Margriet de Moor «Schlaflose Nacht», Hanser

Lucia, ihre Freundin, beschwört sie, lange nach dem Tod ihres Mannes endlich aus der Höhle zu kriechen. Es wäre eine Beleidigung für ihre Sinnlichkeit, für ihre elementaren Bedürfnisse. Aber die Freundin will nicht. Sie bleibt im Haus, dass sie nicht einmal zwei Jahre mit ihrem Mann teilte.

Der Mann ist tot, erschoss sich hinter dem Haus im Chicoréetreibhaus, wo die bleichen Pflanzen mit vorgegaukelten Jahreszeiten aus dem Boden gezwungen werden. Obwohl ihr alle raten, einen Strich zu ziehen, neu zu beginnen, bleibt die vom Mann im Haus Zurückgelassene. Der Schuss, mit dem ihr Mann seinem Leben ein Ende setzte, verwandelte scheinbares Glück mit einem Knall zu einem Alptraum. Irgendwann entschliesst sie sich, wider aller Vernunft, ein Inserat aufzugeben, eine Annonce, die Männer nach einem immer gleichen Ritual für ein paar Stunden, eine Nacht an ihre Seite lassen. Vielleicht auch bloss, um sich selbst zu beweisen, dass sie noch am Leben teilnimmt, auch wenn ihr toter Mann mit diesem einen Schuss ihr Leben beinahe mitriss.

Die Novelle, die 1994 zum ersten Mal auf deutsch erschien und die grosse De Moor Schlaflose Nacht Final_MR.inddholländische Autorin mit Recht prominent an der Frankfurter Buchmesse platzieren sollte, beschreibt eine einzige Nacht. Eine Nacht, die die Protagonistin nicht schlafen lässt. Eine Nacht, in der sie genau spürt, dass eine Zutat in ihrem Leben fehlt. Eine Nacht, in der sie in die Küche geht und einen Teig anrührt, den Beginn von etwas Neuem. Mehl, Salz, Zucker, Hefe und Eier. Ein Teig, der aufgehen und etwas freisetzen soll, was in den bloss vermengten Zutaten erst schlummert – Russischen Napfkuchen. Den Mut, den es brauch, um aufzubrechen.

Margriet de Moors 127 Seiten starke Novelle ist wie ein Film mit langen, stummen Einstellungen. Eine Geschichte, die mit ihren Figuren erzählt, viel offenlässt, in keiner Zeile ein Wort zu viel verliert. Eine Geschichte, die nichts erklärt und mit kleinstmöglicher Bewegung grösstmögliche Wirkung erziehlt. Sprachliche und inhaltliche Verdichtung, Bilder wie Gemälde von Edward Hopper.

margriet_de_moor_neefjesMargriet de Moor, eine der bedeutendsten niederländischen Autorinnen der Gegenwart, studierte Klavier und Gesang, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Bereits ihr erster Roman  «Erst grau dann weiss dann blau» (Hanser, 1993) wurde ein sensationeller Erfolg. Heute sind ihre Romane und Erzählungen in alle Weltsprachen übersetzt. Ihr Werk erscheint im Hanser Verlag, zuletzt «Die Verabredung» (Roman, 2000),  «Der Jongleur» (Ein Divertimento, 2008),  «Der Maler und das Mädchen» (Roman, 2011),  und «Mélodie d’amour» (Roman, 2014). Margriet de Moor lebt in Amsterdam.

 

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Literaturvorschläge aus dem Turm

Liebe Bücherfreunde

Zusammen mit Elisabeth Berger stellte ich am Nikolaustag im Tröckneturm St. Gallen lesenswerte Bücher vor. Elisabeth Berger sechs – ich ebenso. Bücher, die man schenken kann. Bücher, die sich  lohnen zu lesen. Bücher, die man vorlesen kann. Bücher für viel mehr als ein paar schöne Stunden.

Falls sie noch ein Weihnachtsgeschenk brauchen, vertrauen sie dieser Liste!

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«Die Annäherung» von Anna Mitgutsch für alle, die sich für das vom letzten Weltkrieg dominierte Geschehen eines Jahrhunderts interessieren, für Familiengeschichte mit viel Unausgesprochenem.

«Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» von Max Küng für Neugierige, die hinter Fassaden schauen wollen, Witziges mögen.

«Schlaflose Nacht» von Margriet de Moor, für jene, die bereit sind, mit der Erzählerin mitten in der Nacht in der Küche zu stehen, um zuzusehen, was der Suizid des Mannes im Gewächshaus hinter dem Haus anrichtet.

«Das achte Leben – für Brilka» von Nino Haratischwili für fleissige LeserInnen, die sich von 1300 Seiten nicht abschrecken lassen und dafür belohnt werden mit einem georgischen Epos in Breitleinwand über beinahe 100 Jahre – ein fantastisches Buch!

«Cox oder Der Lauf der Zeit» von Christoph Ransmayr für jene, die sich vor einer mächtigen chinesischen Kulisse von einem Meister der Sprache in die Fremde entführen lassen wollen.

«Hier können sie im Kreis gehen» von Frédéric Zwicker, die erfahren wollen, warum sich ein alter Mann hinter einer vorgespielten Demenz im Altersheim verstecken will.

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«Bella Mia» von Donatella di Pietrantonio für jene, die sich in eine der vielen Behelfsunterkünfte nach dem grossen Beben 2009 in Italien versetzen lassen wollen, ins Schicksal dreier Menschen, die sich neu erfinden müssen.

«Nora Webster» von Colm Toibin für jene, die sich literarisch entführen lassen wollen in die irische Provinz der 60er Jahre, an einen Ort, wo der Verlust des Mannes die persönliche Katastrophe der hinterbliebenen Frau vervielfacht.

«Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt» von Zora del Buono, für jene, die wissen wollen, was eine unmögliche Liebe bewirkt in einem Land, das von den NSA-Enthüllungen gebeutelt ist.

«Der lange Atem» von Nina Jäckle, die sich auch vor dem Trauma eines erlebten Tsunamis in Japan nicht abschrecken lassen, vom Tod in all den entstellten Gesichtern, im Buch von einer eindringlichen Sprache belohnt.

«Der Hut des Präsidenten» von Antoine Laurain, für jene, die wissen wollen, was ein verlorener Hut des ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand anrichten kann. Heiter!

«Lügen sie, ich werde ihnen glauben» von Anne-Lare Bondouz und Jean-Claude Mourlevat für jene, die sich gerne gut unterhalten lassen von einem E-Mail-Roman voller Witz und Charme.

Zwei Büchermenschen: Gallus Frei-Tomic und Elisabeth Berger

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