Manchmal muss man weg, um irgendwann zurückzukommen, zurückzukommen auf das, was einst passierte, an den Ort, an dem es passierte, zu den Menschen, von denen man sich entfernen musste. Vielleicht wäre Gras über die Sache gewachsen. Vielleicht wären die Geschehnisse in den Sedimenten der Vergangenheit eingesunken. Aber er kommt zurück, in vielerlei Hinsicht zurück.
In Thilo Krauses erstem Roman „Elbwärts“ geht auch der Autor „zurück“, denn Thilo Krause, geboren in Sachsens Hauptstadt Dresden wohnt und wirkt schon lange in der Schweiz, arbeitet neben seinem Wirken als Dichter bei den Technischen Betrieben der Stadt Zürich. Sein Protagonist geht zurück an die Elbe, elbwärts, ohne je an dem Ort anzukommen, den er sich vor seiner Rückkehr ausmalte. Denn er kehrt zurück mit seiner Familie, mit seiner Freundin Christine und dem Kind, in ein Haus mit Apfelhain, einem Haus, das alles hätte, um ein neues Zuhause zu werden, nicht weit von der Stadt-die-keine-ist, nicht weit von dem Fels, der seinem Freund Vito damals zum Verhängnis wurde. Damals, kurz vor dem Mauerfall, als sich die berstende DDR ein letztes Mal aufbäumte.
„Als wir weg waren, schien es hier zu sein, und nun, da wir hier sind, ist es, was weiss ich wo.“
Aber nach der Rückkehr ist nichts so, wie es hätte sein sollen. Die Beziehung zu Christine erstickt in Streitereien, das Leben als Hausmann und Heimwerker scheitert und die Vergangenheit, die nicht zurückzulassen ist, sticht und provoziert aus jedem Winkel an der Elbe, sei es zuhause, im Dorf bei den alten, bekannten Gesichtern, den Glatzköpfen, die sich wie eine Krankheit ausbreiten, in den Wäldern oder um die Felsen, in die er und Vito, sein Freund aus Kinder- und Jugendtagen, hinaufkletterten.
„Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf zu verschwinden.“
Vito und er gingen damals noch zur Schule, waren Freunde wie Pech und Schwefel. Nach der Schule machten sie sich auf zu den Kalkfelsen über dem Elbtal, unter der Festung, kletterten, wollten sein wie die Grossen, mit Seilen, die sie aus den Waschküchen der Mütter klauten. Bis zu jenem Tag, der alles kippte. Als Vito hätte nachklettern sollen. Als er oben wartete und nur dieses eine dumpfe Geräusch hörte. Als Vito abstürzte, liegen blieb, Blut verlor. Als er ihn auf seinen Rücken packte und zurück ins Dorf schleppte. Als man ihn ins Spital brachte und bei der Operation irgendetwas nicht lief, wie es hätte sein sollen. Als Vito im Spital sein Bein verlor, man ihm ein Bein amputierte, seinen Freund amputierte, als Vitos Mutter ihn für das verantwortlich machte, was am Felsen niemals hätte passieren dürfen.
Vitos Absturz wird zum Absturz beider. Vor versammelter Schule wird gebrandmarkt und ausgesondert.
„Wenn es dunkel wurde, schlich ich zu mir nach Hause wie ein Dieb, denn das war ich: ein Dieb, der Vito das Bein geklaut hatte.“
Nach Jahren zurück, sucht er erneut die Nähe zu Vito. Vito ist Tischler geworden, im Ort, wenn auch nicht der Alte geblieben. Als es den Moment endlich gibt, an dem er sich traut, zurück ins Leben seines alten Freundes zu treten, ist es Vito, der „oben auf dem Fels“ steht, ist es sein alter Freund, der einbeinig beide Füsse auf dem Boden hat, während ihm die Gegenwart wegrutscht.
Eine Geschichte, die berührt, eine Sprache, die bezaubert. Dass der Dichter und Sprachkünstler Thilo Krause nicht einfach eine Geschichte erzählen will, wird nicht nur in der Art seines Erzählens klar, auch im Sound, in der Prägnanz. Seien es einzelne Sätze, die wie Blitze aus dem Text schiessen und an mir hängen bleiben oder Dialoge, die viel mehr erzählen, als nur das, was gesprochen wird. „Elbwärts“ ist ein Abtasten der Landschaften, der inneren und äusseren Landschaften: „Elbwärts“ will nichts klären, nichts erklären. „Elbwärts“ ist der Strom des Erzählens, diese langsam fliessende Bewegung, der man sich nicht entziehen kann. Wunderbar.
Begründung der Jury zur Verleihung des Robert Walser Preises 2020:
«Krause erzählt auf höchst eindringliche und sprachlich stimmige Weise von der Rückkehr an den zugleich vertrauten und fremd gewordenen Ort der Kindheit im Elbsandsteingebirge nahe der tschechischen Grenze und von der unvermeidlichen Konfrontation mit einem die Existenz überschattenden, in Schweigen eingemauerten Jugendtrauma. In Bildern von grosser dichterischer Intensität gelingt es Krause, das Eintauchen-Wollen in eine unwiederbringlich verlorene, nicht mehr zu berichtigende Vergangenheit sinnlich fassbar zu machen.»
Die deutschsprachige Jury bildeten unter dem Vorsitz von Stefan Humbel, Jürg Altwegg, Andreas Langenbacher, Camille Lüscher und Anne Weber.
Thilo Krause, geboren 1977 in Dresden, lebt und arbeitet in Zürich. Seit 2005 veröffentlicht er literarische Texte in Zeitschriften (u.a. Akzente, Sinn und Form), Zeitungen (u.a. Die Zeit, Zürcher Tagesanzeiger) und Anthologien. Für seine Gedichte wurde Thilo Krause 2012 mit dem Schweizer Literaturpreis und 2016 mit dem Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg sowie dem ZKB Schillerpreis ausgezeichnet. Bei Hanser erschien 2018 sein Gedichtband «Was wir reden, wenn es gewittert», für den er den Peter Huchel-Preis erhielt.