Literaturzirkel im Juli: «Der erste Tag vom Rest meines Lebens»

Seit Jahrzehnten treffen wir uns zehn mal im Jahr, manchmal im Gasthaus, manchmal bei jemandem zuhause und reden über ein gemeinsam gelesenes Buch. Einziges «Gesetz»: Niemand hat das Buch schon gelesen, für alle ist es «Neuland». Ein Risiko, denn es sind nicht immer Perlen, an die man so gerät. Diesmal war es «Der erste Tag vom Rest meines Lebens» von Lorenzo Marone, keine Perle, aber doch ein süsses Früchtchen.

Das Buch, das in Italien zum Bestseller wurde, heisst im Original «La tentazione di essere felici», was den Nerv des Buches viel eher trifft, als das Versprechen, das mit dem deutschen Titel im Buch nicht eingelöst wird. «Die Versuchung, glücklich zu sein», die wörtliche Übersetzung des Originaltitels allerdings wäre auch kein Titel eines Buches, das ins Auge gestochen wäre. Lorenzo Marones Buch ist Lesefutter für Ferien auf Badetüchern. Ein Buch, das man auch in leicht schläfrigem Zustand lesen kann, süffig, voll mit Klischees.
Cesare ist 77, allein in seiner Wohnung, auf Distanz zu seinen beiden Kindern, zieht Bilanz, schaut zurück, ist entschlossen, dem Rest seiner Tage die Stirne zu bieten. Obwohl viel vorgenommen, ist aus seinen grossen Lebensplänen nicht viel geworden, selbst der Draht zu den Kindern ging verloren. Seine Frau ist seit Jahren tot, der Gang zu Rossana, deren Beischlaf er bezahlt, zur Routine geworden. Von seinen einst hochfliegenden Träumen ist wenig aufgegangen. Seine Methode, mit den Enttäuschungen des Lebens umzugehen: Ironie und Sarkasmus. Das kommt bei seinen Mitmenschen nicht immer gut an, weder bei seiner Tochter, aus der eine Anwältin geworden ist, noch bei seinem Sohn, der sich ein ganzes Leben nicht traute, ehrlich zu sein. Bis die hübsche Emma in die Nachbarwohnung zieht und sich schnell zeigt, dass irgendetwas nicht stimmt mit ihr und ihrem Mann. Cesare geht noch einmal in die Offensive, mischt sich nicht nur ins Leben und die Ehe seiner misshandelten Nachbarin ein, sondern mischt das ganze Haus auf.
Um einen Mann zu beschreiben, der auf der Zielgeraden nicht einfach bloss ausrollen will, wäre weniger mehr gewesen. Ich las das Buch gerne und mit Vergnügen, aber die Grenze zum Kitsch wurde zu oft überschritten, die Dichte an Klischees eindeutig überreizt; die Katzenfrau in der Nachbarschaft, der verlorene Sohn, die Wiederversöhnung in der Familie, die Wucht der Alten, Rossana, die vom Beikraut zur Blume wird… Dabei beginnt der Roman mit einem Paukenschlag: «Mein Sohn ist schwul.» Der erste Satz. Cesare ahnt es nur, liegt seiner Tochter mit Vermutungen in den Ohren, bis die verschwiegene Wahrheit mit anderen Wahrheiten wie eine Lawine über den alten Mann einbricht. Da wäre Stoff gewesen. Erst recht vor der Kulisse des römisch katholischen Italiens. Gerettet hat das Buch, dass Lorenzo Marone der Geschichte jenen Schluss gab, den es braucht, auch wenn die Grenze des Wohlgefallens wieder arg strapaziert wurde.
Fazit: Es ist wie mit Wein. Ich liebe es, wenn der kleine Schluck jeden Nerv in meinem Gaumen zu kitzeln vermag. Aber manchmal tut es auch ein leichter, leicht süsslicher Rosé.

145442842-25183ea6-dcca-4189-8916-32759949921a[1]Lorenzo Marone, geboren 1974 in Neapel, arbeitete fast zehn Jahre lang als Anwalt in seiner Heimatstadt, bis er sich ein Herz fasste, den ungeliebten Beruf an den Nagel hängte und sich seiner wahren Leidenschaft widmete: dem Schreiben. Sein erster Roman eroberte die Herzen der italienischen Leser im Sturm und erntete begeisterte Rezensionen.

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Das nächste Buch, dass wir lesen, ist «Wir brauchen neue Namen» von NoViolet Bulawayo. Die afrikanische Autorin «beschwört die Abenteuer eines Mädchens an einem unwirtlichen Ort Afrikas, verleiht ihrer Heldin dabei eine einzigartige Stimme, die trotz allem beharrlich Lust am Leben versprüht. Und am Ende steht eine Geschichte, deren Reizen man sich nicht entziehen kann – saftig und bittersüß, genau wie Darlings geliebte Guaven.»