Viel Applaus für den Autor Jan-Philipp Sendker, Standing Ovation für die ehemalige Buchhändlerin Marianne Nagel

Ein ganz spezieller Abend im Kulturforum Amriswil! Leser und Leserinnen feiern den letzten Teil der China-Trilogie von Jan-Philipp Sendker, den Roman «Am anderen Ende der Nacht», die SRF Literaturredaktorin und Bücherfrau Luzia Stettler für einmal mit einer Laudatio den Autor der Trilogie und ein ganzer Saal Marianne Nagel, die in der Bahnhofstrasse im thurgauischen Amriswil über 25 Jahre lang eine sorgfältig bestückte Buchhandlung führte und diese zu einem Begegnungsort werden liess.

Luzia Stettler, schon vor vier Jahren bei der Buchpremière von Jan-Philipp Sendkers letzten Romans «Herzenstimmen» dabei, hielt ihre Lobrede nicht allein für den Autor. Genauso für alle Leserinnen und Leser, die schon aus Sendkers erstem Roman «Herzenhören» über die Jahre einen Bestseller machten, ein Buch, dass sich zum Kultbuch mauserte und im kommenden Jahr nach einem Drehbuch des Autors verfilmt werden soll. Auch eine Lobrede auf all die kleinen, tapfer unabhängig bleibenden Buchhandlungen, solche wie die ehemalige Buchhandlung Nagel in Amriswil, die gemessen an den 13000 EinwohnerInnen mit 2500 verkauften Exemplaren von «Herzenhören» durch Überzeugung und Engagement Unglaubliches leisteten und leisten. Autoren wie Jan-Philipp Sendker wissen, was sie dieser Leidenschaft zu verdanken haben. Deshalb die Buchpremière seines neuen Romans in Amriswil, nicht in Hamburg, nicht in Berlin, nicht in München.
Was macht den Erfolg der Bücher von Jan-Philipp Sendker aus. Er schreibt authentisch, liebt seine Figuren und die Schauplätze. Man spürt, wovon er erzählt, nachdem er mit seinen intensiven Recherchen den Menschen in den entsprechenden Ländern zuhörte. Jan-Philipp Sendker schreibt ohne Kitsch über die grossen Themen des Lebens und schafft es, dass seine Bücher sowohl in China, Burma und in den USA gelesen werden. Er vertraut den Stoffen, ohne den Leserinnen und Lesern gefallen zu wollen. Sendker ist ehrlich, biedert sich nicht an, zeigt Mut, Themen aufzugreifen, in denen Zündstoff liegt, die verschlossene Länder für Leserinnen und Leser öffnen.

Dann erzählte Jan-Philipp Sendker. Er erzählte wirklich, fesselte einen ganzen Saal, nahm fast 300 Gäste mit auf eine Reise durch Buchhandlungen, fremde Gesellschaften und spannende Geschichten.
In den USA gibt es noch 2000 unabhängige Buchläden. Bei beinahe 350 Millionen Einwohnern eine unglaubliche Zahl. Dass dies auch für Autorinnen und Autoren zu einem Problem wird, nebst Kleinverlagen, ungewöhnlichen Buchprojekten, weiss Sendker aus eigener Erfahrung. Buchhandlungen, die es lieben, unabhängig zu bleiben, scheinen nicht nur in den Staaten auszusterben, diese kleinen subversiven Orte lebendiger Buchkultur, die sich den Kunden zum König machen. Läden wie jenen der Buchhändlerin Marianne Nagel, die am Schluss Sympathien und Dankbarkeit von einem voll besetzten Saal entgegennehmen durfte. Danke Marianne!

Am anderen Ende der Nacht Die China-Trilogie 3 von Jan-Philipp Sendker
Am anderen Ende der Nacht Die China-Trilogie 3 von Jan-Philipp Sendker

Zum Buch: Auf einer Chinareise erleben Paul und Christine einen Albtraum: Ihr vierjähriger Sohn wird entführt. Zwar gelangt David durch glückliche Umstände wieder zu ihnen, doch die Entführer geben nicht auf, sie wollen ihn zurück. Der einzig sichere Ort für die Familie ist die amerikanische Botschaft in Peking. Aber Bahnhöfe, Straßen und Flughäfen werden überwacht. Ohne Hilfe haben sie keine Chance, dorthin zu gelangen. Wer ist bereit, ihnen Unterschlupf zu gewähren und dabei sein Leben aufs Spiel zu setzen? Wem können sie trauen?
«Am anderen Ende der Nacht» erzählt von Menschen, die nicht mehr viel zu verlieren haben und sich gerade deshalb ihre Menschlichkeit bewahren. Ein Buch über jenen dunklen Teil der chinesischen Gesellschaft ohne ethisches, moralisches Fundament. Über Menschenhandel, ein Thema, das allerdings nicht nur in China grassiert.

24157_xlJan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asien-Korrespondent des Stern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche Porträtsammlung «Risse in der Großen Mauer». Nach dem Roman-Bestseller «Das Herzenhören» (2002) folgten «Das Flüstern der Schatten» (2007), «Drachenspiele» (2009) und «Herzenstimmen» (2012). Seine Romane sind in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 3 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.

Wie der amerikanische Traum eines deutschen Autors wahr wurde – SRF

Bilder dieses Abends folgen!

(Titelzeichnung Lea Frei)

Alex Capus «Das Leben ist gut», Hanser

Alex Capus ist nicht nur Schriftsteller. Er besitzt und führt eine Bar, unweit der Aare, einen Katzensprung vom Bahnhof Olten weg. Die Galicia Bar. Eine Bar, die einst von galizischen Fabrikarbeitern gegründet wurde, um gemeinsam dem Heimweh zu frönen, und dieses mit dem Staub der Büez (Arbeit) runterzuspülen. Und weil Pedro Lenz, ein guter Gast in dieser Bar, einmal meinte: „Eine Bar? Das ist so etwas wie Facebook, einfach ohne Internet.“ wurde aus den Geschichten aus dieser Bar ein Roman.

Es braucht keinen Mord, nicht einmal einen Einschlag welcher Art auch immer, um einen Roman zu schreiben. Aber muss man ein Buch über Alltägliches lesen, «wenn der eine oder andere genug mit dem eigenen Alltag hadert»?
Für einmal schreibt und erzählt Capus «bloss» Geschichten, kein grosser Plot zieht durch den neuen Roman. Was mit «Mein Nachbar Urs» und «Der König von Olten» über einen schwarzweissen, Oltner Kater namens «Toulouse» seinen Anfang nahm, spinnt Capus weiter. Er setzt dem Alltag und all den kleinen und grossen Geschichten, die sonst versteckt und verborgen bleiben, ein Denkmal. Capus erzählt von Max, der seit 25 Jahren Ehe erstmals für ein paar Tage allein im Bett schläft. Tina, seine Frau, fährt beruflich weg und lässt ihn mit den drei Jungs allein in der kleinen Stadt, in der er sich wohl fühlt wie «ein Eber im Schweinekoben». Morgens, nachdem alle Jungs unterwegs sind, macht sich Max mit dem Rad auf zu seiner Bar, der Sevilla Capus Das Leben ist gut Final_MR3.inddBar, nicht weit vom Bahnof, eingeklemmt zwischen kubische Glaspaläste der Neuzeit. Eigentlich ist Max Schriftsteller, aber so gern er manchmal schreibt, so gerne tut er das, was im alten Gemäuer seiner Bar an Arbeit anfällt, sei es auch nur der Gang mit zum Altglas auf dem Handwagen zur Sammelstelle. Seine Bar ist der Ort seiner Geschichten, wie jene, die der Bar den Namen gibt oder jene, die erzählt, warum an der einen Wand ein Stierkopf hängt, der einmal in der Not gar ersetzt werden musste. Geschichten von Menschen, die Stammkunden in der Sevilla Bar sind und über deren Leben Max als Barbesitzer und -betreiber unweigerlich vielmehr erfährt, als sässe er zuhause allein hinter seinem Schreibtisch: Von Ismail, der nie zur Ruhe kommt, von Miguel Fernando Morales Delavilla Miguelanes, dessen Frau Max einen Korinthenkacker und Hochtonfurzer schimpft. Oder von seinem ehemaligen Lehrer Toni Kuster und seinem Cowboy-Freund aus den Everglades.

Bei einer Lesung im Gewölbekeller der Buchhandlung zur Rose in St. Gallen meinte Alex Capus, viele Autoren würden sich beim Schreiben eines neuen Buches vornehmen, nun endlich ein ganz anderes Buch zu schreiben, um dann, während des Schreibens festzustellen, dass es doch wieder ein ähnliches werden würde. Aber Capus hat seinen Vorsatz verschriftlicht. «Das Leben ist gut» ist ein Buch über einen Mann, der mit 55 Bilanz zieht, was viele tun, wenn sie soweit sind. Eine Geschichte über «fast nicht», genau das, was er beabsichtigte. Und er müsse festhalten, dass Ich-Erzähler und Autor nicht zwingend deckungsgleich sein müssen, selbst dann nicht, wenn fast alles dafür spreche.

Alex Capus erzählt, schwadroniert, driftet ab, zeigt sich selbstgefällig, selbstzufrieden, ohne dick aufzutragen. Erfrischend dabei ist, dass er durchaus mit spitzer Zunge auf die Welt schaut, um festzustellen, dass sein Leben «dereinst auf dem Sterbebett im Zeitraffer abgespielt, ein Standbild sein wird». Capus, ein Streiter für das Wahrhafte, ein Leben ohne künstlich erzeugten Kick, ein Loblied auf die Kneipe, wo Langweiler und Wahnsinnige eine Heimat finden. Ein Buch fürs Nachttischchen.

Capus_hf_i[1]Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. 1994 veröffentlichte er seinen ersten Erzählungsband «Diese verfluchte Schwerkraft», dem seitdem weitere Romane, Bücher mit Kurzgeschichten und Reportagen folgten. Alex Capus verbindet sorgfältig recherchierte Fakten mit fiktiven Erzählebenen, in denen er die persönlichen Schicksale seiner Protagonisten einfühlsam beschreibt. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane «Léon und Louise» (2011) sowie der Western «Skidoo» (2012).

Webseite des Autors

(Bild: Sandra Kottonau, Güttingen, CH)

Bodo Kirchhoff «Widerfahrnis», Frankfurter Verlagsanstalt

«Erinnerungen sollen wie Abschnitte in einem Handbuch sein, nur dazu dienen, in bestimmen Situationen die richtigen Worte in der richtigen Reihenfolge zu sagen, aber es sind Einflüsterungen, die einen betören oder mit Schwert erfüllen oder beides.»

Reither ist 64, hat seinen Verlag samt Buchhandlung liquidiert und seiner Wohnung mitten in Frankfurt den Rücken gekehrt. Er versucht Ruhe in sein aufgewühltes Leben zu bringen, nach der «Scheidung von seiner Lebensaufgabe», an einem stillen Ort im April mit Sicht auf den letzten Schnee. «Er hatte als Einziger dem Umstand ins Gesicht gesehen, dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab.» Bis es an der Tür zu seiner neuen Wohnung klingelt und Reither mit dem Drücken der Klinke weiss, dass danach alles in ein anderes Licht getaucht sein wird. Sie heisst Leonie Palm, die vor seiner Tür steht und genau wie er den Kampf aufgegeben hat, sie mit Hüten, er mit Büchern. Mit der Frage «Was kann ich für sie tun?» beginnt das «Widerfahrnis», ein eigenartiges Roadmovie, denn sie besteigen das eingeschneite Auto der Frau, um gemeinsam in den Morgen zu fahren, aufzubrechen und bleiben sitzen in dem mobilen Arrangement, das einem ungewollt zu Nähe zwingt. Und weil die Zeit lange wird und die beiden irgendwann längst über den Morgen hinausgefahren sind, beginnen beide zu fragen und zu erzählen, nicht zuletzt darum, weil beide alleine geblieben sind, nicht nur an Menschen, sondern auch in der Welt. Reither wird in ungewohnter Heftigkeit mit seiner und der Vergangenheit seiner Begleiterin konfrontiert, erst recht, als sich ihnen nach einer turbulenten Fahrt bis nach Sizilien ein Mädchen in einem roten Fetzenkleid anschliesst. Ein Mädchen, das nicht spricht, keinen Namen nennt, etwas will, was sich nur erahnen lässt und zum Katalysator wird, bis die zaghaft aufgeweichte Situation zu eskalieren beginnt.
Cover-184x300Bodo Kirchhoff schreibt frei aller Sentimentalität über das Zusammenkommen zweier in die Jahre Gekommener, über das Hereinbrechen von Gegenwart und Vergangenheit, über die tiefen Schnitte ins Leben, die wohl vernarben aber nie verheilen, über zwei, «die Pleite gemacht haben, eben nicht nur mit Büchern und Hüten». Bodo Kirchhoff tut dies so kunstvoll, dass es mich als Leser zuweilen überrascht, mit welcher Leichtigkeit er schwierige, nicht zu beantwortende Fragen des Lebens in den Text verwebt. Er erzählt, als wäre die Novelle die Analyse des Geschriebenen selbst und macht den Text noch um eine Facette reicher. Eine Novelle, der alles birgt und doch nicht überbordet; von der zaghaften Liebesgeschichte bis zur Begegnung mit dem Flüchtlingselend in Sizilien. Reither wird gerettet, gerettet nicht durch Liebe, nicht durch den Aufbruch, sondern vom Faden eines afrikanischen Fischers.
Bodo Kirchhoff gelingt, was vielen misslingt. Er dringt nicht ein, weder in Personen, Geschichten oder Wahrnehmungen. Bodo Kirchhoffs Schreiben erzeugt Tiefe durch Präzision und Nähe. Nichts wirkt konstruiert und zurechtgebogen. Aber nach der Lektüre bin ich reicher!

JPEG_1394_140528Geboren 1948 in Hamburg, beschult in einem christlichen Internat am Bodensee, Ausbilder beim Militär und Eisverkäufer in Amerika. Ab 1971 studierte er Heilpädagogik in Frankfurt am Main. 1979 erschien seine erste Veröffentlichung im Suhrkamp Verlag. Viele seiner zahlreichen Romane beschäftigen sich mit der Organisation von Intimität, etwa der Freundschaftsroman «Eros und Asche» oder die Paar- und Liebesromane «Wo das Meer beginnt» und zuletzt sein großartiges Meisterwerk «Die Liebe in groben Zügen». Ein Roman unter anderem über «die unstillbare Sehnsucht nach Liebe: die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam», den ein Kritiker als ein Liebesbrevier für Fortgeschrittene bezeichnete. Im Herbst 2014 erschien sein Roman «Verlangen und Melancholie» und wurde von der Kritik einhellig als großes Werk gefeiert.

«Geschriebenes ist die einzige Wahrheit, die sich korrigieren lässt.»

Mit «Widerfahrnis» gewinnt Bodo Kirchhoff den Deutschen Buchpreis 2016. Ich gratuliere!

Webseite des Autors

(Titelbild: Sandra Kottonau)

David Mitchell «Knochenuhren», Rowohlt

Was macht den Hype um das neue Buch von David Mitchell aus, den Autor, der mit der Verfilmung seines Romans «Wolkenatlas» viele neue Leserinnen und Leser neugierig machte? Die unglaublichen Verkaufszahlen? Die Tatsache, dass sowohl gestandene Kritiker wie der Literaturredaktor des Tagesanzeigers Martin Ebel oder der Mitveranstalter des Kaufleuten sich zu Lobeshymnen und Verzückungsäusserungen hinreissen lassen? Die perfekte Mischung aus Thriller, Sience fiction, Fantasy und Dystopie? Oder ist es gar der Mensch, David Mitchell, der so fern allen Allüren und so nah allen Fans scheint?

cover-david-mitchellDavid Mitchells Roman «Knochenuhren» ist eine Reise durch die Zeit, von 1984 bis 2043. Die Geschichte um Menschen, die sich ausserhalb der endlichen Zeit bewegen, die auf ganz verschiedene Art nicht unsterblich, sich selbst aber eine Tür über den Tod hinaus öffnen können. Mitchell beginnt die Geschichte in der nahen Vergangenheit, hinein in eine Zeit des Umbruchs bis in eine nicht allzu ferne Zukunft, wo das übrig gebliebene Öl nur noch einer kleinen Bevölkerungsgruppe zugänglich ist und von Menschen gemachte Katastrophen die Welt in die Anarchie reissen. Ein Roman um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, der ausserhalb der menschlichen Zeit ausgetragen wird.
1984, Holly Sykes, die fünfzehnjährig verraten von ihrer ersten grossen Liebe und der mütterlichen Umklammerung von zuhause abhaut, hört manchmal Stimmen, Stimmen, die sie nicht einzuordnen weiss. Und als dann auch noch ihr kleiner Bruder Jacko verschwindet, ein kleiner Junge, der sich nach einer schweren Krankheit so ganz anders als seine Kameraden entwickelt, gräbt sich Kummer und Schuld tief in die junge Seele Holly Sykes ein. Zudem wird sie auf ihrem vermeindlichen Trip in die Freiheit Zeuge eines Doppelmordes, der von einer fremden Macht aber gleich wieder aus ihrer Erinnerung gelöscht wird. Sie selbst aber bleibt für ein ganzes Leben im Fadenkreuz jener Macht. Erst im letzten Kapitel gehört die Erzählstimme wieder Holly Sykes, die weit über 70, irgendwo an der Küste Irlands, weit weg von all jenen Errungenschaften der Gegenwart, vergessen in einer apokalyptischen Zukunft, bedroht von Banden, einem ausser Kontrolle geratenen Reaktor und dem fanatischen Endzeitglauben einiger Nachbarn zu überleben versucht. Scheinbar vergessen in einer kleinen Welt zusammen mit zwei zu Waisen gewordenen Kindern.
 Scan 7Holly Sykes ist der rote Faden durch die weiten Räume des Buches. Aber so wie Erzählperspektiven ändern, so ändern auch die Tonarten der Sprache. Holly Sykes aber begegnet man immer wieder, sei es als Frau von Ed Brubeck, einem Kriegsreporter, der den Kampf zwischen seinen Pflichten als allzeit bereiter Kriegsreporter und brauchbarem Familienvater zu verlieren droht. Oder als Freundin des Schriftstellers Crispin Hershey, der, verwöhnt von den Erfolgen seiner ersten Bücher, den Tritt im Schreiben verloren hat und sowohl vom Verlag wie vom Literaturbetrieb bitter abgestraft wird. Hershey lächelt zuerst über Holly Sykes, die in einer ganz anderen Nische als er mit ihrem Buch über «Radiomenschen» den Erfolg wie einen Kometenschweif hinter sich herzieht.
Was mich an diesem 800-Seiten-Roman fasziniert, ist nicht so sehr der Ton seiner Sprache, sondern das Instrumentarium, mit dem Mitchell zu spielen vermag; die Fülle an Ideen, Bildern und Handlungssträngen, die Weite des Panoramas an Zeiten, Kulissen, Personen, Welten und Details. Ein Buch in Breitbandmanier, das wohl wie «Wolkenatlas» nicht lange auf seine Verfilmung warten muss. Aber so vielfältig Mitchells Spielarten sind, so sind es auch meine Leseeindrücke, die von maximaler Grenzbelastung, wenn es allzu sehr nach Fantasy riecht, bis zu wirklicher Verzückung, wenn der Autor im letzten Kapitel noch einmal das alt gewordene Leben Holly Sykes schildert, die in ihrem Kampf ums Überleben nicht nur gegen rüde Gewalt, sondern wie in der Gegenwart gegen religiösen Fanatismus ankämpfen muss, der jedem mit dem Schwert droht, der die Zeichen anders oder gar nicht deuten will.
Ein Buch über Plagen auf allen Ebenen, ein Buch, das unglaublich mitreisst und dessen Sog ich mich gerne hingab.

mitchell-david-c-leo-van-der-noort-2006David Mitchell, geboren 1969 in Southport, Lancaster, studierte Literatur an der University of Kent, lebte danach in Sizilien und Japan. Er gehört zu jenen polyglotten britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die ganze Welt ist. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem John-Llewellyn-Rhys-Preis ausgezeichnet, zweimal stand er auf der Booker-Shortlist. Sein Weltbestseller Wolkenatlas wurde von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern verfilmt. David Mitchell lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Clonakilty, Irland.

Hompage des Autors

 

Das 32. Literaturblatt ist verschickt!

Es sind vier Titel, vier Bücher, zwei Autorinnen und zwei Autoren, denen ich mit grösstem Vergnügen jene Ganz spezielle Ehrerbietung entgegenbringe. Bücher, die es verdienen, hängen zu bleiben, nicht einfach in der Masse der Neuerscheinungen untergehen sollen. Bücher, die einen speziellen Platz in den Bücheregalen von Literaten verdienen.
Wenn ich dabei all jenen, die die Literaturblätter mit der Post zugeschickt bekommen, eine Freude bereite, freut mich das.

Philipp Blom «Bei Sturm am Meer», Zsolnay

«Marlene, meine Mutter, deine Grossmutter, ist in der Post verlorengegangen. Nicht, weil sie sich in einem riesigen Bürogebäude verlaufen hätte, nicht, weil sie alt und verwirrt war. Sie wurde nicht alt, und sie war ganz klar bis kurz vor ihrem Ende, als das Morphium ihr waches Bewusstsein trübte. Nein, als ordentliche und versicherte Postsendung ging sie verloren, ging die Urne mit der Asche verloren, die von ihr übrig geblieben war.»

Ben sitzt in einem Hotelzimmer in Amsterdam und schreibt einen Brief an seinen Sohn, der ihn aber erst in 44 Jahren öffnen und lesen soll, dann so alt wie er jetzt und vielleicht fähig, die Geschichte zu verstehen, in der Ben seinem Sohn sein Leben zu erklären versucht. Während Ben auf die Urne seiner Mutter wartet, blickt er zum einen zurück und zum andern katapultieren ihn ein Plakat eines nackten Mannes und die Treffen mit einer alten Frau, die ihm verschlossene Türen zu seiner Familie öffnen, aus der so vermeintlich fixen Umlaufbahn. Schon das, was er von seiner Familie wusste, war genug, um damit zu hadern: Grossmutter Elly, die nach dem Krieg als Deutsche nach Holland kam und dort als Deutsche nie heimisch, dafür geschnitten und belächelt wurde und sich mit Tio Pepe einen lebenslangen flüssigen Hausfreund zulegte, Blom_Bei Sturm am Meer 060416.inddden sie schon morgens in die Arme nahm. Seine Mutter Marlene, die ihren Namen hasste, weil er ein Programm sein sollte, der Beginn einer Karriere wie die der Dietrich. Mutter Marlene, die dann ausbrach und sich in der linken Szene Hamburgs Henk angelte, der dort in langen Nächten mit allerlei Wilden, darunter auch Ulrike Meinhof, sich in neue Sphären diskutierte und daraus irgendwann Nachwuchs wurde, er, Benedict, mittendrin. Bis sein Vater als Journalist während eines Auftrags für ein deutsches Nachrichtenmagazin im kolumbianischen Rebellengebiet verschwand und als entführt und umgekommen erklärt wurde. Seine Mutter entfloh damals der Welt, nahm ihren Sohn Ben mit und gab ihrem einzigen Kind jene Vergangenheit, von der sie meinte, es wäre die einzig richtige.
Aber in den Tagen in Amsterdam, wo er sich auch über die Zukunft mit seiner Frau klar werden will, überstürzen sich die Ereignisse. Während er schreibt, taumelt er durch die Stadt und seine eigene Geschichte. «Ich habe versprochen, ehrlich zu sein in diesem Brief, dir die Dinge zu erzählen, während sie sich noch entwickeln, während sie mir noch spitz im Fleisch stecken, bevor sie zu dem Geröll abgeschliffen werden, das alle Flüsse mit sich herumtragen, rundgewaschene Steine der Erinnerung.» Es ist nach dem letzten Kampf mit der Mutter, die sich bis zum letzten Atemzug nicht der Realität stellen wollte, dem unausweichlichen Tod, einer Mutter, die er mit dem Sterben doppelt verlor, endgültig als Mutter und mit ihr die Hoffnung auf eine Vertraute, auch als Schlüssel zum eigenen Leben, der Kampf mit der eigenen Geschichte.

Philipp Blom erzählt nicht linear. Er erzählt, wie diese wenigen Tage in Amsterdam verlaufen, flirrend, voll mit Träumen in der Nacht und jenen die den Taumel sonst vervielfachen, scheinbar zementierten Gewissheiten, die zerbrechen und eine Vergangenheit zerbröseln wie unendlich viele Hölzwürmer die Einrichtung der Gewissheiten. Ich als Leser werde Zeuge, wie sich ein Leben aus Lügen verliert, wie der Sturm alle Fundamente unterspült und nichts bleibt ausser der Wunsch von jetzt an wahrhaftig zu sein.

Blom_Philipp_H7_2012 «Bei Sturm am Meer» ist Philipp Bloms erster Roman. Bisher veröffentlichte er hauptsächlich geschichtliche Werke wie bei Hanser «Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 – 1914 (2009) oder «Die zerrissenen Jahre. 1918 – 1938 (2014). Als Journalist hat Blom in Zeitungen und Zeitschriften in Grossbritanien (The Guardian, The Independent, Financial Times, Times Literary Supplement) und im deutschsprachigen Raum (Die Zeit, Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Der Standard) publiziert. Im österreichischen Kultursender Ö1 moderiert Blom regelmäßig die Diskussionssendung «Von Tag zu Tag».

Webseite des Autors

Am 25. Oktober und 12. November liest Philipp Blom aus «Bei Sturm am Meer» in Wien!

(Titelbild: Sandra Kottonau)

literaturblatt.ch fragt, Teil 5, Dominique Anne Schuetz antwortet

Dominique Anne Schuetz, ihre beiden letzten Romane «Die unsichtbare Grenze» und «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» sind beim Europa Verlag erschienen, ist mehr als «nur» Schriftstellerin. Das sieht man, wenn man ihre Webseite besucht und wenn man ihr bei einer Lesung zuhört. Sie bewegt!

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Ich möchte ungewöhnliche Geschichten erzählen, die nachwirken. Die Sprache ist mir wichtig, aber nicht als Selbstläufer. Durch mein Studium und meine Tätigkeit als Künstlerin bin ich auch stark optisch geprägt und mag das «bildliche» Schreiben, nicht nur die Figuren sollen ein Gesicht erhalten, auch die Orte sollen erlebbar werden. Deshalb fällt z. B. auch mein Aufwand für Recherchen stets sehr umfangreich aus.image[1]

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Schwierig ist eigentlich nur, dass es so lange dauert, bis ein Roman geschrieben ist und in gedruckter Form vorliegt. Das Schöne an der Schriftstellerei ist die Freiheit während des Schreibprozesses. Ein bekannter Filmregisseur sagte einmal: Er habe aufgehört, während des Drehs Ideen zu entwickeln, weil jede dieser Ideen mindestens 50’000 Dollar koste. Da haben es die Literaten entschieden einfacher.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Mit meinem ausgedehnten Fitnessprogramm bereite ich mich auf die Arbeit vor. Das leert den Kopf und bringt mich auf neue Ideen.
Ohne Musik kann ich nicht schreiben. Ich brauche jedoch einen speziellen Sound: Soul, Neo Soul, Nu Jazz, Acid Jazz, Latin mit Soul- und Jazzeinflüssen, Louisiana Blues, Funk.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Kunst hat immer eine Verantwortung, sonst ist es keine Kunst. Ich mag das Zitat des finnischen Architekten Alvar Aalto, der sagte: »Es gibt nur zwei Dinge in der Architektur: Menschlichkeit oder keine.»
Dass man von den Autoren mehr erwartet, hat mit der Macht des Wortes zu tun. Meines Wissens wurde noch kein Krieg mit einem Gemälde oder einer Oper entfacht bzw. beendet, sondern stets mit Worten.

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
In meinen letzten vier Romanen ging es um Rassismus, um den Umgang mit Andersartigen, um Ideologien oder auch um die Schuldenwirtschaft. Jedoch verpacke ich solche Inhalte stets in einen Roman, der stark von den Figuren und ihren Entwicklungen geprägt ist. Ich will nicht meine Meinung zwischen den Buchdeckeln lesen, sondern indirekt Denkanstösse geben. Wie die vielfältigen Reaktionen zeigen, findet eine Auseinandersetzung mit meinen Stoffen sehr wohl statt, auch wenn ich die Themen nicht laut in den Vordergrund stelle.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Die Einsamkeit ist kein Problem, weil ich mich während des Schreibprozesses in einer völlig anderen Welt befinde.

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
image[1] (2)Obwohl persönliche Erfahrungen Eingang in meine Bücher finden, würde ich nie eine Autobiografie schreiben. Das ist mir zu sehr Seelenstriptease. Auch würde ich keinen Roman schreiben, bei dem man mir ein Thema vorgibt, und als Coautorin für Prominente wäre ich ebenfalls eine Fehlbesetzung.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
«Dreamland» von Kevin Baker. Habe den Roman gerade zum zweiten Mal gelesen. (OKay, vielleicht nur ein halber Geheimtipp.)

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Als Kind: «Hauffs Märchen». Ich mochte keine Hanni-und-Nanni- oder ähnliche Bücher, sondern hatte eine Schwäche für Märchen. Hauff war mein Liebling, da seine Geschichten oft exotisch und auch etwas gruselig waren.
Als junger Teenager: «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Das Buch hat mir die Tür zur Literatur geöffnet.
Später: «Wassermusik» von T. C. Boyle. Kreativ, bildstark, atemlos, sprachlich einzigartig.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Ich bekomme selten Bücher geschenkt, weil die Leute da eine gewisse Scheu haben und mir lieber eine Flasche Wein bringen (was auch ganz gut ist). In mein Regal kommen nur absolute Lieblingsbücher. Ich gebe viel weg, da ich lieber mit leichtem Gepäck lebe.

Schicken Sie mir ein Foto von Ihrem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz?
(Das Foto ziert den Anfang des Interviews.) Mehr Unordnung kann ich leider nicht bieten. Im Hintergrund läuft übrigens grad Leela James ☺.

dominique-anne-schuetz[1]Dominique Anne Schuetz, geboren in Winterthur, aufgewachsen in St. Gallen, ist Mutter von zwei Söhnen und lebt in der Nähe von Zürich. Sie war Creative Director und hat zahlreiche Preise erhalten. Heute ist sie erfolgreich als Künstlerin und Autorin tätig und wurde für ihr literarisches Schaffen ausgezeichnet.

Vielen Dank an Dominique Anne Schuetz!

Mitte September folgt ein Interview mit Daniela Danz. Ich freue mich!

Am 22. Oktober, 2016, von 11 Uhr bis ca. 13 Uhr liest die Autorin bei Irmgard & Gallus Frei-Tomic, St. Gallerstrasse 21, 8580 Amriswil
(unbedingte Anmeldung unter gallus.frei-tomic@gmx.ch) oder übers Kontaktformular dieser Webseite!

Anja Geburi 2