Lentille, eine junge Kuh, die ihr erstes Kalb erwartet, liegt im Stall und brüllt. Urs Mannhart arbeitet dort, wenn er nicht schreibt. Aber wenn er schreibt, brüllt die Kuh auch in seiner Schreibstube im Städtchen. Urs Mannhart erzählt von seiner Liebe, jener zu den Tieren in dem jurassischen Stall und jene zu der Art, sich Fragen zu stellen.
Urs Mannhart war am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad diesen Sommer mit seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ in den Walliser Bergen eingeladen. Wie allen hätte man ihm die Spesen für eine Reise mit dem Zug von La Chaux-de-Fonds nach Leukerbad und zurück mit aller Selbstverständlichkeit bezahlt. Aber Urs Mannhart kam mit dem Fahrrad. Circa 200 Kilometer, angekommen mit den ersten Regentropfen eines infernalen Gewitters, am nächsten Tag bereits wieder wie aus dem Ei gepellt bereit für die „Literarische Wanderung“ von Guttet über Albinen bis nach Leukerbad. Urs Mannhart ist ein Tausendsassa, nicht nur was seine körperliche Fitness betrifft und seinen Willen, Dinge mit letzter Konsequenz zu tun, sondern auch als Schriftsteller, Reporter und Landwirt.
Und wenn Urs Mannhart die unabdingbare Fähigkeit eines Schriftstellers, sich in ein „künstliches Gegenüber“ versetzen zu können, Empathie wie Tasten und Stift zu einem Werkzeug macht, wenn er sich so ganz in sein Tun und seine Überzeugung hineingeben kann, ist es auch nicht verwunderlich, dass der Biobauer Urs Mannhart eine Kuh zu seinem Gegenüber machen kann, ohne Pathos, ohne Verklärung.
„Menschen, die sich zu viel Arbeit und zu viele Termine aufhalsen, sollten ärztlich angewiesen werden, eine Kuh aufzusuchen, um ihr nahe zu sein, wenn sie wiederkäut.“
Urs Mannhart ist zwei Tage in der Woche Mitarbeiter auf einem kleinen Bauernhof unweit von La Chaux-de-Fonds. Im Stall stehen nur wenig Kühe; Susi, Ambre, Galia, Amina und Lentille. Urs und Michaël, der Bauer, melken sie von Hand, jeden Tag zweimal, morgens und abends. Wer so eng mit Tieren zusammen ist, seien es Haus- oder Nutztiere, wer mit ihnen lebt, an ihrem Leben teilnimmt, wer den Tieren Namen gibt, der wird auf die Frage, ob Tiere eine Persönlichkeit besässen, mit Verwunderung reagieren. Die Frage ist nicht, ob Tiere eine Persönlichkeit besitzen, viel mehr, ob sie Persönlichkeiten sind. Ob sie zu Gefühlen fähig sind.
Urs Mannhart erzählt in seiner essayistischen Reportage von einer Kuh, von Lentille. Ganz zu Beginn des Buches kämpfen Michaël und der Tierarzt an der Seite Lentilles um ihr erstes Kalb, während Urs sich sonst irgendwie nützlich zu machen versucht, während das tiefe Brüllen der Kuh die Ruhe des sonst stillen Hofes zerreisst. Das Kalb kommt tot zur Welt. Michaël legt es neben die Mutterkuh. Sie stupst es sanft mit den Hörnern. Empfindet eine Kuh Trauer nach einer solchen Todgeburt? Urs Mannhart schildert die Begegnungen mit der Kuh danach, versucht sie zu verstehen, krault und streichelt ihr Fell, beobachtet sie auf der Weide. Urs Mannhart nimmt Lentille gedanklich mit nach Hause, an seinen Schreibtisch in seiner kleinen Wohnung in La Chaux-de-Fonds.
Urs Mannhart setzt sich nicht nur mit seiner Arbeit auseinander. Das mit Farbfotos illustrierte Buch ist Zeugnis einer tiefen Befragung, darüber, ob all das, was in europäischen Ställen geschieht noch in irgend einer Weise etwas mit Tierwohl gemein hat, oder ob sich eine perfekt organisierte Fleisch- und Milchindustrie das Tier nicht längst zum reinen Objekt und Lieferanten herangezüchtet hat. Ob eine Gesellschaft, die frag- und kritiklos in Bergen eingeschweisster Billigfleischangebote wühlt noch weiss, was es bedeutet, einer Kuh den Schmerz anzusehen, wenn sie mit ihrer feuchten Schnauze den toten Körper ihres Kalbs berührt. Wir haben uns entfernt. Urs Mannhart ist ganz nah. Er erzählt in seiner Auseinandersetzung mit ethischen Fragen von seiner Liebe zum Tier, mitunter gar von seinem Werben um sie.
„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist keine Kampfschrift gegen den Verzehr von Fleisch- oder Milchprodukten, nicht einmal gegen Massentierhaltung. Das Buch zwingt mich zur Auseinandersetzung, zur Selbstbefragung. Darüber, dass ich mich viel zu selten frage, was ein Tier empfindet, wo wir ihnen doch zugestehen, dass sie zu Kommunikation fähig sind. Wie sehr wir uns die Welt zurechtbiegen, um sie „untertan“ zu machen; einsperren, abschneiden, kupieren, schleifen und veröden. „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“ ist eine Liebeserklärung.
Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Grossraubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik und der Philosophie abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die landwirtschaftliche Ausbildung. Mannhart beschäftigt sich mit Tierphilosophie, dem bedingungslosen Grundeinkommen, mit Suffizienz und entschleunigter Mobilität. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis 2017. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist.
Beitragsbild © Gina Folly