Lamia Berrada-Berca «Kant und das kleine rote Kleid», Pendo

Sie wohnt noch nicht lange in Paris und traut sich mit dem langen schwarzen Gewand mit Sehschlitz nicht über eine imaginäre Grenze hinaus. Sie sorgt für ihr Kind und das Wohlbefinden ihres Mannes, der abends nach Hause kommt und nachts auf ihr schnauft.

«Du wirst glücklich werden in Paris», versprach er, als sie sich zusammen mit der kleinen Tochter auf den Weg nach Europa machten. Zumindest für sie konnte es dort in der fremden Metropole nur besser werden. Als man sie wie die meisten jungen Frauen in ihrem Heimatland mit einem Fremden verheiratete, hörte sie auf zu existieren. Was blieb, war der neue Schatten, den die Burka seitdem auf den Boden warf, die Erinnerung an eine in unendliche Ferne gerückte Kindheit und der Schmerz über eine Familie, die sie an einen Fremden verkaufte.
Wenn der Ehemann zur Arbeit aufgebrochen und ihre kleine Tochter auf dem Weg zur Schule ist, stülpt sich die Einsamkeit wie eine zweite schwarze Hülle über sie. Bis zu diesem einen Tag, als sie ihre Einkäufe erledigt und im Schaufenster einer Boutique nicht weit von der Métrostation Couronne ein rotes Kleid ausgestellt sieht. Rot ist die Farbe des Südens. Die Farbe der Leidenschaft. So weit weg vom Schwarz, das alles schluckt und überstülpt.
Es dauert Tage, bis sie sich in den Laden traut und ihre Finger den roten Stoff erspüren, der sich wie eine Verheissung anfühlt. Gleichsam erschütternd ist ein kleines Büchlein, das sie in dem Haus, in dem sie wohnen auf der gleichen Etage vor der Wohnung gegenüber vor der Türe findet. Zeichen einer fremden Welt, die sie umgibt und die sie nicht einlässt, denn die Mutter des kleinen Mädchens, das in der Stadt zur Schule geht, kann nicht lesen und versteht die Sprache des fremden Landes kaum. So macht sie ihre Tochter zu ihrer Verbündeten, zeigt ihr das Kleid in der Boutique Chez Héloise und bittet sie, aus dem Büchlein vorzulesen. «Was ist Aufklärung» von Immanuel Kant. Ausgerechnet. Sie hört ihrer Tochter zu, die langsam liest, versucht mit einem Wörterbuch zu verstehen. Sätze wie «Es ist so bequem, unmündig zu sein.» oder «Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen.»

Es beginnt ein Kampf. Auch um dieses rote Kleid in der Boutique, den Wunsch, es zu kaufen, zu tragen. Aber mehr noch ein Kampf mit sich selbst, die kleinen, schweren Schritte einer Befreiung. Sie, die sonst die Welt drüben und draussen nur durch einen Schlitz im Schwarz sehen kann, die jene Welt und deren Augen schützen muss vor der Sünde, die ihr Körper mit sich trägt, ist allein. Alles, was ihr helfen könnte, ist für ihren Mann Bedrohung, Verbündeter einer schlechten, verachtenswerten Welt. Ihr Mann spürt die Bedrohung. So wie sie, seine Frau, sich in kleinen Schritten befreit, entfernt sich ihr Mann.

«Kant und das kleine rote Kleid» ist ein spezielles Buch. Weniger die Geschichte einer äusseren, aber die einer inneren Flucht, bei der das Rot des Kleides wie ein Leuchtfeuer brennt. Eine Geschichte, die viel Dramatik birgt, manchmal allzu sehr plakativ und reichlich konstruiert wirkt. Trotzdem lohnt sich die Lektüre, weil es einen Blick zeigt, der sonst verborgen bleibt. Wir leben zwar alle auf dem gleichen Planeten, durch die Globalisierung in beängstigende Nähe gebracht – und trotzdem nebeneinander und unvereinbar voneinander getrennt. Gut vorstellbar, dass sich die Autorin mit diesem Buch, dieser Darstellung «keinen Gefallen tut». Dafür mir, der vorsichtiger wird. Erst recht bei den emotionalen Diskussionen um ein «Verhüllungsverbot».

Das Motto Lamia Berrada-Bercas, der Tochter eines Marokkaners und einer Französin mit schottisch-afrikanischen Wurzeln, stammt von Cioran: »Wir wohnen nicht in einem Land, sondern in einer Sprache.« In ihren preisgekrönten Romanen erkundet sie neben den Gefühlswelten ihrer Figuren auch die Herausforderungen, die sich uns durch die Emanzipation und unsere Freiheit als Individuum stellen. Lamia Berrada-Berca setzt sich zudem seit Jahren mit grossem Elan für Frauenrechte ein.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Literaturzirkel im Juli: «Der erste Tag vom Rest meines Lebens»

Seit Jahrzehnten treffen wir uns zehn mal im Jahr, manchmal im Gasthaus, manchmal bei jemandem zuhause und reden über ein gemeinsam gelesenes Buch. Einziges «Gesetz»: Niemand hat das Buch schon gelesen, für alle ist es «Neuland». Ein Risiko, denn es sind nicht immer Perlen, an die man so gerät. Diesmal war es «Der erste Tag vom Rest meines Lebens» von Lorenzo Marone, keine Perle, aber doch ein süsses Früchtchen.

Das Buch, das in Italien zum Bestseller wurde, heisst im Original «La tentazione di essere felici», was den Nerv des Buches viel eher trifft, als das Versprechen, das mit dem deutschen Titel im Buch nicht eingelöst wird. «Die Versuchung, glücklich zu sein», die wörtliche Übersetzung des Originaltitels allerdings wäre auch kein Titel eines Buches, das ins Auge gestochen wäre. Lorenzo Marones Buch ist Lesefutter für Ferien auf Badetüchern. Ein Buch, das man auch in leicht schläfrigem Zustand lesen kann, süffig, voll mit Klischees.
Cesare ist 77, allein in seiner Wohnung, auf Distanz zu seinen beiden Kindern, zieht Bilanz, schaut zurück, ist entschlossen, dem Rest seiner Tage die Stirne zu bieten. Obwohl viel vorgenommen, ist aus seinen grossen Lebensplänen nicht viel geworden, selbst der Draht zu den Kindern ging verloren. Seine Frau ist seit Jahren tot, der Gang zu Rossana, deren Beischlaf er bezahlt, zur Routine geworden. Von seinen einst hochfliegenden Träumen ist wenig aufgegangen. Seine Methode, mit den Enttäuschungen des Lebens umzugehen: Ironie und Sarkasmus. Das kommt bei seinen Mitmenschen nicht immer gut an, weder bei seiner Tochter, aus der eine Anwältin geworden ist, noch bei seinem Sohn, der sich ein ganzes Leben nicht traute, ehrlich zu sein. Bis die hübsche Emma in die Nachbarwohnung zieht und sich schnell zeigt, dass irgendetwas nicht stimmt mit ihr und ihrem Mann. Cesare geht noch einmal in die Offensive, mischt sich nicht nur ins Leben und die Ehe seiner misshandelten Nachbarin ein, sondern mischt das ganze Haus auf.
Um einen Mann zu beschreiben, der auf der Zielgeraden nicht einfach bloss ausrollen will, wäre weniger mehr gewesen. Ich las das Buch gerne und mit Vergnügen, aber die Grenze zum Kitsch wurde zu oft überschritten, die Dichte an Klischees eindeutig überreizt; die Katzenfrau in der Nachbarschaft, der verlorene Sohn, die Wiederversöhnung in der Familie, die Wucht der Alten, Rossana, die vom Beikraut zur Blume wird… Dabei beginnt der Roman mit einem Paukenschlag: «Mein Sohn ist schwul.» Der erste Satz. Cesare ahnt es nur, liegt seiner Tochter mit Vermutungen in den Ohren, bis die verschwiegene Wahrheit mit anderen Wahrheiten wie eine Lawine über den alten Mann einbricht. Da wäre Stoff gewesen. Erst recht vor der Kulisse des römisch katholischen Italiens. Gerettet hat das Buch, dass Lorenzo Marone der Geschichte jenen Schluss gab, den es braucht, auch wenn die Grenze des Wohlgefallens wieder arg strapaziert wurde.
Fazit: Es ist wie mit Wein. Ich liebe es, wenn der kleine Schluck jeden Nerv in meinem Gaumen zu kitzeln vermag. Aber manchmal tut es auch ein leichter, leicht süsslicher Rosé.

145442842-25183ea6-dcca-4189-8916-32759949921a[1]Lorenzo Marone, geboren 1974 in Neapel, arbeitete fast zehn Jahre lang als Anwalt in seiner Heimatstadt, bis er sich ein Herz fasste, den ungeliebten Beruf an den Nagel hängte und sich seiner wahren Leidenschaft widmete: dem Schreiben. Sein erster Roman eroberte die Herzen der italienischen Leser im Sturm und erntete begeisterte Rezensionen.

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Das nächste Buch, dass wir lesen, ist «Wir brauchen neue Namen» von NoViolet Bulawayo. Die afrikanische Autorin «beschwört die Abenteuer eines Mädchens an einem unwirtlichen Ort Afrikas, verleiht ihrer Heldin dabei eine einzigartige Stimme, die trotz allem beharrlich Lust am Leben versprüht. Und am Ende steht eine Geschichte, deren Reizen man sich nicht entziehen kann – saftig und bittersüß, genau wie Darlings geliebte Guaven.»