nie mit einem Mädchen seines Alters allein gewesen und konnte nur immer denken, dass er sie jetzt eigentlich küssen müsste – ganz besonders, nachdem er zugesehen hatte, wie sie den Joghurtlöffel ableckte. Sie ihrerseits beachtete ihn nicht gross, lieber studierte sie den Abdruck ihrer Zähne in der Stulle und im Joghurt die Aprikosenfasern, und manchmal fuhr sie sich durchs Haar, das so wirr war – oder so verklebt von Farbe, oder beides –, dass sie kaum mit den Fingern durchkam und immer wieder richtig reissen musste. „Aua“, sagte sie dann jeweils, kniff die Augen und rümpfte die Nase, aber sie lachte dazu. Sie war bestimmt überhaupt tapferer als er.
Nach einer Viertelstunde sah sie auf die Uhr, schrieb auf einen Zettel, den sie ihr „Logbuch“ nannte, von wann bis wann sie Pause gemacht hatte, beschwerte den Zettel mit einem Aschbecher und machte sich wieder an die Arbeit. Samuel musste erst noch aufessen, er beroch den Zettel und küsste ihn (danach klebte etwas Joghurt daran), dann ging auch er zurück in den Garten, er humpelte kaum noch.

© Mirta Lepori

Die Sonne berührte die Spitzen der Haselhecke entlang dem Kanal, als er rings ums Haus gemäht hatte, alles Gras gerecht und die Geräte versorgt. Helga entdeckte er schliesslich hinter dem Haus auf dem Treppchen, das zur Küchenlaube führte. Dort wärmte die Sonne noch. Sie roch an einer Orange, dann klebte sie den Kaugummi hinters Ohr, biss die Schale auf und schälte sie. „Der Samuel“, sagte sie, als sie ihn sah, in sonderbar verträumtem Tonfall, „auch schon fertig?“ Er schob die Hände in die hinteren Hosentaschen und stellte sich vor sie, um sich irgendwie zu verabschieden oder sie doch noch zu küssen oder – idealerweise – sich von ihr sagen zu lassen, wie toll er sei und wie sie ihr Leben lang auf ihn gewartet habe und wie unbedingt sie ihn heiraten wolle, so wie er sich das den ganzen Nachmittag über ausgemalt hatte. Stattdessen bot sie ihm von ihrer Orange an, aus lauter Verlegenheit lehnte er ab und bereute es, als er sah, wie sie herzhaft in eine der Hälften biss und der Saft ihr über Kinn und Hände rann. „Im April so saftige Apfelsinen“, sagte sie. „das gibt’s nur in Sizilien. Ich kenne sogar den Baum, auf dem sie gewachsen ist, jedenfalls gibt es Fotos von mir und dem Baum. Mein Papa arbeitet mit einem Sizilianer, und wir waren mal dort. Magst du echt nicht?“
Samuel schüttelte den Kopf, obwohl er natürlich wollte, und plötzlich dachte er, dass er womöglich unhöflich war, daher kramte er ein paar Ostereier hervor, die er am Morgen in die Hosentasche gesteckt hatte. Sie waren inzwischen nicht mehr wirklich Eier. „Willst du?“, fragte er trotzdem.
„Danke, ich mag Schokolade nicht besonders“, sagte sie und schob den Kaugummi wieder in den Mund. Samuel war noch damit beschäftigt, die Alufolie aufzupulen und mit den Zähnen die Pampe abzuschaben, als Helga aufstand, die Hände am Hosenlatz abwischte und ihm die rechte hinhielt. Hastig leckte er die Finger ab und rieb sie am Hemdsaum trocken, dann schlug er möglichst männlich ein.
„Es war nett, dich kennenzulernen“, sagte sie und klang plötzlich sehr erwachsen. „Und grüss deine Tante, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt. Ich bin dann schon wieder in Hamburg.“ Er hatte die Schokolade noch nicht von den Zähnen gelutscht, um den Mund aufzumachen, da war sie schon über den Zaun gestiegen – es gelang ihr tatsächlich, ohne ihn zu berühren – und hinter dem leuchtend gelben, wild wuchernden Forsythiendickicht verschwunden, das das Nachbarshaus verdeckte.
Samuel Ox träumte über ein Jahr lang jede Nacht von ihr, im Schlafen und im Wachen. Er wagte nie, nach ihr zu fragen, doch selbst als Erwachsener wurde er noch rot, wenn er den Namen Hella oder Helga hörte.

© Julia Trachsel

«Wenn Düfte erzählen: Geschichten gehen durch die Nase» (When Fragrances Tell: Olfactory Storytelling) is part of the project «Smelling more, smelling differently: Scent as Cultural Practice» conducted by Bern University of Applied Sciences and funded by the Swiss National Science Foundatio

Dazu gibt es auch ein Filmchen: https://www.youtube.com/watch?v=xCfrInadAW4

© Susanne Schleyer

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er der Schriftstellerin Micha Friemel und seinen Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane „Quatemberkinder“ (1998), „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“ (2000), „Vrenelis Gärtli“ (2007) und „Ans Meer“ (2009), die Erzählbände „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“ (2014) und „Nachts in Vals“ (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum „Einsiedler Welttheater 2013“. Zuletzt erschienen die Alpensage „Der See der Seelen“ und der Krimi „Endstation Engadin“ (beide im Kampa Verlag). Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

Maj Doerig, Lea Frei, Matthias Holm, Mirta Lepori, Eva Meister, Julia Schoeni und Julia Trachsel sind StudentInnen Illustration Fiction an der Hochschule Luzern.

Beitragsbild © Maj Doerig und Lea Frei

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» II

«Was haben wilde Erdbeeren, wilde Lilien und Sonnenblumen gemeinsam?» Es sind Namen dreier Bewegungen Taiwans, die jedes Mal zu einem unblutigen, wenngleich spektakulären Machtwechsel führten. Wie zeigt sich nun der in der Vergangenheit erprobte Widerstand? Und wie sehen die Zeichen von Non-Konformismus im turbokapitalistischen Alltag der Inselrepublik aus?

Mit diesen Fragen im Koffer macht sich die Schriftstellerin Alice Grünfelder in Taiwan auf Spurensuche und schickt ihr Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichtet per Postkarte ans literaturblatt.ch – jeden Monat eine.

Erste Irritationen

Wo ist Ost und West wenn
der Nebel in die Stadt drückt
kein Sonnenlicht im
mehrstöckigen Labyrinth
Google Maps ein schwacher Trost

Glocke und Drache
im Osten mit Weihrauch um
Glück bitten Krankheit
und Angst mit Geld verscheuchen
so die Regeln in Tempeln?

 

Sun Wei «Die Einbahnstraße der Elefanten»

aus dem Chinesischen von Anna Stecher

Es war ein Sommer wie im Backofen. Am Horizont hinter der großen Stadt türmten sich Abend für Abend feuerrote Wolken. Sie sahen aus wie riesige rote Elefanten, die gemächlich auf die fingernagelgroßen Häuser zu wanderten. Der Trupp der Elefanten war unendlich lange, so als würde er niemals aufhören. Sogar an windigen Abenden klebten sie am Himmel wie an einem Vorhang, der immer dunkler und dunkler wurde, bis schließlich die tiefblaue Nacht hereinbrach.

Mufeng presste ihre Nase ans Fenster und sah dem Elefantentrupp dabei zu, wie er sich langsam vorwärts bewegte. Obwohl die Klimaanlage im Wohnzimmer an war, schwitzte sie, und ihre Nase hinterließ auf dem Fensterglas einen Abdruck wie eine Erdbeere.

Großmutter sagte: „Morgen wird wieder ein heißer Sommertag sein. Das kann man an der Form der Wolken erkennen.“

Kaum war Großmutters Stimme verklungen, sah Mufeng keine Elefanten mehr, sondern nur ein paar feuerrote Riesenwolken, die über den Himmel dahinzogen.

Mit den Hausaufgaben für die Sommerferien war Mufeng schon fast fertig, der Sommer selbst würde bald zu Ende sein. Natürlich war sie gespannt auf den Herbst, im nächsten Semester gab es viele neue Kurse und sie würde viele neue Mitschüler kennen lernen. Aber in letzter Zeit hatte Mufeng begonnen sich etwas zu wünschen. Sie wünschte sich, dass der Herbst niemals kommt, sie wünschte sich, dass die Zeit stehen und dass es für immer Sommer bleibt, auch wenn es so heiß ist, dass man nicht nach draußen gehen kann. Genau das wünschte sie sich aus tiefstem Herzen.

Großmutter ging viel langsamer als früher. Sie brauchte jetzt sehr lange, um einen Teller Bohnenbrei aus der Küche ins Wohnzimmer zu tragen. Der kleinen weißen Katze kam sie auch nicht mehr nach. Großmutter liebte es Mufengs Haare zu einem Pferdeschwanz zu binden, jetzt kam sie beim Kämmen immer ganz außer Atem. Mufeng merkte, dass Mama und Papa sich große Sorgen um Großmutter machten. Jedes Mal, wenn sie Großmutter zum Arzt fuhren, kamen sie mit zusammengezogenen Augenbrauen wieder heim.

Aber Großmutter lächelte strahlend über das ganze Gesicht: „Jetzt bin ich eben alt. Was ist denn so schlimm daran?“

Was war das, „alt“? Mufeng fuhr mit der Hand leicht über Großmutters Rücken, der in diesen Jahren immer krümmer und krümmer geworden war.

„Dieses spezielle Recht bekommt man erst, wenn man sehr viele Jahre lang gelebt hat“, meinte Großmutter lachend. „So kann man die schönen Blumen am Boden besser sehen.“

Mufeng betrachtete Großmutters Haar, das ihr bis über die Ohren reichte. Keine Ahnung, wann es völlig weiß geworden war.

„Das ist ein noch spezielleres Recht, man bekommt eine silberne Krone. Damit kann man in der Menschenmenge glitzern und funkeln.“ Großmutter steckte einen Schmetterling in Mufengs Haar.

Plötzlich sah Großmutter wieder sehr müde aus, sie drückte ihre Finger an die Schläfen. Dabei meinte sie zu Mufeng: „Man hat nicht mehr so viel Energie wie die jungen Leute, das ist auch ein spezielles Recht. Denn man hat einfach keine Zeit mehr für nutzlose Dinge.“

Wenn Mufeng sich zu lange bei Großmutter aufhielt, kam jetzt immer öfter Mama vorbei. Sie meinte, Großmutter sei müde. Einmal brachte Mama sie ins Elternschlafzimmer, wo es sich gerade die kleine weiße Katze gemütlich gemacht hatte. Dabei murmelte Mama: „Großmutter muss sich ausruhen.“ Dann wurden ihre Augen rot und sie flüsterte mit erstickter Stimme: „Großmutter hat nicht mehr so viel Zeit.“

Als von den Sommerferien nur noch zwei Wochen übrig waren, war die kleine weiße Katze auf einmal verschwunden. Mufeng war noch im Bett, da hörte sie eines Tages in aller Frühe, wie Mama und Papa rein und raus liefen. Dabei sprachen sie leise darüber, dass Katzen verschwinden, bevor sie sterben, um sich ein Versteck zu suchen. Immerhin war die kleine weiße Katze schon über zehn Jahre alt.

Mufeng verstand nicht. Auch der Nachbarsjunge war schon über zehn, aber er sah keineswegs alt oder tot aus. Von draußen drangen laute Rufe herein, Großmutter war auf der Suche nach der kleinen weißen Katze im Garten hingefallen. Mufeng kletterte aufs Fensterbrett, um nachzuschauen, was los war. Als sie nichts sehen konnte, sprang sie aus dem Bett und lief barfuß im Schlafanzug hinaus. An der Haustür wurde sie von Mama aufgehalten.
Mama lächelte Mufeng mit geröteten Augen zu: „Ich habe eine Idee. Was hältst du davon ein paar Tage bei Onkel zu verbringen? Jetzt hast du ja noch Ferien.“

Schon wenig später war Onkel da und packte Mufeng in sein Auto. Dann hievte er noch den riesigen Koffer hinein, den Mama für sie eingepackt hatte. Schon sausten sie durch die Straßen und erreichten sein kleines Haus außerhalb der Stadt. Onkel war ein Maler, und in seinem Haus duftete es nach Öl und nach Holz. Neugierig lugte Mufeng durch die halboffene Tür in sein Atelier.

„Ich habe gerade deinen Vater angerufen, er sagt, Großmutter geht es sehr gut. Aber sie muss noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben.“ Obwohl Onkel sehr zuversichtlich klang, hatte Mufeng ein seltsames Gefühl und brachte keinen Bissen hinunter. So zog sie sich in ihr kleines Zimmerchen im oberen Stock zurück und starrte zum Fenster hinaus. Dabei drückte sie ihre schweißnasse Nase an die kalte Fensterscheibe.

Seltsam, obwohl sie sich am anderen Ende der Stadt befand, waren die Wolken vor dem Fenster dieselben. In der Sommerhitze dehnten sie sich aus und wurden unglaublich groß. So lagen sie quer am Horizont, zunächst weiß und dann zunehmend röter und röter, wie ein Trupp von riesigen roten Elefanten, der nach und nach in die immer dunklere Nacht hinein schreitet.

Plötzlich klopfte es an der Tür, leicht und schnell, so als pochten da viele kleine Fäuste. Mufeng erschrak, wer außer Onkel wohnte denn sonst noch in diesem Haus? Zaghaft öffnete sie die Tür. Im nächsten Augenblick rollte ein ganzer Schwall von feuerroten Tomaten ins Zimmer, der Raum füllte sich mit ihrem Duft. Das waren also die Tomaten gewesen!

„Wir haben keine Zeit mehr.“

„Wir haben keine Zeit mehr!“

So schrien sie und wirbelten wild durcheinander. Mufeng stand sprachlos daneben und starrte sie an.

Eine Tomate, die rundeste von allen, rollte sich in unglaublichem Tempo auf Mufengs Fußrücken. Unter heftigem Schnaufen meinte sie: „Bitte hilf uns! Schnell! Wir haben keine Zeit mehr!“

Mufeng fragte sie: „Wie kann ich euch helfen?“

„Geh zum Kühlschrank und iss uns auf, oder nimm uns mit.“

Kühlschrank? War das vielleicht ein Traum?

„Wenn ich sie nicht aufesse, dann kommen sie vielleicht wieder in meine Träume“, überlegte Mufeng. Also machte sie sich auf den Weg Richtung Küche.
Sie öffnete den Kühlschrank und stellte fest, dass sich dort in der Tat reife Tomaten türmten. Mufeng nahm sie heraus und legte sie auf den Küchentisch.

Jetzt sahen sie genauso schüchtern aus wie die Tomaten im Supermarkt, die nicht sprechen konnten. Mufeng griff nach einer Tomate und biss hinein, sogleich spürte sie ihren Geschmack auf den Lippen. Diese Tomaten hatten in der Tat genau die richtige Reife, sie schmeckten weich und ein bisschen sauer, und zugleich klebrig süß.

Mufeng aß und aß, aber es waren zu viele Tomaten. So langsam befürchtete sie gleich zu zerplatzen.

Als die alte Uhr im Wohnzimmer zwölf Mal schlug, kam auf einmal Bewegung in die Tomaten auf dem Tisch. Mufeng sah, wie eine nach der anderen einen Sprung bekam. Fröhlich riefen sie: „Jetzt haben wir endlich einen eigenen Mund! Dann brauchen wir nicht mehr in die Träume anderer Leute hinein zu laufen, wenn wir etwas sagen wollen.“

Mit ihrem gerade erst gewachsenen Mund flehten sie Mufeng an: „Bitte nimm uns mit, wir können hier nicht länger bleiben!“

Mufeng fragte: „Wohin wollt ihr denn?“

„Ans Ende des Sommers“, rief die Tomate mit dem größten Sprung. „Das befindet sich hinter der Nacht da draußen.“ Und dann lächelte sie das schönste Lächeln, das Mufeng in ihrem ganzen Leben gesehen hatte. Es hörte sich an, als wäre das ein Ort, der zehn Millionen Mal besser war als das Gemüsefach im Kühlschrank.
Mufeng überkam die Angst. Sie blickte in die undurchdringliche Dunkelheit vor dem Fenster hinaus. Sie kannte die Straßen in dieser Gegend kaum. Zudem kam gerade Wind auf, der die Schatten der Bäume über die Gitter vor dem Fenster tanzen ließ. Auf einmal tat es einen lauten Knall und die Haustür flog auf. Der Wind blies in die Küche und wirbelte einmal über den Tisch und den Geschirrschrank, sodass die Teller und Essstäbchen laut klirrten. Die Tomaten auf dem Tisch drängten sich auf einem Haufen zusammen. Draußen prasselte schon laut der Regen.

Plötzlich bemerkte Mufeng eine kleine weiße Gestalt, die in der offenen Haustür vor der Regenwand stand. Es war die kleine weiße Katze, die sie den ganzen Tag lang gesucht hatten. „Weißchen!“ Mufeng lief auf die Katze zu und wollte sie hochheben.

Wer hätte gedacht, dass sich die kleine weiße Katze hochnäsig sträubte: „Es ist dir nicht erlaubt mich so zu nennen. Mein richtiger Name ist Kater Weiß. Deswegen wünsche ich, dass du mich Herr Kater nennst.“

Mufeng schaute den Kater erstaunt von oben bis unten an, er sah heute wirklich anders aus als sonst. Er trug einen weißen Frack und hatte eine feuerrote Schleife umgebunden. Auf dem Kopf saß ein weißer Zylinder, und in einer Vorderpfote hielt er einen weißen Spazierstock. Mit der anderen Vorderpfote lüpfte er den Hut zum Gruß, dann schritt er majestätisch in die Küche und wetterte zu den Tomaten auf dem Tisch: „Hatten wir nicht ausgemacht, dass ich euch den Weg dorthin zeige? Warum fragt ihr dann sie?“

Die fröhliche Tomate meinte sogleich erklärend: „Herr Kater, natürlich haben wir auf dich gewartet. Aber schau doch, wie rund wir alle sind. Wenn dir niemand dabei hilft uns zu bändigen, dann wirst du einige von uns auf Halbweg verlieren.“

„Und wer sollte dabei bitteschön helfen?“ Herr Kater schwieg einen Augenblick. „Ihr wisst doch ganz genau, dass kein Mensch an diesen Ort gehen darf. Ihre Großmutter hat eine Eintrittskarte erhalten, aber sie doch nicht.“

Als Mufeng hörte, dass Großmutter auch an jenem Ort war, horchte sie auf. „Ich bin nicht irgendjemand, und ich helfe wirklich sehr gerne! Bitte bitte, lieber Herr Kater, ich muss Großmutter sehen. Lass mich doch bitte mitkommen!“

Mit ihren großen Mündern unterstützten die Tomaten Mufeng lautstark: „Herr Kater, eine Persönlichkeit wie du könnte doch eine Dienerin dabei haben.“
Was? Eine Dienerin? Er ist doch mein Haustier, und ich bin seine Besitzerin! Mufeng sträubte sich zunächst. Aber dann sah sie, wie Herr Kater den Spazierstock in seinen Händen drehte und sie dabei vielsagend ansah, so als wollte er sie daran erinnern, dass sie es war, die ihm Tag für Tag sein Futter hinstellte und sein Fell bürstete. In der Tat, es war völlig klar, wer hier der Herr war und wer der Diener.

Gut, dachte Mufeng, Hauptsache ich kann Großmutter sehen. Was macht es da schon aus, dass ich seine Dienerin sein muss.

Als Dienerin machte sie sich sofort daran genügend Regenschirme aufzutreiben. Es regnete in Strömen, da braucht jede Tomate ihren eigenen Schirm. Aber Herr Kater bestand darauf, dass es keine Schirme bräuchte. Dann machte er einen Katzenbuckel, hob den Kopf, klopfte mit dem Stock auf den Boden und wies alle an zusammenzustehen. Er hielt er den Stock in den Regen hinaus. Auf einmal öffnete sich mitten im Regen ein kleiner Gang mit silbernen Vorhängen, wie ein Durchgang, der hinter eine Bühne führt.

Würdevoll trat Herr Kater in den Gang, und die Tomaten folgten ihm kullernd eine nach der anderen. Mufeng war die letzte in der Reihe. Als sie sich noch einmal umsah, waren die Regenvorhänge verschwunden, ebenso wie die große Stadt. Mufeng spürte Sonnenlicht auf ihrer Haut, die Luft um sie herum war trocken und kühl. Licht und Schatten wogten auf und ab wie Musiknoten, und unter ihren Füßen spürte sie weiches Gras. Es duftete nach Tau.

Sie befanden sich an einem frühen Morgen ohne genaues Datum. Um sie herum standen keine Hochhäuser, sondern nur schneebedeckte Berge mit dichten grünen Wäldern. Darüber strahlte ein blauer Himmel.

Am Fuß der schneebedeckten Berge lag ein ruhiger See, der so klar war, dass man durch das Wasser hindurchsehen konnte. An seinem Ufer wuchsen frische Gräser und bunte Blumen. Sie liefen am Seeufer entlang, der Kater schritt eilig an der Spitze des Zuges, die Tomaten rollten in einer Reihe hinterher.

„Beeilt euch ein bisschen!“

„Sonst kommen wir noch zu spät zur Feier!“

Aber der Trupp kam alles andere als schnell vorwärts. Im Gegenteil, es war genauso, wie es die Tomate vorhergesagt hatte. Sie rollten ständig durcheinander, manche auf die linke, die anderen auf die rechte Seite. Mufeng, die als letzte ging, hatte alle Hände damit zu tun die Tomaten, die vom Weg abgekommen waren, wieder zurückzurollen. So kam es, dass sie immer wieder von anderen Trupps überholt wurden.

Der Trupp der Sternjasmine bestand aus vielen kleine Grüppchen. Alle trugen grüne Röcke und hielten weiße Windräder in die Luft. So glitten sie wie auf Flügeln im Wind dahin.

Dann kam der Trupp der Hortensien, die auf einem grünen Wagen saßen und während der Fahrt wie ein Team von Cheerleadern tanzten und winkten. Die Musik, zu der sie sich bewegten, stammte vom Trupp der Klettertrompeten und Taglilien. Diese hielten ihre orangen Trompeten hoch in die Luft und bliesen gerade einen flotten Marsch.

Majestätisch nahte der Trupp der Chrysanthemen. Auf hohen Stängeln reckten sie ihre Blüten in die Luft. Sie waren mit lila und roten Röcken bekleidet und trugen goldene Kronen auf den Köpfen. In höfisch distanzierter Eleganz nahmen sie den Gruß von Seiten der Tomaten nur sehr von oben herab wahr.

Auch die Kirschen waren dabei. Sie drängten sich schnell nach vorne, dabei hüpften sie wild und prallten aufeinander. Schon bald hatten sie den Trupp der Tomaten auseinander gesprengt. Nach ihnen folgten Erdbeeren, Pflaumen und Litschi. Den Pfirsichen erging es ähnlich wie den Tomaten, sie rollten langsam daher und verliefen sich ständig. Schon bald hatten sie sich völlig mit den Tomaten vermischt. Unglücklicherweise hatten sie es noch nicht geschafft sich wieder in Formation zu bringen, als sich mit Getöse ein weiterer Trupp ankündigte.

Das waren die Wassermelonen. Sie rollten daher wie Kriegsfahrzeuge, die alles niederzuwalzen drohten, was ihnen in den Weg kam. Zu Tode erschrocken flüchteten sich die Pfirsiche und Tomaten zur Seite. Herr Kater stellte sich schützend vor sie hin und nahm den Spazierstock quer in seine Vorderpfoten: „Ruhe bewahren, Ruhe bewahren!“

In diesem Augenblick erblickte Mufeng abermals die feuerroten Elefanten. Es war das erste Mal, dass sie sie aus nächster Nähe sah. Sie gingen am Ende des Zuges und kamen allmählich näher. Sie waren so groß, dass Mufeng nur ihre Beine und Bäuche sehen konnte, als sie näher kamen. Ihr Trupp sah unendlich lange aus, so als würde er niemals aufhören.

Auf ihren Rücken trugen sie Menschen und Tiere, die gemeinsam ein altes hallendes Lied sangen. Die Melodie erfüllte die Luft, als würden zahllose kleine Elfen mit den Flügeln schlagen. Mufeng konnte nicht genau verstehen, worum es in dem Lied ging. Sie schaute nur gebannt nach vorne, wo Großmutter auf einem kleinen Elefanten daher geritten kam. Ihr weißes Haar glitzerte im Sonnenlicht wie eine Silberkrone.

„Großmutter, Großmutter!“ Mufeng stürmte auf Großmutter zu.

Großmutter war auf einmal wieder jung und beweglich. Sie rutschte über den Rüssel des kleinen Elefanten hinunter und breitete ihre Arme aus, um sie um Mufeng zu schlagen. Mufeng stürzte sich in die Umarmung, wie warm und schön war das doch! Die Kleider hatten Großmutters vertrauten Geruch. Mufeng war so glücklich, dass ihr die Tränen kamen.

Der kleine Elefant hielt inne und lächelte und schloss die beiden mit seinem Rüssel in einer weiteren Umarmung ein. Seine Haut war weich und warm, wie die Schale von gebratenen Süßkartoffeln. Mufeng sah, wie der kleine Elefant eine Freudenträne vergoss, und als sie auf den Boden fiel, wuchs daraus eine schöne Blume.

Sogleich kamen die Tomaten herbei und freuten sich mit. Herr Kater lüpfte seinen Hut und küsste Großmutter nach europäischer Art auf beide Wangen.

Mufeng griff fest nach Großmutters Hand. Sie hatte sich solche Sorgen um sie gemacht! Jetzt war sie entschlossen sie nie wieder los zu lassen. Hand in Hand folgten Mufeng und Großmutter dem Zug. Vorne wurde es langsamer. Umrahmt von Seen und Wäldern öffnete sich auf beiden Seiten des Weges ein fröhlicher Jahrmarkt. Früchte und Blumen mit bunten Schürzen und Kopftüchern verkauften alle möglichen kleinen Dinge.

Herr Kater wollte eine Riechflasche aus Geißblatt haben. Mufeng sah, wie er der Verkäuferin eine Pfote hinstreckte. Diese scannte die Pfote, es piepste, dann meinte sie: „Restbetrag: eine Stunde und 19 Minuten.“ Daraufhin reichte die Verkäuferin Herrn Kater die Riechflasche und meinte: „Ich wünsche dir viel Freude damit.“

Die Riechflasche war gefüllt mit getrocknetem Geißblatt, das einen betörenden Geruch verströmte.

Als Mufeng sah, dass es Windräder aus Jasmin zu kaufen gab, blieb sie sofort stehen. Großmutter konnte ihre Gedanken erraten und streckte lächelnd ihre Hand aus.

„29 Minuten.“ Daraufhin meinte die Verkäuferin: „Das ist die gesamte Zeit, die Ihnen geblieben ist. Dafür kann man nur noch ein kleines Windrad haben.“ Großmutter nickte, nahm das kleine Windrad entgegen und reichte es Mufeng.
Mufeng war ein wenig traurig. Auf dem Jahrmarkt gab es noch so viele schöne Dinge, sie wollte auch etwas für Großmutter kaufen. Das Gelee aus Vogelbeeren zum Beispiel, das in kleinen herzförmigen Behältern angeboten wurde. Mufeng streckte ihre Hand aus, die Verkäuferin scannte sie. Da begann ein Alarm zu schrillen.

„Ihre Zeit gehört nicht hierher“, meinte die Verkäuferin erstaunt. „Ihre Zeit gehört nicht hierher.“

„Sie gehört nicht hierher!“

Die Blumen, Früchte und Tiere schrien alle erschrocken auf, einer lauter als der andere. Das Chaos führte dazu, dass die Elefanten in ihrem Schritt innehielten. Der größte Elefant entdeckte Mufeng in der Menge und ging langsam auf sie zu: „Wer bist du? Wie kommst du hierher?“

Die Stimme des Elefanten grollte wie der Donner im Sommer.

Herr Kater sprang mutig vor und stellte sich vor Mufeng: „Ich habe sie hierher gebracht, sie ist meine … Dienerin.“

Mufeng wollte in keinem Fall, dass der Herr Kater Schwierigkeiten bekäme, und sagte: „Es ist meine eigene Schuld. Ich habe ihn darum gebeten mich mitzunehmen! Ich wollte nur Großmutter sehen.“

Der Elefant beugte seinen riesigen Körper und schwenkte seinen Kopf über die Menge, um Mufeng zu finden. Schließlich konnte Mufeng ihr eigenes Spiegelbild in den Augen des Elefanten erblicken. Nach und nach verschwand daraus die Schärfe und die Augen füllten sich mit Wärme.

Mufeng fragte den Elefanten vorsichtig: „Könntest du mir nicht ein bisschen Zeit geben?“

„Wofür willst du die Zeit haben?“ Der Elefant blinzelte mit seinen großen Augen.
„Ich möchte ein Geschenk für Großmutter kaufen.“

Der Elefant richtete sich wieder auf und erklärte laut vor der versammelten Menge: „Sie ist ein Kind.“

„Sie ist ein Kind!“

„Himmel, sie ist ein Kind!“

Alle schrien wild durcheinander.

„Und deswegen“, meinte der Elefant, „hast du noch sehr viel Zeit, mehr Zeit als wir alle zusammen.“

Der große Elefant machte mit seinem Rüssel eine Bewegung in der Luft, wie ein Zauberer. Da erschien auf der Spitze des Rüssels eine goldene Kreditkarte, eine „Zeit-Kreditkarte“. Er reichte Mufeng die Kreditkarte und meinte ernst: „Bitte merk dir eines: Jede Minute, die du heute hier ausgibst, wird später von deiner Zeit abgezogen, sobald du erwachsen bist.“

Glücklich nahm Mufeng die golden schillernde Karte in Empfang und bedankte sich beim Elefanten.

Im nächsten Augenblick hatte sie schon zwei Portionen herzförmiges Vogelbeergelee gekauft, eines für Großmutter und eines für sich selbst. Es schmeckte süßsauer und glitzerte rot wie Rubin. Schon bald hatten sie es mit einem kleinen Löffel aufgegessen.

Der Jahrmarkt hatte noch so viele schöne Dinge zu bieten! Mufeng suchte für Großmutter einen Haarschmuck aus Jade aus, der ausgezeichnet zu ihrem weißen Haar passte. Dann kaufte sie noch eine kleine Laterne aus Lampionblumen, die hell leuchtete, wenn ein Glühwürmchen hinein flog. Außerdem musste sie noch die lila Tusche aus Himbeeren haben, Großmutter konnte wunderschöne Schriftzeichen malen. Am Ende erstand sie noch einen Kirschenlikör in einer kleinen Porzellanflasche, eingehüllt in dunkelrotes Geschenkpapier.

„Zu zahlender Betrag: Eine Stunde und 39 Minuten. Vielen Dank für Ihren Einkauf.“ „Ursprünglicher Preis: 59 Minuten, nun gibt es zehn Prozent Rabatt.“

„39 Minuten. Ohne Garantie.“

„Zwei Stunden und neun Minuten. Dazu gibt es gratis eine Geschenkbox.“

Großmutter sah ein bisschen traurig aus: „So viele Geschenke brauche ich doch gar nicht. Ich habe ja schon dich, das macht mich sehr glücklich.“

Mufeng meinte ernst: „Großmutter, wenn ich für dich eine Minute Freude kaufen kann, dann ist es völlig egal, wieviel die kostet.“

Großmutter lachte laut: „Ich freue mich schon sehr.“ Sie strich Mufeng über den Kopf: „Du musst noch erwachsen werden, deswegen darfst du nicht deine gesamte Zeit hier verbrauchen.“

Aber Mufeng hatte das Gefühl, dass die Zukunft völlig unbedeutend war angesichts dieses wunderbaren Moments.

Für Herrn Kater kaufte Mufeng ein Rückenkissen gefüllt mit Pfingstrosenblüten. Für einen reisenden Gentleman war das doch ein ausgesprochen nützliches Geschenk. Herr Kater war so gerührt, dass er anfing zu niesen.

Dann fiel Mufengs Blick auf einen Stand mit kleinen lila Klappschirmen aus Hibiskusblüten. Sie musste zwei davon haben, einen für sich und einen für Großmutter. So würden sie nicht nass werden, falls es regnete. Aber als sie mit ihrer Kreditkarte bezahlen wollte, hielt Großmutter sie zurück: „Du brauchst nicht zwei davon zu kaufen. An den Ort, wo ich hingehe, kannst du nicht mitkommen.“

Mufeng wurde von einer plötzlichen Ahnung ergriffen. Sie merkte, wie der Zug immer schneller und schneller wurde. An beiden Seiten des Weges wurden schon die Stände weggeräumt. Im nächsten Augenblick waren die beiden Schirme in ihrer Hand zu zwei ganz normalen Hibiskusblüten geworden.
Der kleine Elefant, auf dem Großmutter gesessen hatte, näherte sich ihnen. Mit seinem Rüssel hob er Großmutter leicht auf seinen Rücken. Deswegen konnte Großmutter Mufengs Worte nicht mehr hören: „Warum darf ich nicht mitkommen, warum?“

Der Elefant blies Mufeng mit seinem Rüssel warme Luft in den Nacken: „Für alle Dinge gibt es die richtige Jahreszeit. Wir werden gemeinsam mit diesem Sommer aufbrechen, aber du wirst noch viele Sommer haben.“

Mufeng erinnerte sich, dass die Tomaten über einen Ort gesprochen hatten, der „Ende des Sommers“ heißt. In der Tat war der Sommer zu Ende. Mufeng fragte: „Aber nächstes Jahr im Sommer kommt ihr doch wieder zurück, nicht wahr?“
Der kleine Elefant meinte mit warmer Stimme: „Wir kommen nicht mehr zurück. Für dich wird es nächstes Jahr einen weiteren Sommer geben. Du wirst wieder die schönen Blumen und Früchte sehen, und du wirst wieder rote Elefanten am Himmel sehen. Aber das werden nicht wir sein.“

Erschrocken begriff Mufeng, dass das hieß, dass Großmutter ebenfalls nicht mehr zurück kommen würde.

Der kleine Elefant tröstete sie: „Aber du kannst dir auch vorstellen, dass die großen Elefanten am Himmel wir sind.“

Mufeng schüttelte energisch den Kopf. Niemals würde sie sich vorstellen, dass ein anderer Mensch Großmutter wäre, oder eine andere weiße Katze Herr Kater. Nie wieder würde es einen so wunderbaren Sommer geben! „Bitte bleibt stehen, bleibt stehen!“ Mufeng lief dem kleinen Elefanten hinterher und schimpfte verärgert: „Warum können wir nicht für immer in diesem Sommer bleiben?“
Der kleine Elefant schüttelte seine großen Ohren: „Wenn es so wäre, dann würden die Kinder auf der Welt nie erwachsen, und die Äpfel würden nicht rot, die Kastanien würden nie reifen, und du und deine Mitschüler, ihr würdet nie in die vierte Klasse kommen. Würde dir so eine Welt etwa gefallen?“

Noch während er sprach, trabten die Elefanten immer schneller. Mufeng lief ihnen keuchend hinterher. Aus vollem Halse schrie sie: „Stehenbleiben!“

Sie schrie so laut, dass sie selbst darüber erschrak. Da blieb der kleine Elefant wirklich stehen, und der große Elefant, der hinter ihm ging, prallte leicht auf ihn. Schließlich stand der ganze Zug still. Die Früchte kullerten nicht mehr weiter, die Blumen tanzten nicht mehr, die Tiere und Menschen hörten auf zu singen. Alle blieben stehen, in diesem Augenblick.

Mufeng hatte das Gefühl, dass ihr Kopf aufgehört hatte zu denken. Sie überlegte fieberhaft, was sie sagen wollte.

Der große Elefant kam durch die Menge hindurch auf sie zu und hielt seinen großen Rüssel wie ein wütendes Fragezeichen in die Luft.

Mufeng reckte ihre goldene Kreditkarte hoch in die Luft: „Ich habe noch viel Zeit, und ich möchte diese Zeit Großmutter und Herrn Kater schenken! Ich weiß, dass ich nicht nur an mich selbst denken darf. Ich darf mir nicht wünschen, dass die Kinder auf der Welt nicht erwachsen werden, nur um diesen Sommer aufzuhalten. Aber wäre es nicht möglich, dass ich nicht erwachsen werde? Dürfen Großmutter und Herr Kater dann bleiben?“

Der große Elefant blinzelte überrascht und gerührt zugleich.

Herr Kater klemmte sich den Spazierstock unter den Ellenbogen und griff nach dem Taschentuch in der Brusttasche seines weißen Fracks. Damit tupfte er sich versteckt die Augen.

Der große Elefant überlegte eine ganze Weile, dann antwortete er: „In dieser Sache gibt es keinen Präzedenzfall.“

Der kleine Elefant flüsterte Mufeng ins Ohr: „Dann kannst du ja mal einen Antrag stellen!“ „Glaubst du, sie werden ihn annehmen?“ fragte Mufeng aufgeregt.
„Das ist schon möglich“, meinte der große Elefant langsam.

Mufeng borgte sich von der Chrysantheme einen Stängel aus und von Herrn Kater sein Taschentuch. Dann tauchte sie den Chrysanthemenstängel in die Himbeertusche und schrieb ihren Antrag auf das Taschentuch. Der Elefant hob ihn mit seinem Rüssel hoch in die Luft. So war der Antrag also gestellt.

Der kleine Elefant streckte abermals seinen warmen Rüssel aus und umarmte Mufeng. Sie sah, wie er vor Rührung eine große Träne vergoss, und als die Träne auf den Boden fiel, verwandelte sie sich in einen Seufzer. Im nächsten Augenblick setzte sich der Zug wieder in Bewegung und alle Trupps darin schritten eilig dahin.

Die Tomaten rollten davon und schickten Mufeng ein letztes Lächeln.
Der Kater winkte ihr mit dem Pfingstrosen-Kissen zu, dabei funkelte sein Zylinder im Sonnenlicht.

Großmutter saß auf dem Rücken des kleinen Elefanten, die Tüten mit den Geschenken schaukelten im Rhythmus seiner Bewegungen hin und her. Aus immer größerer Entfernung lächelte sie Mufeng zu. Sie lächelte nur, ohne das kleinste bisschen Traurigkeit.

Dieses Mal schaffte es Mufeng nicht mehr, mit ihnen Schritt zu halten.

Schließlich begannen ihre Tränen zu fließen, so warm wie Großmutters Hände. Mufeng sah dem kleinen Elefanten nach, wie er Großmutter immer weiter fort trug, zu den rätselhaften schneebedeckten Bergen, irgendwohin an einen Ort, wo der weiße Schnee ins Dunkel der Nacht übergeht. Dabei zeichneten ihre Gestalten eine feuerrote Einbahnstraße über den Himmel.

Seltsam, eigentlich war der Sommer vorbei und es war schon merklich kühler. Aber auf einmal begann die goldene Kreditkarte in Mufengs Hand zu schmelzen. Sie klebte und duftete, denn sie war aus Zucker gemacht. Mufeng steckte ihre klebrigen Finger in den Mund. Aber noch bevor sie herausfinden konnte, wie sie schmeckten, erwachte sie aus ihrem Traum.

Die kleine Holztür ihres Zimmerchens war geschlossen. Die Lichter der Nacht schienen von draußen herein. Die Klimaanlage surrte. Mufeng stieß das Fenster auf. Draußen hatte es geregnet. Die feuchte Luft drang ins Schlafzimmer.

Der letzte Tag des Sommers war vorbei.

Einige Tage später entdeckte Mufeng ein Bild in Onkels Atelier. Darauf waren riesige rote Elefanten zu sehen, wie sie gerade über den Himmel hinter der großen Stadt wanderten. Die Farbe war noch nicht ganz trocken.

„Hast du sie auch gesehen?“ fragte Mufeng.

Onkel nahm den Pinsel von der Leinwand und hob den Kopf: „Du meinst die roten Sommerwolken?“

Nach dieser Frage sah Mufeng keine roten Elefanten mehr, sondern nur eine Reihe von großen roten Wolken, die sich am Himmel erhoben.

Als Mama Mufeng wieder abholte, steckte sie ihr eine weiße Blume ins Haar. Die Blume sah genauso aus wie das Windrad aus Sternjasmin, das Großmutter für sie gekauft hatte.

Dann begann wieder die Schule und Mufeng kam in die vierte Klasse, später in fünfte, und dann in die sechste. Irgendwann merkte sie, dass jener Antrag, den sie damals gestellt hatte, niemals angenommen worden war. Sie wuchs und wuchs. Hieß das etwa, dass Großmutter und Herr Kater nicht zurückkommen würden?

Vor dem Abitur erinnerte sich Mufeng daran, dass es da noch eine andere wichtige Sache gab. Sie hatte doch einmal eine „Zeit-Kreditkarte“ bekommen, und der große Elefant hatte zu ihr gesagt: „Merk dir, dass jede Minute, die du heute hier ausgibst, von deiner Zeit abgezogen wird, sobald du erwachsen bist.“ Falls ihre Zeit gerade während der Abschlussprüfung zu Ende wäre, dann wäre das schon ein unglaubliches Pech.

Zum Glück geschah nichts dergleichen.

Nach der Schule begann Mufeng zu arbeiten, aber sie war nie in Eile. Was sie zu erledigen hatte, tat sie in aller Ruhe. Denn sie wusste, egal wie sehr sie sich auch beeilen würde, es gab immer noch viel Zeit die „automatisch abgezogen“ wird.
Manchmal versank sie am Fotokopiergerät in ihre Gedanken, wenn das Licht unter der Scheibe hin und herwanderte. Dann erinnerte sie sich an die schneebedeckten Berge und an das alte hallende Lied. In jenen Augenblicken hatte sie das Gefühl, dass Großmutter ganz nahe bei ihr war. Im Handumdrehen war eine halbe Stunde vergangen. War es vielleicht genau das, was mit „automatisch abgezogen“ gemeint war?

Ihre Arbeitskollegen meinten es nur gut mit ihr, wenn sie ihr rieten, nicht so viel Zeit zu verplempern. Es war wohl das Beste, jede Minute in Geld oder Erfolg zu verwandeln. Sie hatten immer das Gefühl, dass Mufeng viel zu verschwenderisch umging mit ihrer Zeit. So konnte sie ewig einer Blume zulächeln oder stundenlang eine Wolke betrachten.

Dann dachte sie an jenes alte Lied und an die roten Elefanten, die nie mehr zurück kommen würden. Vielleicht genoss sie aber auch nur die Stille, oder den Duft der Früchte, oder die Blumen, die sich langsam öffneten, oder sie verlor sich in der einsamen Magie der Wolken … Sie sah den Dingen der Welt dabei zu, wie sie auf der Einbahnstraße der Elefanten dahin ziehen, und diesem Augenblick, der vergeht und nie zurück kommt.

An eine Szene am Ende jenes Sommers konnte sich Mufeng noch ganz klar erinnern. Soeben hatte ihr der große Elefant mit seinem Rüssel die goldene Kreditkarte überreicht. Voller Erwartung drehte Mufeng die Karte in ihren Händen. Dabei fiel ihr Blick auf einen kleingedruckten Satz auf der Rückseite:
„Es lohnt sich immer, Zeit für die Zeit selbst zu verbrauchen.“

Sun Wei (1973), während den Zeiten der Kulturrevolution in China geboren, war vor ihrer Profession als Schriftstellerin Journalistin, Dokumentarfilmerin und Geschäftsführerin eines Betriebs. Sie veröffentlichte bereits 23 Bücher, die mit vielen Preisen ausgezeichnet wurden. Ihr Roman „The Map of Time“ wurde 2017 in China ein Verkaufsschlager. Ihre Novellen „Farewell“, „Ignition“ und „Second Son“ wurden ins Englische, Französische, Spanische, Bulgarische übersetzt. Sun Wei sticht in die vielen psychologischen und sozialen Probleme der chinesischen Stadtbewohner. Ihre Arbeiten spiegeln Einsamkeit, Stolz und das Gefühl der Entfremdung wider.

Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan»

«Was haben wilde Erdbeeren, wilde Lilien und Sonnenblumen gemeinsam? Es sind Namen dreier Bewegungen Taiwans, die jedes Mal zu einem unblutigen, wenngleich spektakulären Machtwechsel führten. Wie zeigt sich nun der in der Vergangenheit erprobte Widerstand? Und wie sehen die Zeichen von Non-Konformismus im turbokapitalistischen Alltag der Inselrepublik aus?

Mit diesen Fragen im Koffer gehe ich in Taiwan auf Spurensuche und werde mein Gewölk aus Gedanken, Beschreibungen, Zitaten in Miniaturen verdichten, die ich per Postkarte ans literaturblatt.ch schicke – jeden Monat eine.

Alice Grünfelder»

Alice Grünfelder reist. Anders als die meisten Reisenden sonst nicht zur Zerstreuung, sondern zur Konzentration auf ganz bestimmte Themen, die in ihr Schreiben hineinfliessen. Weil ich von dieser Reise erfuhr, entstand die Idee, dass Alice Grünfelder ganz spezielle Kartengrüsse aus dem für die meisten fremden Land schicken könnte. Kartengrüsse, die über das Oberflächliche hinaus in die Tiefe blicken lassen sollen. So freue ich mich, dass die Schriftstellerin uns mitnimmt auf ihre Reise.

Alice Grünfelder, lebt in Zürich, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Von 2001–2010 eigene Literaturagentur für Literaturen aus Asien. Unterrichtet Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Sie leitet diverse Workshops rund ums Thema Schreiben und seit fünf Jahren den Kinderschreibworkshop „Wortschatz“ im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Als Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Chinesischen und Englischen publizierte sie Bücher über Asien, zuletzt «Sri Lanka. Geschichten und Berichte» (2014) und «Flügelschlag des Schmetterlings. Tibeter erzählen» (2009). (Unionsverlag) 2018 erschien ihr erster Roman «Die Wüstengängerin» (Verlag edition8).

Ivo Knill «Der Schneeleopard» aus dem ERNST-Magazin

Ivo Knill reist im Kopf durch den Himalaya.

Es ist vier Uhr nachmittags. In meinen Augen spüre ich den Schmerz des gleissenden Lichtes. Ich folge Schritt um Schritt dem Weg, den mein Wegführer vor mir geht. Ich richte meinen Blick auf den Boden, um sicheren Tritt zwischen den kantigen Steinen zu finden. Ich sehe die Grasbüschel, die karge Erde, die groben, mehr als faustgrossen Steine. Ich hebe den Blick. Ich sehe den Rucksack des Bergführers mit dem aufgeschnallten Zelt und der Isomatte. Mein Rücken lässt das Tragen nicht mehr zu, auch meine Kondition nicht. Hinter mir geht der junge Sherpa, der mein Gepäck trägt. Sooft ich mich umdrehe, lächelt er mir aufmunternd zu. Ich bewundere seine Stärke und sein freundliches Wesen. Heute ist ein schöner Tag. Kein Regen, offener Himmel, wenig Wind. Schwer steige ich zwischen den schwer bepackten jungen Männern bergan.
Wir suchen den Schneeleoparden.
Wir steigen die Flanke des Annapurnas hoch. Seine Gipfel sind Tausende von Metern über uns, ihre schneebedeckten Flanken fallen steil ab. Mehr als tausend Meter unter uns liegt das Tal.
Der Schneeleopard ist ein scheues Tier. Das helle Tageslicht meidet er. Seine Zeit ist die Dämmerung des Morgens und das Zwielicht des Abends. Mittags und nachts schläft er. Wir folgen seinem Rhythmus. Noch in den letzten Nachtstunden steigen wir vom Lager auf vier- und fünftausend Meter hoch. Mit der Morgendämmerung erreichen wir die Höhen, in denen das scheue Tier lebt. Eine Stunde haben wir zur Beobachtung. Wenn der helle Tag anbricht, marschieren wir weiter. Wir machen Pause, schlafen ein wenig und setzen unseren Marsch fort. Schritt für Schritt.
Viele sind auf dem Leopardentreck unterwegs. Wenige bekommen ihn zu Gesicht. Die andern Leopardensucher, die weniger Kundigen, die Lärmigen, die Bunten und Lauten, die Eiligen und Ungeduldigen treiben den Leoparden in die Höhe. Wie er fliehen wir ihrem Lärm und steigen in die kargen Höhen.
Der Mann, der vor mir geht, ist kein gewöhnlicher Sherpa. Er folgt nicht wie die Anderen blossen Gerüchten um mögliche Aufenthaltsorte des Leoparden. Er liest die Spuren im Schnee und in der weichen, vom Schmelzwasser aufgelösten Erde. Er findet Kot und Haare. Er deutet den Flug der Vögel. Nur weil ich mich lange im Land aufgehalten habe, konnte ich ihn engagieren. Trotzdem kann es sein, dass wir ohne Erfolg bleiben.
Ich atme langsam. Die Haut ist spröde und verschwollen. In der Nacht liege ich schlaflos. Der Puls beruhigt sich nie. Manchmal öffne ich das Zelt und blicke in den überwältigenden Sternenhimmel. Er lässt mich fühlen, wie klein und unbedeutend ich bin Die Tage und Nächte meines Lebens sind nichts in der Unendlichkeit der Zeit, die alles hervorgebracht hat – das All, die Galaxien, unser Sonnensystem, die Erde, auf der wir uns bewegen und die Berge, zwischen deren Gipfeln wir unterwegs sind. Schlaflos versenke ich mich in die Tiefen des Universums.
Jetzt setze ich Fuss um Fuss auf den steinigen, unsicheren Grund. Das einzige, was wirklich zählt, ist der Augenblick des Bewusstseins. Der Augenblick, in dem sich der Hauch des Lebens zeigt. Denn nichts anderes sind wir als ein kurzer Hauch. Nichts als diesen einzigen Augenblick haben wir der Unendlichkeit des Universums entgegenzusetzen. Denn sie kennt kein Jetzt, das sich vom Immer unterscheiden würde. Ich höre das Blut in meinen Ohren pulsieren. Der Augenblick. Leben ist jetzt. Ich stütze mich auf den Stock.
Der Himmel ist jetzt glasklar. Das Licht wird dünner, reiner, kostbarer. Im Tal sammeln sich die Schatten. Sie werden dichter, während sich die Gipfel in ein erst zartes und dann glühendes Rot kleiden. Das ist die Zeit. Der lodernde Untergang des Tages. Götterdämmerung. Ich vergewissere mich, dass die Kamera richtig eingestellt ist. Ich muss sie mit einem einzigen Handgriff nach oben ziehen können, im Hochziehen muss ich sie einschalten, den Deckel vom Objektiv nehmen und den Sucher ins Auge fassen. Es muss schnell gehen, denn der Schneeleopard ist scheu.
Nichts braucht der Leopard, um hier oben zu leben. Sein Fell schützt ihn vor dem gleissenden Licht der Sonne und der Kälte der Nacht. Wo wir uns schwerfällig bewegen und Berge von Material mit uns schleppen müssen, um nicht zu verhungern, zu erfrieren, zu verdursten und an Schmerzen zu leiden, bewegt sich die Katze der Wildnis frei, ohne Last, geschmeidig, und leicht. Nichts an ihr ist überflüssig. Alles an ihr ist Unbändigkeit, die sich scheu versteckt. In mir glüht das Verlangen, diesem einzigartigen Wesen zu begegnen.
Wir sind ihm nahe. Wir haben frischen Kot und frische Spuren gefunden. Hinter dem Busch könnte die Wildkatze sich verbergen. Sie könnte sich in eine Kuhle ducken. Es könnte sein, aber es ist nicht gewiss, dass wir heute den Schneeleoparden zu Gesicht bekommen.
Wenn ich ihn sehe, Auge in Auge: Das wird der Moment sein: Das Aufblitzen des Lebens im Moment. Nichts anderes. Das Jetzt des Lebens, frei, ungebunden, unzähmbar gegen ein Universum der Steine und eine Ewigkeit der Zeit.
Ich bin bereit. Der Sherpa macht ein Zeichen. Wir ducken uns.
Kein Geräusch! Keine Bewegung!
Jetzt.

«Nichts als einen Augenblick haben wir der Unendlichkeit des Universums entgegenzusetzen.»

«Leben ist immer jetzt.»

Ivo Knill ist 1964 als sechstes von sieben Kindern in Herisau geboren und aufgewachsen. Nach dem Studium in Germanistik und Geschichte arbeitet er als Lehrer an der Berufsmaturitätsschule der gibb in Bern. Er ist Vater von zwei Kindern. Er tritt mit Sprach- und Textperformances auf, schreibt literarische und journalistische Texte und sammelt auf Strassen und Plätzen Erzählungen vom Leben. Von 2005 bis 2016 ist er Chefredaktor der Männerzeitung. Seit 2017 schreibt er für das Nachfolgemagazin ERNST. 2017 eröffnet er das Schreibhaus Burgdorf und empfängt und begleitet dort Gäste mit unterschiedlichen Schreibvorhaben.

Das Schreibhaus Burgdorf: schreibhaus.blog

Das Burgdorfer Biografische Institut: erzaehlmal.ch

ERNST-Magazin