Eisberge! Sie waren wirklich da, die langersehnten Gesellen der antarktischen Meere!
Der Mann muss vor Freude laut gerufen haben, als er nach Monaten auf See am Abend des 29. Dezembers 1911 endlich wieder Land entdeckte. Er hatte seine Familie in Basel zurückgelassen und ein behütetes Leben. Er hatte alles gegen die Eisberge getauscht. Der Vater sei ein Tyrann gewesen, heisst es im Vorwort, aber das sagte oder schrieb der Mann, der auszog für das Abenteuer, in seinem Tagebuch an keiner Stelle. Der Zug hält und ein Junge steigt ein. Er setzt sich mir gegenüber ins Abteil. In seinen Armen trägt er ein Kaninchen. Die Leute, die bereits sitzen, drehen ihre Köpfe. Der Junge legt das Kaninchen auf seinen Bauch und seine von der Kälte rot geworden Hände auf das Kaninchen. Das Kaninchen schnüffelt, seine Schnurbarthaare bewegen sich wie Antennen. Es klettert vom Bauch über die Brust hinauf und lässt dort die Schnurbarthaare über das Gesicht des Jungen tanzen. Die anderen Leute, die ebenfalls in den Zug eingestiegen sind, legen ihre Mäntel, Mützen, Halstücher und Handschuhe ab. Erst da bemerken sie den Jungen mit dem Kaninchen, drehen ihre Köpfe. Ein Flüstern geht um, ein Starren, ein Kopfschütteln. Der Junge hat nebst dem Kaninchen einen Rollkoffer bei sich. Seine Kleider sehen nicht aus wie für den Winter gemacht. Auf der Ebene vor dem Fenster liegt Nebel. Die Grashalme unter dem Nebel müssen Kämme tragen aus Eis, wenn man darüber geht, brechen sie. Durch den Nebel kommt die Sonne. Ein Mann summt das Lied vom Aschenputtel, als es mit seinem Pferd über die Wiese galoppiert. Schneestaub fliegt auf. Der Junge, das Kaninchen und ich schauen zusammen aus dem Fenster. Als der Junge aussteigt, lese ich weiter in meinem Buch. Ich will nicht aufschauen, ich will mich nicht verabschieden. Ein Kind fragt seinen Vater, ob es denn wahr sei, dass alle Menschen aus Sternenstaub bestehen.
An Neujahr hüte ich Schafe. Es sind die Schafe einer Freundin, die vor dem Feuerwerk in die Berge geflüchtet ist. Die Schafe sind im Stall, der Schäfer, seine Hunde und sein Esel sind ausgestorben. Draussen herrscht eine moderige Kälte. Vom Feuerwerk wird die Luft staubig, hat die Freundin gesagt, die Bändel an ihrem Rucksack festgezurrt. Das hielte sie im Kopf nicht aus. Ich sitze im Stall, im Heuhaufen. Vor dem Fenster leuchtet Neujahrsfeuerwerk. Hier ist alles weit weg, nur das Kauen der Tiere ist nah und die Wärme ihrer Körper. Nach Mitternacht liege ich auf der Bank neben dem alten Specksteinofen, die Füsse am heissen Stein, der Nasenspitz und die Hände kalt. Verschiedene Männer gehen am Fenster vorüber, aber die Fenster sind beschlagen. Ich lese weiter in meinem Buch, von jenem Mann, der verschollen ist in der Antarktis, am Anfang des letzten Jahrhunderts. Es gibt eine Frau, die schrieb über einen Mann, der ist verschollen am Khan Tengri. Die Expedition war viel zu spät für diese Jahreszeit. Der Mann wollte sich von seinen Erfrierungen selber befreien. Auf dem Heimweg auf seinem Pferd erlag der Mann der Kälte. Die Frau schrieb über den Mann und die Kälte. Sie erlag weder dem einen noch dem anderen. Sie stürzte vom Fahrrad und kein Schnee war da, sie aufzufangen.
Ein Kind fragt seinen Vater, was der Unterschied ist zwischen dem Nordpol und dem Südpol. Er sagt, am Nordpol gibt es kein Land. Ein Kind fragt seinen Vater, wem gehört der Nordpol. Er sagt, niemandem. Aber am Nordpol gibt es Eisbären und Robben. Ich schaue nicht auf, obwohl es Morgen geworden und ein Kind mit seinem Vater am Haus vorbei gegangen ist. Ein Mann schreibt am 1. Januar 1912 in sein Tagebuch. Im Süden unser Ziel, der antarktische Kontinent, versteckt hinter unendlich viel Eis. Der Süden erglänzte hell, golden und weiss. Verheissungsvoll schien die Gegend, doch kalt und einsam. In einem Jahr werde ich dieses Eisland besser kennen. Wie werden Ruhe, Kälte und Einsamkeit auf mich wirken? Ich frage den Mann, ob er mich mitgenommen hätte, als Frau. Ich hätte mich als Mann verkleiden können. Beim Rasieren hätte er vielleicht meine zarten Hände gespürt, aber alle Zartheit wäre durch mein junges Alter erklärbar gewesen. Der Mann sagt, das sei zu kompliziert, die Geschichte so zu erzählen. Es sei sowieso schon alles kompliziert genug. Das Land der Hoffnung, also der siebte Kontinent, könne nicht mehr warten, er wolle endlich besichtigt, betreten werden. Und als Erster ankommen, das sei wichtig für die Verewigung. Ich sage, woher weisst du denn, Himmel nochmal, dass all die Männer, die du mitgenommen hast, tatsächlich Männer waren? Es gab eine, ihre Freunde nannten sie – Alaska! Eisberge, schau! Ruft der Mann und zeigt aus dem Fenster. Und da sehe ich sie auch. Die langersehnten Gesellen der antarktischen Meere.
Noëmi Lerch, 1987 geboren in Baden, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und an der Universität Lausanne. Sie war Redakteurin beim Schweizer Magazin für Reisekultur Transhelvetica. Seit 2014 arbeitet sie zusammen mit der Cellistin Sara Käser im Duo Käser & Lerch. 2015 erschien ihr erstes Buch »Die Pürin« im verlag die brotsuppe. Noëmi Lerch lebt in Aquila, im Tessin. Ihr zweiter Roman «Grit» erschien 2017. Noemi Lerch liest in der Lesereihe «Wortklang – Klangwort» zusammen mit dem Musikerduo STORIES im Theater 111 in St. Gallen.