„Großmütter“ ist kein Frauenroman, sondern ein Buch über unsere Gesellschaft im 20. Jahrhundert und darüber hinaus. „Großmütter“ ist kein Roman über eine späte Revolte, aber eine beeindruckende Geschichte über zwei Frauenschicksale, die sich auf den ersten Blick kaum vergleichen lassen und doch schmerzhaft viele Parallelen aufweisen.
Das Gewicht eines Romans manifestiert sich nicht in erster Linie durch seine Seitenzahl, auch wenn das eine oder andere Buch sich damit zum Monument macht. Melara Mvogdobo deckt auch nichts auf, das wir nicht längst wüssten, das uns mahnen müsste, Zustände, die über Jahrhunderte Hoffnungen zerstörten, Leben auf grausamste Weise unterdrückten und nur allzu oft in Krankheit und Tod endeten. Wie leicht ist es, sich auf den Errungenschaften moderner Lebensformen auszuruhen, mit dem Zeigefinger dorthin zu zeigen, wo Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen noch immer Normalität sind, Teil einer staatlichen oder religiösen Ideologie. Nicht erst mit ihrem Roman „Großmütter“ setzte Melara Mvogdobo ein Zeichen. Schon ihr Debüt ist ein Feldzug gegen zementierte Gesellschaftsstrukturen und patriarchalen Machtmissbrauch.
Zwei Frauenleben; das eine in der Schweiz, aufgewachsen auf einem Bauernhof. Arbeit bestimmt das Leben. Die junge Frau, der man eine Ausbildung verweigert, weil sie so etwas als zukünftige Ehefrau und Mutter gar nicht braucht, kommt auf den Hof eines Grossbauern, wird geschwängert, von allen geächtet, ohne Kind weit weg geschickt, zwangsverheiratet und von ihrem Ehemann bis ins hohe Alter nicht nur mit der Faust bestraft. Das andere in Kamerun, als weiblicher Ballast einer wohlhabenden Familie geboren, als Enttäuschung, weil man lieber einen Stammhalter gehabt hätte, früh verheiratet, von der Mutter beschworen, sich gegen Polygamie zu stemmen, vom Mann missbraucht und misshandelt, aller Träume beraubt, schlussendlich mit Hilfe ihrer Kinder zur Flucht nach Europa gezwungen.
Die Freiheit einer Frau reicht nur bis zum nächsten Nein eines Mannes.

Zwei Schicksale, die von Unglück zu Unglück stolpern, deren Aufbegehren schon im Keim erstickt wird, die all die Träume, die sie einst in sich trugen, davonschwimmen sehen, vernichtet durch die Macht der Konvention, unumstössliche Gesellschaftsordnung und das frauenverachtende Selbstverständnis männlicher „Vorherrschaft“. Und doch verlieren die beiden Frauen diesen letzten Kern nie, selbst dann nicht, wenn die Katastrophe unausweichlich scheint, wenn die Geschichte beweisen will, dass es immer so war und auch in Zukunft so bleiben wird, wenn ihnen das Schicksal Unmenschliches aufzwingt.
Dieser schmale Roman ist keine Anklage, auch wenn die Intentionen der Autorin mehr als deutlich werden. Melara Mvogdobo führt mir vor Augen, was ich allzu oft aus meinem Bewusstsein verliere, bildet man sich doch schnell viel auf die „Errungenschaften“ Westeuropas ein und schaut mit Herablassung auf Zivilisationen, die ganz offensichtlich nicht unseren Massstäben entsprechen. In bildhafter Sprache und grosser Emotionalität schrieb Melara Mvogdobo einen Roman, der mich tief bewegt. Alles an diesem Roman ist auf den Kern reduziert. Und trotzdem strahlt die Sprache in erstaunlich poetischer Kraft.
Zu gönnen ist die Nomination aber auch dem Transit Verlag mit Sitz in Berlin. Ein kleiner Verlag, der sich nicht nur um das gute, sondern auch um das schöne Buch verdient macht. Mit Sicherheit ist genau das etwas von dem, was einen Preis wie den Schweizer Buchpreis wichtig macht; für einmal sind Verlage im Scheinwerferlicht, die es sonst kaum so ins Rampenlicht schaffen. Verlage, die den Buchmarkt vielfältig und differenziert machen. Erstaunlich genug, dass es sie gibt und dass sie mit ihren Büchern Wagnisse eingehen, die bei grossen Verlagen im Streben nach Umsatz und Gewinn kaum Chancen hätten.
Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. Neben ihren schriftstellerischen Arbeiten unterrichtete sie traumatisierte Jugendliche, leitete Workshops über Textilkunsthandwerk und tropische Küche. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien ihr erster Roman «Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden» (Edition 8, Zürich).
Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch


Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien im Verlag Edition 8 ihr erster Roman «Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden».
Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.
Glaubwürdigkeit eines solchen Prädikats „bestes Buch“ noch mehr in Frage stellen. Aber das beste Buch gibt es nicht. Die Frage scheitert an mehreren Punkten. Auch wenn es Leute aus dem Literaturbetrieb gibt, die der Überzeugung sind, dass es unauslöschliche Kriterien für gute Literatur gibt. Gute Literatur zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, tiefgründige Wahrheiten über die menschliche Erfahrung zu vermitteln, starke emotionale Reaktionen hervorzurufen und die Zeit zu überdauern. Sie zeichnet sich durch gut entwickelte Charaktere, fesselnde Handlungen und eine reiche, nuancierte Sprache aus. Aber wer bestimmt, was tiefgründig ist? Ist es nicht so, dass emotionale Reaktionen ganz unterschiedlich ausfallen können, nicht nur in der Kunst. Was ist „nuancierte“ Sprache? Wülstig mit Sicherheit nicht. Schon gar nicht sichtbar durch die Anzahl von Adjektiven.
Vielleicht muss ich ganz persönlich auf die Frage antworten, was gute Literatur zumindest für mich sein kann: Sie muss mich fesseln. Sie muss mich überraschen. Sie muss mich in irgend einer Form provozieren. Sie muss in mir einen Nachhall erzeugen, muss sich in mir festhaken. Der Sound muss musikalisch sein. Ich soll bewegt werden… Ich könnte die Liste noch weiterführen, ohne je den Anspruch zu haben, eine solche Liste habe Allgemeingültigkeit. Robert Walser wurde wie Franz Kafka zu Lebzeiten nur von wenigen beachtet und geschätzt, am wenigsten vom Buchmarkt. Oder umgekehrt; Kennen sie John Knittel? Der Schweizer Schriftsteller war zu Lebzeiten sehr erfolgreich, starb 1970. Heute kennt ihn kaum mehr jemand. Vergessen. Kennen sie Ruth Blum? Die Schaffhauserin starb 1975. Ich kaufte alle ihre Bücher in Antiquariaten und war hell begeistert. Vergessen. Noch so eine lange Liste.
Debüt „Anton will bleiben“ von Nelio Biedermann. Dass ihre Folgeromane von ganz anderer Qualität sind, darüber lässt sich streiten, zumal „Lásár“ in einer Weise gehypt wurde und wird, die jede Verhältnismässigkeit vermissen lässt.