Lone liegt auf der Intensivstation im Koma. Ein unerklärlicher Frontalzusammenstoss auf gerader Strecke mit einem Traktor. Eine Frau, eine Hebamme, die immer alles direkt angegangen ist, wird mit einem Mal lebensgefährlich ausgebremst. Iulia, ihre jüngere Schwester, eigentlich Bankkauffrau, nimmt die Tasche ihrer Schwester und fährt zu den Frauen, die auf Lone warten.
Vielleicht müsste man diesen Roman mit einem Warnschild versehen. „Für alle Frauen, die unmittelbar vor einer Geburt stehen, ist die Lektüre dieses Romans ungeeignet.“ Aber in einer Zeit, in der Frauen ihre Kinder eh bestens vorbereitet, eingelesen und vorgewarnt bekommen und Geburten kaum noch einfach geschehen lassen, werden all jene bestätigt, denen Gebärstationen wie Durchlauferhitzer erscheinen.
Lone ist nicht mehr Hebamme in einem Spital, schon länger nicht mehr. Als sie es noch war, schied sie mit Gepolter aus und machte sich selbstständig. Kein leichtes Unterfangen, wenn Geburtshäuser und freie Hebammen um ihr Überleben kämpfen müssen, weil Versicherungen nicht bereit sind, das Risiko mitzutragen. Ein Risiko, das untrennbar zu einem ganz natürlichen Vorgang gehört. Lone ist dann da, wenn Mütter nicht mehr ins Schema passen, wenn die Angst die Freude auf das Kind verdeckt. Lone ist auch dann da, wenn alle Stricke reissen und Grenzen überschritten werden müssen. Vor allem für jene, die sie auf ihrer Liste hat, auf jener Liste, die Iulia in die Hände bekommt, vor der sie ahnt, dass das Warten der Frauen einer Not entspringt.
Iulia ist verheiratet mit Niels. Und Niels ist Pfarrer. Iulia weiss, dass sie eine Rolle zu spielen hat; jene der Mutter, jene der Ehefrau, jene der Gemahlin eines Pfarrers und jene der Bankfrau, zwischen Schalter und Direktion. Während Lone auf der Intensivstation liegt und niemand weiss, was von jener Lone bleiben wird, die sie einmal war, während der Vater und die Stiefmutter am Bett der Patientin wachen und eigentlich erwarten, dass Iulia auch die Rolle, der sich sorgenden Schwester am Bettrand zu spielen hätte, besucht Iulia die verwaiste Wohnung ihrer Schwester, um festzustellen, dass das abrupt unterbrochene Leben ihrer Schwester im Gegensatz zu ihrem eigenen Leben aus lauter Notwendigkeiten besteht. Dass Frauen, Familien auf sie warten, sie brauchen. Iulia packt die Taschen ihrer Schwester, setzt sich in ihr Auto und klappert die Adressen ab, nach denen sie erst eine Weile suchen muss.
Zwei Schwestern. Aus dem gleichen Stall. Mit fast identischen Vorzeichen. Zwei Leben, die einst ganz nah waren und sich immer mehr ins Gegensätzliche verloren. Aber Lone ist Iulias grosse Schwester, das grosse Gestirn an ihrem Himmel, ein Fixstern. In Iulias wohlgeordnetem Leben ist die chaotische Komponente der Schwester ein Gegengewicht. Aber in dem Moment, als Lone im Spital zu schwinden droht, bricht Iulias filigranes Gefüge in sich zusammen; der Beruf, die Ehe, sogar das Bild der perfekten Familie.
Bin ich, was ich will? Kenne ich die Menschen, die mir am nächsten sind? Ist das Gegenteil von Ordnung wirklich Chaos? Wie weit schnüre ich mich selbst ein und fürchte mich vor den kleinsten Ausbrüchen? Weiss ich, was ich will? Mareike Krügel stellt die grossen Fragen, die man allzu oft mit Bedacht verdrängt, weil sie uns herausfordern. Weil sie Risiko bergen. Weil sie Konsequenzen haben könnten. „Schwestern“ ist ein Roman über die Liebe. Nicht zuletzt über jene zu sich selbst. Und das Eingeständnis, sich verrannt zu haben. Ikarus lehrt uns, nicht allzu weit hinauf zu fliegen. Aber aus lauter Angst, beim Fliegen die Federn zu verlieren und dabei den Boden nie zu verlassen, das darf es nicht gewesen sein. Iulia beginnt zu fliegen.
Interview
Meine Frau und ich haben fünf Kinder. Schön, dass sie mittlerweile zwischen 26 und 36 sind und die Kurve geschafft haben. Auch wenn sich die Erinnerungen an die intensive Familienzeit verklären, spätestens dann, wenn man ein Wochenende zusammen mit den beiden Enkelkindern verbracht hat, weiss man wieder, wie es gewesen sein muss, damals.
Deshalb ist mein Verständnis gross, dass sie nicht einfach Schubladen voller Texte haben, meine Bewunderung aber ebenso gross, dass dann aber in hoher Kadenz doch immer wieder ein Buch von Ihnen erscheint. Wie schaffen Sie die Mehrfachbelastung? Gäbe es eine Mareike Krügel ohne das Schreiben?
Die Mehrfachbelastung macht mir deutlich zu schaffen, das muss ich zugeben. Es mangelt mir allerdings nicht an Schreibzeit – das ist eher eine Frage der Disziplin und Organisation, denn Stunden hat der Tag eigentlich genug. Es mangelt mir an Denkzeit. Gute Romane müssen nicht nur vorausgedacht und sorgfältig konstruiert werden – finde ich jedenfalls -, sondern brauchen viel Reifezeit, in denen der Stoff und die Figuren sich setzen oder entwickeln können. Wenn mir dann ständig das Leben dazwischenkommt und das Gehirn keine Musse hat, stecke ich schnell fest.
Meine Lösung ist, mich in möglichst reizarmer Umgebung aufzuhalten. Schleswig-Holstein ist dafür der ideale Ort. Hier ist es derart langweilig, dass meine Fantasie keine Konkurrenz durch die Realität bekommt.
Ob es mich ohne das Schreiben gäbe, weiss ich nicht. Das müsste ich wohl ausprobieren, und vermutlich wäre ich überrascht. Aber ich bilde mir ein, das Schreiben, wie auch das Lesen, Zuhören und Erzählen, zu brauchen. Mein Drang zu schreiben und mich in Geschichten aufzuhalten, wird jedenfalls mit zunehmenden Alter nicht weniger, sondern eher mehr.
„Schwester“ ist eine Liebesgeschichte an die Schwester. Aber auch eine Liebesgeschichte an einen Beruf, den der Hebamme. Lore ist mehr als eine Hebamme. Oder vielleicht das Abbild dessen, was Hebamme einmal war. Nicht wie heute eingekeilt in eine perfektioniertes Gesundheitssystem, Krankenkassen und Versicherungen, idealisierter Geburt und der schwindenden Risikobereitschaft aller. Ist die Hebamme eines der Opfer einer industrialisierten Gesundheitsmaschinerie?
Eine Gesundheitsmaschinerie hat sich in meinen Augen definitiv entwickelt, aber sie erscheint mir nicht industrialisiert. Im Endeffekt stehen an allen entscheidenden Stellen Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, nach bestem Wissen zu helfen und zu heilen. Sie alle stehen unter Druck, aber sie profitieren auch von verbesserten Strukturen und evidenzbasierten Vorgaben. Ich bin höchst dankbar für das Gesundheitssystem und die Krankenkassen. Es gibt nur immer eine Kehrseite, die man nicht wegreden darf und an der unermüdlich verbessert werden sollte.
Hebammen spüren diese zwei Seiten der modernen Medizin ebenfalls. Sie können sich absichern, sind eingebunden in ein System, das ihnen einen Platz einräumt, und müssen nicht mehr ausserhalb oder sogar in Konkurrenz dazu stehen. Das ist auch eine gute Entwicklung. Ich glaube, das der Beruf der Hebamme sehr romantisiert wird – Hebammen haben durchaus aktiv an den düsteren Kapiteln der Medizingeschichte mitgewirkt.
Vielleicht ist Lone also eher ein Abbild dessen, was eine Hebamme sein könnte, was diesen Beruf auch heute oder womöglich eben gerade heute auszeichnet. Wenn man das im Blick behält, kann man vielleicht die Gratwanderung schaffen zwischen medizinischer Absicherung und individueller Gesundheit.
Lore und Iulia (Warum nicht Julia?) sind ungleiche Schwestern. Schwestern, die sich durch ihre Ungleichheit aus den Augen verloren, deren Leben keine Überschneidungen mehr kannte. Brüder und Schwestern sind etwas Seltsames. Man kann sie sich nicht aussuchen. Und selbst wenn man sich verloren hat, selbst wenn man sich hasst, bleibt eine Verbindung. Iulia kehrt zu ihrer Schwester zurück, auch wenn nicht direkt an ihrer Seite. Sie transformiert sich, bricht auf. Ist ihr Buch eine Ermunterung?
Ich habe keine Intention beim Schreiben eines Buches ausser der, eine Geschichte zu erzählen und Antwortmöglichkeiten auf meine eigenen Fragen zu suchen. Gerne darf man diesen Roman aber als Ermunterung verstehen, sich mit der – wie Sie es treffend nennen – seltsamen Verbindung auseinanderzusetzen. Sich ihrer bewusst zu werden. Wenn eine Figur innerhalb eines Familien-Systems sich verändert, verschiebt sich das ganze System. Oft auch im Erwachsenenalter, wenn die Familienmitglieder schon längst ganz eigene Leben führen.
Als vor einigen Jahren mein Bruder starb, habe ich die Person, die seine Freunde mir beschrieben, kaum erkannt. Er war ausserhalb der Herkunftsfamilie ein ganz anderer Mensch. Diese Erfahrung hat mich sehr beschäftigt und auch demütig gemacht. Iulia bekommt im Roman die Chance, ihre Schwester auf neue Art kennenzulernen, und dabei verändert sich ihr Blick auf sich selbst. Auch sie ist schliesslich nicht festgelegt auf eine einzige Rolle oder ein Lebensmuster, auch wenn ihre Herkunft sie das lange hat glauben lassen.
(Iulia wird mit I geschrieben, damit der Bezug zu ihrer Namenspatronin, der Tochter des Augustus, deutlich wird, und auch, damit der Name eine Umständlichkeit hat, ein Hindernis, das ihr quasi von ihren Eltern mitgegeben wurde, während ihr Bruder – Justus – die Schreibweise zugewiesen bekam, die nie buchstabiert werden muss.)
Iulia ist die Frau eines Pastors. So brav, angepasst und untergeordnet, dass es zusammen mit ihrem Beruf als adrett gekleidete Bankfachfrau fast karikiert anmutet. Ihr Mann ist ein gänzlich guter Mann, Vorbild einer ganzen Gemeinde. Und sie mit ihm ebenso dazu verdammt. Ist man als Mutter nicht auch verdammt?
Diese Frage bringt mich zum Lachen, weil sie so direkt ist. Kann man es besser formulieren? Ich glaube nicht. Man ist als Mutter verdammt. Oder als Elternteil womöglich, denn auch das Vatersein bringt ja einen Haufen an gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen mit sich, und wer auch nur einen Hauch Perfektionismus in sich hat, kann schnell das Gefühl bekommen, verdammt zu sein. Aber wie bei der Rolle der Pastorenfrau oder des Pastors selbst liegt auch eine Befriedigung darin, die Sache eben gut zu machen. Ein grosses Problem des Mutter- oder Vaterseins liegt für mich darin, dass die Bestätigung so gut tut, dass sie süchtig machen kann. Dann wird das Gute-Mutter-Sein zum Selbstbild. Fast möchte ich jeder Familie wenigstens ein Kind wünschen, das so viel Persönlichkeit mit auf die Welt bringt, dass es die Eltern ganz schnell von dem Trugschluss kuriert, wer ein braves Kind hat, hat alles richtig gemacht.
„Schwester“ ist kein Buch für junge Leute, die die Absicht haben, Kinder zu bekommen, die eine undefinierbare Angst vor Spitalluft mit sich tragen und Risiko möglichst minimieren wollen. Bräuchte ihr Buch nicht den Warnhinweis „Für alle Frauen, die unmittelbar vor einer Geburt stehen, ist die Lektüre dieses Romans ungeeignet.“?
Ich selber kann mich gut erinnern, dass die einzigen Romane, die ich vor den Geburten meiner Kinder lesen mochte, die von Jane Austen waren. Für alles andere war ich zu empfindlich. Ich bin zuversichtlich, dass Menschen, die unmittelbar davor stehen, ein Kind zu bekommen, spätestens wenn Iulia die Intensivstation betritt, das Buch zur Seite legen und sich andere Lektüre suchen.
Im Übrigen hatte ich vor der Geburt meines Sohnes nur eine einzige Bekannte, die mir ganz offen von ihren Geburten erzählte. Ich war schockiert und überzeugt, dass sie eine Ausnahme sein musste. Denn nicht einmal im Vorbereitungskurs war etwas anderes als euphemistische Umschreibungen zu hören für das, was drumherum und im Fahrwasser einer Geburt so alles passiert. Ich glaube fest, dass in der Möglichkeit, viele Geschichten zu dieser existentiellen und höchst individuell empfundenen Situation zu hören oder zu lesen, die Chance liegt, Selbstvertrauen zu entwickeln und handlungsfähig zu bleiben, wenn es schwierig wird. Eine gute Geburt ist eine, während der sich weder Väter noch Mütter ausgeliefert gefühlt haben.
Das Leben besteht aus verpassten Chancen und Möglichkeiten. Was tun Sie dagegen?
Ich schreibe Romane. Etwas anderes fällt mir nicht ein. In den Zeiten, in denen ich nicht schreibe, trauere ich den verpassten Chancen hinterher, hadere und nerve meinen Mann, ohne zu merken, dass ich gerade weitere Chancen verpasse. Ich ertrage das alles einigermassen, indem ich den Figuren in meiner Fantasie erlaube, etwas zu erleben.
Mareike Krügel wurde 1977 in Kiel geboren. Seit 2003 hat sie vier Romane veröffentlicht. Sie lebt bei Kappeln. Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet.
Rezension von «Sieh mich an» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Peter von Velbert