Peter Weibel «Der Schmetterling schläft»

Ich weiss nicht genau, was es zu bedeuten hat, dass ich jetzt jeden Tag Leas Fragen höre. Die Fragen sind lauter geworden, seit sie nicht mehr da ist, lange bin ich an ihnen vorbeigegangen, jetzt sind sie wieder da. Manchmal entfernen sie mich von Lea, führen mich an einen fernen Ort, wo ich nie war, und bringen mich doch immer wieder zu ihr zurück. Wenn ich am Fluss unterwegs bin, kann ich die Fragen überall hören, sie sind eine verborgene Spur, Lea hat hier eine Spur hinterlassen. Überall liegen Zeichen, die von ihr erzählen, aber vielleicht werden sie nur deshalb zu Zeichen, weil ich an eine Verbindung glauben will. Und es kann vorkommen, dass ich Lea sehe, in einem Bild: Da ist sie noch, da geht sie und fragt nach dem Vergessenwerden. Da kommt sie mir entgegen, mit ihrer Wollmütze über der zerschundenen Haut, mit der verpackten Stummelhand. Mit ihren kurzen, sperrigen Schritten, dem gekrümmten rücken, mit diesem scheuen und prüfenden Blick von unten, aus den Lidwinkeln heraus. Da kommt sie und fragt mich, wie ist es in einem gesunden Leben, wie ist das, wenn die Haut noch lieben kann? Wie ist das, wenn die Engel jeden Morgen zu Tisch sitzen, wenn der Mond seine Versprechungen hält?

Vielleicht ist es eine Täuschung, wenn wir uns versichern, dass wir nie vergessen werden. Das Vergessen ist ein grosser Meister. Auch das Erinnern, das Bilder häutet, Bilder schluckt und verändert, ist eine Form des Vergessens. Die Erinnerung ist ein Brennglas, das Glas brennt Bilder ein, blendet aus, was ausserhalb der Bilder ist. Das Brennglas bestimmt, was bleibt, eingebrannte Lebensstücke, nicht das ganze Leben. Das Leben bleibt unauffindbar.

Schmetterlingskind. Die Haut ist filigrandünn, zerreisslich wie die Flügelhaut des Schmetterlings. Nicht leuchtend wie die ausgespannten Flügel, nur schutzlos wie sie. Lea braucht das Wort nie, es ist ihr zu leicht, zu verheissungsvoll. Sie weiss, dass ihr Leben als Schmetterlingsfrau kein Schmetterlingsleben ist.

Ich habe Lea gesagt, dass ich ihre Fragen dem Fluss überbringen will; sie hat ihn geliebt. Aber der Fluss hält keine Antworten bereit. Nur immer neue Fragen.

Das Bootshaus sieht am Ende des Sommers verlassen aus, die Planen für das Vordach sind weg, die Leute vom Bootsfahrverein haben alles geräumt. Nur der Kater Graupp ist noch da, er streicht mir um die Füsse, er hat Hunger. Er ist der letzte, der geblieben ist. Im Sommer waren es fünf oder sechs Katzen. Sie waren immer da, wenn Feste gefeiert wurden, wenn die Bootsfahrer zu singen begannen und ihnen ein paar Fleischbrocken zuwarfen. Unten schaukelt ein einsamer Kahn im Fluss, der fast stillsteht; er hat eine silberne Haut. Man kann jeden Stein am Flussgrund sehen. Auch die beiden Schwäne sind wieder da, sie sind schon heimisch geworden, sie stelzen die Treppe hoch und besetzen das Revier. Für sie ist es ein Anfang, wenn die Menschen gegangen sind.

aus «Der Schmetterling schläft», Waldgut Verlag

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmäßig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013). Peter Weibel lebt in Bern.

Peter Weibel „Der Schmetterling schläft“, Waldgut

Es sind 34 Fragmente über das Sterben und den Tod einer Ehefrau. Leas Leben als Schmetterlingsfrau war kein Schmetterlingsleben. Nichts von Leichtigkeit, nichts von farbiger Lebensfreude. Und ihr Mann, der Schreibende, ist verdammt zuzuschauen und sich all den Fragen zu stellen, die nicht zu beantworten sind.

Lea leidet unter der Hautkrankheit „Epidermolysis bullosa dystrophica“, der Schmetterlingskrankheit. Was fast lieblich klingt, ist eine unheilbare, langwierige und äusserst schmerzhafte Krankheit. Der Leidensweg einer Patientin für einen nicht Eingeweihten fast nicht nachvollziehbar. Ein Buch darüber lesen? Warum sollte ich mich dem aussetzen? Muss sich der Schmerz nicht unweigerlich in mir fortsetzen?

“Der Schmetterling schläft“ ist eine Liebesgeschichte. Ein Wehklagen eines Zurückgelassenen. Und weil Peter Weibel der Schöpfer dieser Fragmente ist, ist es alles andere als eine Krankengeschichte. Der Erzählende vermisst seine Frau Lea. Auch wenn die letzten Jahre ein langes Ringen im Schmerz waren. Ein Wechsel von absoluter Verzweiflung und inniger Liebe bis zu jenen Tagen, in denen Lea in einem Hospiz hinüberschläft, ihre kranke Haut genauso zurücklässt, wie einen hadernden Gatten. Auch lange nach dem Sterben erinnert alles an Lea, an die Liebe, die unsägliche Nähe trotz einer Krankheit, die körperliche Nähe fast unmöglich machte. In diesem Text brennt so viel Liebe, dass ich ihn ganz langsam zu lesen begonnen habe. Einzelne Fragmente wie Liebeserklärungen immer wieder. Man ist dem Autor und seinen Gedanken so nahe, dass man Nähe körperlich zu spüren scheint.

«Schmetterlingskind. Die Haut ist filigrandünn, zerreisslich wie die Flügelhaut des Schmetterlings. Nicht leuchtend wie die ausgespannten Flügel, nur schutzlos wie sie. Lea braucht das Wort nie, es ist ihr zu leicht, zu verheissungsvoll. Sie weiss, dass ihr Leben als Schmetterlingsfrau kein Schmetterlingsleben ist.»

Sicher, dieses Buch liest man nicht in der Badewanne, nicht im proppenvollen Zug und nicht so schnell schnell zwischen zwei Schmökern. „Der Schmetterling schläft“ ist wie ein verzweifeltes Zwiegespräch mit einem Gegenüber, das ewig stumm geworden ist, deren Gegenwart aber in allem bleibt. Ein literarisches Kleinod in wunderschöner Gestalt.

Das beim Waldgut Verlag in Frauenfeld erschienene Büchlein ist keine gewöhnliche Drucksache. Das spürte man gleich, wenn man das Kleinod in Händen hält. Fast alles ist von Hand gemacht; der Bleisatz, Handpressendruck, die Papier- und buchbinderische Arbeit. Eine Besonderheit in der Bücherwelt. Eine Tatsache, die grössten Respekt verdient!

Ebenfalls 2016 erschienen ist Peter Weibels Gedichtband „Nachricht an das Leben“:

Aus den Trümmern Worte bauen
aus den Worten Widerstand
aus dem Widerstand vielleicht den neuen Menschen
und vielleicht Hoffnung
und aus der Hoffnung wieder Häuser
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Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmäßig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013). Peter Weibel lebt in Bern.

Informationen zum Verlag

Rezension zu Peter Weibels „Mensch Keun“, edition bücherlese auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau

Peter Weibel «Ohne diese Worte»

Im Kellergeschoss einer alten Fabrik in Frauenfeld kämpft der Waldgut Verlag gegen die Verdrängung. Wären da nicht Idealisten wie der bald 80jährige Verleger, Lyriker und Schriftsteller Beat Brechbühl, nähme man stillen Dichtern wie Peter Weibel die Stimme. Blei-Handsatz und Tiegeldruck. Wer mit der Hand übers Papier streift, spürt!

Titelfoto: Sandra Kottonau

Peter Weibel «Mensch Keun», edition bücherlese

Hannes ist alt und lebt abseits eines Dorfes. Nur noch selten geht er den Weg hinunter ins Dorf, weg von seinem Haus. Hannes ist Holzbildhauer, Künstler, schnitzt, haut, meisselt und raspelt seinen Mensch Keun, eine mannshohe Figur, die sich erhebt. Der Erzählung vorangestellt ist der Satz «Für Hannes – und für die unbekannten anderen, denen die Kraft zum Aufstehen fehlt.» Hannes steht auf, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Hannes sieht, was aus dem Holz werden soll, schon lange bevor die Figur und ihre Details sichtbar werden. Während die Erinnerungen an seine Frau, die der Krebs zerfrass, die er bis zuletzt in seinem Haus in den Tod begleitete, bleiben, dieses Gefühl von Einsamkeit, des Verlassen-werdens. Mensch Keun steht als Verwundeter, Gefallener wieder auf, so wie Hannes, der immer offensichtlicher mit den Tücken des Alltags zu kämpfen hat. Auch wenn ihm Judith, seine Tochter alle zwei Wochen zur Hand geht, Ordnung in das ins Stolpern und Stocken geratene Leben bringt und Nora, die Frau von der Pflege, die immer ein offenes Ohr hat, ihre Hilfe nicht als mechanisches Verrichten versteht. Überall im Haus hängen kleine, von Hand geschrieben Zettel. Sätze, die Hannes nicht einfach dem Vergessen preisgeben will. Erinnerungen daran, dass das Leben und die kleinen Verrichtungen des Lebens in ein grösseres Ganzes gehören, dass man leicht aus den Augen verliert. Aber die Besuche der Pflegerin Nora werden immer seltener, so wie alles immer weniger wird, auch die Sicherheit darüber, dass Mensch Keun jemals fertig  wird. Ob die Kraft ausreichen wird, seine Aufgabe zu beenden. Hannes humpelt seinem Leben immer mehr hinterher, immer mehr allein gelassen, umgeben vom Sterben, den schwindenden Kräften. Erst recht, als Übereifer und «Pflichterfüllung» das drohende Gespenst der Heimeinweisung zu einem handgreiflichen Überfall werden lassen und Hannes niederzustrecken drohen. Aus dem Former Hannes, umgeben von seinen Figuren und den Spänen auf dem Boden, wird ein in sich zerfallenes Häufchen Elend im Rollstuhl.

Peter Weibel macht die Entwurzelung eines alten Mannes zur literarischen Kampfschrift. Aber es ist eine Kampfschrift der leisen Töne. So wie der Holzbildhauer Hannes ins Wesen des Holzes hineinschlüpft, so sehr schlüpft Peter Weibel in den alten Mann Hannes. Er versteht ihn auch dann noch, wenn Alter, Verwirrung und Gebrechen ein altes Leben fast unerreichbar werden lassen. Peter Weibel beweist unendlich viel Feingefühl, sowohl für die Sprache, wie auch für den Menschen Hannes, seinen Mensch Keun, der sich wieder aufrichtet, dem während des Lesens alle Sympathie entgegenströmt. Aber auch sein Verständnis darin, aus einem Stamm Holz einen kunstvollen Körper entstehen zu lassen – so als ob Peter Weibel im Schreibtisch Holzhammer und Stechbeitel liegen hätte. Peter Weibel schreibt engagiert und trotzdem unaufgeregt, mit Distanz und grosser Empathie, auch wenn Wortmeldungen jener, die sich wegen Hannes Schicksal in die Haare geraten hölzern und steif wirken.

«Mensch Keun» ist ein Kunst- und Schmuckstück, nicht zuletzt, wenn man es in Händen hält. Die Verlegerin Judith Kaufmann gab der Erzählung einen Einband wie ein Stück Holz. Wer das Büchlein in Händen hält, fährt wie Hannes über das Holz von Mensch Keun. Ein Buch, das mitten ins Herz zielt.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemein praktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmäßig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013). Peter Weibel lebt in Bern.