H. D. Walden (Linus Reichlin) «Ein Stadtmensch im Wald», Galiani

Es ist noch gar nicht lange her, als die Wege in den Wäldern leer blieben und der blaue Himmel ohne einen einzigen Kondensstreifen. Damals glaubte ich naiv an eine neue „Zeitrechnung“, eine Zäsur.  In der Zeit davor wurden Stimmen nach einer Umorientierung im Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten immer lauter und eine junge schwedische Aktivistin faszinierte mit ihrer Unerschrockenheit selbst die Hartgesottenen.

Vom Gefühl des Aufbruchs ist nichts geblieben, dafür einem fatalistischen Gefühl der Resignation gewichen. Warum soll man sich an den Köstlichkeiten der Gegenwart nicht bedienen! Nicht Geiz ist geil, sondern Trotz. Die Wälder sind wieder voll mit Turnschuhen und der Himmel ebenso mit Kondensstreifen Richtung Happytime.

Damals zwang uns ein klitzekleines Virus zu Alternativen. Es zwang uns, Prioritäten zu überprüfen. Genauso wie die Abertausenden von Demonstrierenden, die auf den Strassen lautstark ein Umdenken forderten. Von dem allem ist wenig geblieben. Von Pandemien will sich niemand mehr die Pläne durchkreuzen lassen und den Klimaprotest überlässt man jenen mit Klebstoff an den Händen!

D. H. Walden (alias Linus Reichlin) «Ein Stadtmensch im Wald», Galiani, 2021, 112 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-86971-242-0

Als der Virus wütete, zog sich der Schriftsteller Linus Reichlin in eine Hütte im Wald zurück. Nicht aus Verzweiflung, aber mit Sicherheit, um Abstand vom grassierenden Wahnsinn zu bekommen. In das kleine Haus einer Freundin, in die stille Welt des Ruppiner Wald- und Seengebiets. Ein paar Wochen, nicht wie der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau, der 1854 in seinem Buch „Walden“ zwei einsame Jahre im Wald beschrieb, seinen Versuch, aus einer Welt auszusteigen, in der die Folgen der Industrialisierung und zunehmenden Distanz zu einem wahren, echten und naturnahen Lebens für den Autor immer schwerer auszuhalten war.

Linus Reichlins Buch ist kein Bericht eines Aussteigers, sondern das Protokoll eines Erwachens. Im Wald alleine mit sich selbst beginnt der Autor zu sehen. Der Wald ist nicht mehr nur Kulisse und „Naherholungsgebiet“. Linus Reichlin lernt den Stimmen des Waldes zu lauschen. Tiere sind nicht mehr nur Staffage, sondern Gegenüber. So sehr, dass er Namen geben muss, mit ihnen spricht und zu verstehen versucht. Glücklicherweise ist „Ein Stadtmensch im Wald“ weder Lehrstück noch Anklage, weder Romantisierung noch Überzeichnung. „Walden“ von Henry David Thoreau damals wurde zum Kultbuch einer ganzen Bewegung, in der Literaturgeschichte zu einem Massstab des „nature writings“.

Linus Reichlin beschreibt ohne den Ansporn, in diesem Stück Welt im Wald ein alternatives Leben zu finden. Seine Zeit im Wald ist eine Selbstbesinnung, ein vorsichtiger, manchmal unbeholfener Versuch, sich mit den Regeln und Gesetzmässigkeiten der Natur zurechtzufinden. Auch wenn etwas mehr Auseinandersetzung wünschbar gewesen wäre, weil das Buch so schnell zur netten Nachttischlektüre werden kann, liest sich das illustrierte Büchlein mit Genuss. Vielleicht ist ein solches Büchlein ein Anfang.

Interview

Als Reichlin-Leser ging das Buch zuerst an mir vorbei. Erst als ich für Ihren aktuellen Roman „Der Hund, der nur englisch sprach“ im Netz recherchierte, stiess ich auf „Ein Stadtmensch im Wald“ bei dem aber der Name H. D. Walden auf dem Cover geschrieben steht. Den Link zu „Walden“ von H. D. Thoreau erschloss sich schnell. Aber warum steht nicht ihr Name auf dem Buchdeckel?
Das hängt damit zusammen, dass in derselben Saison ein anderes Buch von mir im selben Verlag erschien. Der Verlag hielt es deshalb für besser, das eine Buch unter Pseudonym zu veröffentlichen. Ausserdem wollten meine Verleger durch die Wahl des Pseudonyms einen Bezug zu H.D. Thoreau herstellen – worüber man sich streiten kann. Denn mein Buch ist ja keine Zivilisationskritik, sondern ein Bericht über eine Naturerfahrung. 

Sie bedienen mit Ihrem Buch eine Sehnsucht vieler; für einmal, wenn auch nur zeitlich beschränkt, aus dem Trott und gewohntem Umfeld ausbrechen. Irgendwie sind Ferien ausserhalb der Wohnung ja auch stets ein solches Experiment. Aber viele nehmen dabei allen erdenklichen Luxus mit, um doch nicht verzichten zu müssen, worauf man glaubt, nicht verzichten zu können. Aber liegt nicht genau in der Reduktion, im Verzicht die einzige Chance, verschlossene Türen zu öffnen?
Wenn man sich die Situation unserer Vorfahren anschaut, über einen langen historischen Zeitraum, sieht man, dass die allermeisten dieser Menschen auf die geringsten Annehmlichkeiten verzichten mussten und unter ständigem Mangel litten. Erst seit etwa 100 Jahren können wir es uns überhaupt leisten, auf die Idee zu kommen, dass Verzicht uns Türen öffnen könnte. Es steht natürlich jedem frei, auf Luxus und fliessendes warmes Wasser zu verzichten in der Hoffnung, dadurch eine nützliche Erfahrung zu machen. Ich hingegen bin der Meinung, dass wir soviel Luxus wie nur möglich so lange geniessen sollten, wie es ihn noch gibt – und ich glaube nicht, dass unser Wohlstand ewig währen wird. Mit meinem Buch wollte ich nicht Verzicht predigen, sondern einen Städter schildern, der die ihm zuvor eher unbekannte Natur kennenlernt – ohne dass er deswegen das Leben in der Natur für erstrebenswerter hält als das Leben in der Stadt.

Es scheint nicht, dass von Beginn weg die Absicht bestand, aus dem coronabedingten Abenteuer ein Buch zu machen. Wenn dem so ist; wann merkt man, wann merken Sie, dass aus einem begonnen Schreibexperiment ein Buch werden will?
Sie haben recht, die Absicht, aus meiner Erfahrung ein Buch zu machen, entstand erst, als ich schon nicht mehr unter Hirschen, Waschbären und Rehen lebte. Die Gründe sind auch ganz unromantisch: Als professioneller Schriftsteller und Journalist lebe ich davon, über meine Erfahrungen zu berichten. Es folgte also zunächst ein Essay für das Magazin des Tages-Anzeigers über das Leben im Wald, und aus dem Essay wurde ein Buch. 

Alle Ihre Romane, auch der aktuelle „Der Hund, der nur englisch sprach“ haben eine starke philosophische Komponente. Ausgerechnet in diesem Buch halten Sie sich aber aus meiner Sicht ganz ordentlich zurück. Thoreau hielt sich bei seiner Kritik an der Gesellschaft gar nicht zurück. Sie wollten auch kein Coronabuch schreiben.
Zu meinen schönsten Erlebnissen im Wald gehörte das Anlegen einer Futterstelle, mit der ich – nebenbei gesagt – die Wildschweine und Hirsche von den Kirrplätzen der Jäger weglocken wollte: Eine kleine, vielleicht naive Rebellion gegen die Auswüchse des Jagdwesens. Jedenfalls gelang es mir, sozusagen ein gutgehendes Waldrestaurant zu eröffnen, wo sich nachts Wildschweinmütter und ihre Frischlinge, Hirsche, Marder, Dachse usw. trafen. Über eine Wildkamera konnte ich diese Tiere beobachten, und sie wuchsen mir mit der Zeit ans Herz. Ja, daran war nichts Philosophisches, das stimmt. Es war einfach nur das, was es war. Ich bin sicher, hätte Thoreau sich wirklich mit der Natur beschäftigt, anstatt – übrigens nicht in der Wildnis, wie immer gesagt wird, sondern in einem bequemen Landhaus ein paar Meilen ausserhalb der nächsten grossen Stadt – sein Buch zu schreiben, wäre er zu einem differenzierteren Urteil über die Zivilisation gekommen.  

Ist jener Linus Reichlin, der mit Sack und Pack in den Wald zog, ein anderer als der Linus Reichlin heute?
Ich glaube, während der Pandemie waren wir alle ein wenig anders? Es war, im Nachhinein betrachtet, eine sehr merkwürdige Zeit, und insofern bin ich heute sicherlich ein anderer als damals. 

Ist nicht jedes Buch, jedes Eintauchen in einen Stoff eine Art Reise in eine unbekannte Gegend, einen Wald mit Stimmen und ganz verschiedenen Bewohnern?
Das ist tatsächlich das für mich Faszinierende am Schreiben: Wenn einem die Wirklichkeit nicht genug ist, kann man sich hinsetzen und sich in einer Geschichte verlieren. Das ist allerdings leider eine Ansicht, die aus der Mode gekommen ist. Früher entführten die Schriftsteller ihre Leser in andere, fremde Welten, und die Leser folgten ihnen neugierig. Mir scheint, dass heute eher die Schilderung der bereits bekannten, alltäglichen Welt verlangt wird. Der Roman als Selfie der Leser, sozusagen. Oder um es etwas überspitzt zu sagen: Komme ich nicht drin vor, interessiert mich der Roman nicht. Also leider das Gegenteil einer «unbekannten Gegend», wie Sie es nannten.  

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung) gewählt. Es folgten die Romane «Das Leuchten in der Ferne» (2012), «In einem anderen Leben» (2014), «Keiths Probleme im Jenseits» (2019), «Señor Herreras blühende Intuition» (2021) und zuletzt «Der Hund, der nur Englisch sprach» (2023). 

Rezension «Manitoba«

Beitragsbild © Birgit Juergens

Linus Reichlin «Der Hund, der nur Englisch sprach», Galiani

Linus Reichlin bewegt sich in seinen Romanen entweder ganz und gar in der Wirklichkeit oder wie in seinem neusten Buch in den Zonen knapp darüber  – oder darunter. „Der Hund, der nur Englisch sprach“ ist eine durchaus ernst gemeinte Konfrontation mit einer traumatischen Wirklichkeit.

Meinen Ausführungen zum neuen Roman von Linus Reichlin vorausschicken muss ich, dass ich weder Hunde noch Katzen die meinigen heisse und auch nie die Absicht hegte, mir ein solches Haustier anzuschaffen. Meine Vorbehalte Haustieren gegenüber, die befugt sind, eine Wohnung zu ihrem Lebensraum zu machen, wirken sich auch in meinem Leseverhalten aus. Hunde- und Katzenbücher schaffen es normalerweise nicht in meine Wohnung, schon gar nicht in die Beige jener Bücher, die ich mir fix zur Lektüre ausgesucht habe. Aber weil „Der Hund, der nur Englisch sprach“ von Linus Reichlin geschrieben wurde, gestand ich ihm 50 Seiten zu  – und blieb dann an der Lektüre hängen.

Eine meiner Tanten hatte die Angewohnheit, mit ihrem Dackel, den sie nach jedem Ableben durch einen neuen ersetzte und ihm den immer gleichen Namen gab, zu sprechen, als wäre er ein Kind. Und wenn ich zu Besuch war und sie zu diesem kurzbeinigen Tier sagte „Komm zu Mama“, konnte meine Aversion leichte Übelkeit hervorrufen. Glücklicherweise hat keiner der Dackel geantwortet. Ganz im Gegenteil der Hund in Linus Reichlins Roman.

Linus Reichlin «Der Hund, der nur Englisch sprach», Galiani, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-86971-285-7

Felix Sell hat sich mässig in seinem Leben eingerichtet. Und weil es an der Zeit ist, einen neuen Akzent zu setzen, beginnt er erst einmal bei einem Regal in seiner Wohnung. Ganz überraschend findet er dabei in den Tiefen seiner Plattensammlung einen vergessenen LSD-Tripp, den er auch gleich einwirft. Und kaum beginnt das Zeug zu wirken, kratzt es an der Tür zu seiner Wohnung. Und weil das Kratzen nicht aufhört, öffnet er, meint erst, einer Halluzination zum Opfer gefallen zu sein, bis neben seinen Beinen ein Hund in seine Wohnung schlüpft mit der Aufforderung „I’m all dry. Get me some water.“ Erst sucht Felix nach dem Besitzer der Stimme, bis sich unzweifelhaft die Gewissheit herausschält, dass es der Hund ist, der ihn in seiner Berliner Wohnung Englisch anspricht. Ein Hund! Und weil sich der Hund partout nicht aus seiner Wohnung vertreiben lässt, beschliesst er die Wirkung seines Tripps abzuwarten und zu akzeptieren, dass sich da ein Hund in sein Leben mischt. 

Der Hund weiss ziemlich genau, was es will und fordert hartnäckig, dass Felix ihn nach Florida bringen soll, zu seinen Friends. Und weil selbst nach der budgetierten Wirkungsdauer der Droge verständlich bleibt, was der Hund will und weil ihn erklärte Besitzer zu jagen beginnen, weil es nicht ungelegen kommt, dass man ihn aus seinem Leben buxiert und ihn der Hund aus seiner Reserve zwingt, rutscht Felix in einen wilden Tripp durch die Wirklichkeit, hinein in seine Vergangenheit mitten in eine völlig ungewisse Zukunft. Unausgesprochen oder nicht – Felix ist in seinen Grundfesten erschüttert, erst recht, als ihm zu dämmern beginnt, dass sich verschwörerische Absichten hinter all den Zufälligkeiten verbergen könnten.

Wir sind es gewohnt, dass wir als Krönung der Schöpfung den Lauf der Dinge bestimmen. Alles andere ist wie das Wetter; Zufall und den Gesetzen der Natur verpflichtet. Aber was geschieht mit all den Gewissheiten, wenn ein Hund die Fragen stellt, wenn ein Hund eine Zukunft verspricht. Linus Reichlin spinnt eine amüsante Geschichte mit mehrfachem Boden, ein Roman, der mit viel Amüsement das „Was wäre wenn“ zu einer Geschichte formt, die einen überraschenden Sog entwickelt – auch für LeserInnen, die ihre Zeigefinger überkreuzen würden, würde man ihnen ein Buch mit Hund empfehlen!

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Krimidebüt «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung) gewählt. Es folgten die Romane «Das Leuchten in der Ferne» (2012), «In einem anderen Leben» (2014), «Keiths Probleme im Jenseits» (2019) und zuletzt «Señor Herreras blühende Intuition» (2021).

«Manitoba», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Claudio Bader

Linus Reichlin «Keiths Probleme im Jenseits», Galiani

Ein Versprechen aus der Vergangenheit zwingt Fred, alles stehen und liegen zu lassen, um seinem Freund Ben, der mittlerweile Promiarzt in Kalifornien ist, in Not beizustehen. Fred tut es wirklich, obwohl sein Leben nicht das eines Kompromisslosen ist. Ben fährt ihn auf eine Insel mitten im Meer. Auf eine Insel, auf der die Musikgeschichte neu geschrieben werden soll.

Fred ist Lehrer, Buchautor und bald sechzig. Einem seiner Bücher über Quantenphysik schenkte der Zufall hohe Verkaufszahlen und sogar eine Übersetzung ins Amerikanische. Fred ist Single und braucht Bildschirm und Decknamen, um mit dem weiblichen Geschlecht in Kontakt zu kommen. Seine Arbeit als Lehrer von gelangweilten Teenagern, die nicht akzeptieren können, dass sich das Universum nicht um sie dreht, ödet ihn an. Das einzige, was ihn wirklich am Leben hält, ist seine Liebe zur Musik. So lässt er sich mit seiner Coverband an Hochzeiten, Geburtstagen und Scheidungsfeten engagieren. Sein grosses Idol ist Keith Richards, Leadgitarrist und Songwriter der Rolling Stones, der Mann mit Stirnband, exzessivem Leben und einem Gesicht, in dem jede Falte ein Leben erzählt.

Ausgerechnet bei einem Date mit einer Internetbekanntschaft erfährt Fred, dass Keith Richards gestorben sein soll. Etwas, was nicht sein soll, denn Fixsterne gehen nicht unter. Aber als sich die Befürchtung bestätigt, ist Fred der Ruf seines alten Freundes von der anderen Seite des grossen Wassers gerade recht, auch wenn ihn sein Musikfreund aus seiner Coverband mit dem Ende seiner Freundschaft droht, sollte er nicht rechtzeitig zum Engagement an einer Scheidungsparty sein.
Fred fliegt und wird von Ben, dem Arzt und Lynn seiner Begleitung empfangen. Aber statt helfen, statt irgend einer Not die Stirn bieten zu können, zwingt ihn Ben, eine 5-Millionen-Schweigeverpflichtung zu unterschreiben im Hinblick auf all das, womit er konfrontiert werden wird. Auf der Insel, die nur mit Taxibooten erreicht werden kann, stehen zwei Häuser. Ein grosses und ein kleines. Und während in den Medien die Beerdigung Keith Richards in allen Einzelheiten verfolgt wird, behaupten die beiden Ärzte Lynn und Ben, dass sich im Obergeschoss des Haupthauses Keith Richard von seinem Sterben erhole.

Fred, der sich mit Fragen der Wahrscheinlichkeit auseinandersetzt, scheint es nicht verwunderlich, dass eben jene Wahrscheinlichkeit ausgerechnet sein Idol aussuchte, um ihn vor der Sterblichkeit zu retten. Aber was für eine Rettung, wenn man zu einem Leben in einer Parallelwelt verbannt ist, wenn man seiner Bedeutung als Meilenstein in der Musikgeschichte nicht ins Fundament krachen will und dieses zerbröseln könnte, wenn man der bleiben will, der man über Jahrzehnte geworden ist, nicht dieser eine, der von den Toten auferstanden ist. Was für eine Rettung, wenn man als Toter nicht einmal mehr an die Millionen auf Bankkonten herankommt, wenn man Erinnerung bleiben will, eine gute Erinnerung und kein Untoter.

«Es gibt nur eine einzige Säule, auf der das Leben ruht, und diese Säule heisst Wahrscheinlichkeit.»

Fred soll helfen Probleme zu lösen, weil Fred an die Wahrscheinlichkeit glaubt. Und Fred ist mit auf der Insel, wie sein Leben eine leere Schublade ist und sie nun endlich mit Bedeutung gefüllt werden soll. Erst recht, als Fred den Gang ins verbotene Obergeschoss wagt und sieht, dass da wirklich Keith Richards sitzt, mit den Füssen in einer Plastikwanne. Fred und Keith freunden sich an, weil irgendwann beide gleichzeitig eine Gitarre in Händen halten, für Keith genauso wie für Fred das Tor zu einer neuen Welt, einer Welt mit unbegrenzten Möglichkeiten. Beide soll die Musik retten, Fred aus seiner Bedeutungslosigkeit, Keith aus seinem Dasein auf einer Insel im Nirgendwo.

Linus Reichlin erfindet sich mit jedem seiner Romane neu. «Keiths Probleme im Jenseits» sprudelt vor Ideen und Skurrilitäten. Zugegeben, ich war mir bei der Lektüre nicht immer sicher, ob Linus Reichlin den Bogen nicht überspannt. Aber vielleicht ist das meine helvetische Lesart eines helvetischen Schriftstellers, der so gar nicht tut, womit ich gerechnet hätte. Linus Reichlin nimmt mich mit an den Pool von Jonny Depp, an den Tisch mit Don Was, dem Musikproduzenten von Bob Dylan, Joe Cocker oder Elton John, weit, weit weg von den Kleinbürgersorgen um Termine, in eine Welt zwischen Schein und Sein, zwischen Traum und Trauma.
Es braucht für die Lektüre jenen Funken Wahrscheinlichkeit, den man jeder möglichen Wendung des Lebens geben muss!

Ein Interview mit Linus Reichlin:

Sie schreiben einen Roman über die Wahrscheinlichkeit. Eine Geschichte, in der ausgerechnet jener, der an sie mehr als nur glaubt, scheitert. Sie ziehen Schubladen, die sonst tunlichst verschlossen bleiben, um ein Leben, das eine leere Schublade ist, mit Leben zu füllen. Ihr Schreiben muss ein ziemliches Abenteuer gewesen sein!

Es gab zwei Phasen: In der einen schrieb ich ein Jahr lang eine erste Fassung, die absoluter Mist war, völlig misslungen. Danach schrieb ich in drei Monaten fast in einem einzigen Atemzug die zweite Fassung, an der dann keinerlei Korrekturen mehr notwendig waren. Der Stoff war schwierig, weil er mit dem dramaturgischen Maximum beginnt. Der Produzent Samuel Goldwyn sagte mal, das Rezept für eine gute Geschichte sei: «Mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern». Das war hier genau das Problem, aber es ist gelöst!

Fred ist ein Einsamer. Ausgerechnet zu seinem Idol, das fast ein ganzes Leben unerreichbar schien, dass wegzusterben drohte, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Geben und Nehmen. Aber auch sie scheitert. Träume scheitern, die Liebe scheitert. Was scheitert nicht?

© Susanne Schleyer

Wir werden geboren, und unweigerlich sterben wir. Man kann also von einem grundsätzlichen Scheitern sprechen. Aber zwischen all dem Scheitern gibt es ja auch immer Momente des Glücks, des Gelingens, der Zuneigung. Fred und Keith erleben wunderschöne Momente, in denen ihnen grossartige Songs gelingen, und Fred selbst ist ein Mensch, der selbst mit prekären Situationen gut zurecht kommt. Dass der Held am Ende scheitert, liegt vielleicht auch an David Bowies Geist, wer weiss …

Sie überraschen mit jedem ihrer Romane. Es gibt kein Reichlin’sches Thema, die immer gleichen Fragen, die sie kreisen lassen. Sie scheinen sich als Schriftsteller stets neu zu erfinden. Birgt das nicht auch eine Gefahr, nämlich jene, die treue Leserin, den treuen Leser zu erschrecken?

Doch, die Gefahr gibt es durchaus. Aber man verändert sich mit der Zeit, wieso also sollte man stets über die gleichen Themen schreiben? Ich bin jetzt in einer Phase, in der es mich interessiert, originelle Stoffe mit philosophischem Hintergrund auf witzige Weise zu beschreiben. Ich bin auf der Suche nach einem Humor, der aus der Tiefe kommt, so zu sagen einem nachdenklichen Lachen. «Keith» ist das erste Buch aus dieser Serie. 

Nichts ist unmöglich, schon gar nicht das Scheitern. Aber nur aus Angst dort zu verweilen, wo man sich eine sicher geglaubte Existenz eingerichtet hat, das scheint nicht ihr Plan zu sein. Wo lag die Uridee, der Urgedanke ihres Romans?

Die Idee kam auf unübliche Weise. Ich erwachte morgens und hatte fast die ganze Geschichte schon im Kopf. Normerweise dauert es Wochen, bis eine Geschichte konzipiert ist, hier nicht. Sobald Keith Richards und der Tod so zu sagen zusammenkamen, entwickelte sich die Geschichte ganz von selbst. Das Schreiben war anfangs schwierig, kein Wunder bei einem solchen Thema, aber die Ideenfindung nicht.

Sie lieben Musik und kennen sich aus. Man begegnet vielen Namen und noch viel mehr Musiktiteln. Wenn man sich beim Schreiben so sehr in der Welt der Musik bewegt, hört man dann auch die entsprechende Musik?

Natürlich! Es sind fast ausschließlich Lieblingssongs von mir, die erwähnt werden. Ich bin zur Musik der 70er aufgewachsen, das war ein großes Glück, denn die Musik jener Zeit war außergewöhnlich gut, und es gab eine Menge hervorragender Musiker; David Bowie, die Stones, Hendrix, Joplin, Lou Reed, Led Zeppelin – lauter Ausnahmetalente. Und für mich eine der zentralen Figuren war und ist Keith Richards. Er verkörpert diese Zeit wie kein anderer.

Vielen Dank!

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für seinen in mehrere Sprachen übersetzten Debütroman «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er den Deutschen Krimi-Preis 2009. Sein Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Kategorie Unterhaltung) gewählt. Über seinen Eifersuchtsroman «Er» schrieb der Stern: »Spannend bis zur letzten Minute«. 2014 erschien «Das Leuchten in der Ferne», ein Roman über einen Kriegsreporter in Afghanistan. 2015 folgte der Roman «In einem anderen Leben», 2016 «Manitoba».

Rezension von Linus Reichlins «Manitoba» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Linus Reichlin «Manitoba», Galiani

In irgendeiner Weise werden Indianer immer zu Helden. Wohl am meisten bei Kindern in Geschichten, Bilder von Indianern, später aus Filmen und noch später gar mit angelesen Ideologiefetzen. So sehr das Indianersein verklärt und glorifiziert wird, so sehr leidet der Indianer selbst an der Wirklichkeit.

«Ein Urgrossvater, dessen Identität nicht zweifelsfrei feststand, konnte mir keine Heimat sein; wenn es um Herkunft ging, konnte man nicht sagen ich glaube, Herkunft musste eindeutig sein.»

Er, der erzählt, weiss nicht wirklich, warum er die Reise in den us-amerikanischen Norden, nach Washakie im Bundesstaat Wyoming macht, erst recht nicht mehr, nachdem er von der Reise zurückgekehrt zu schreiben beginnt, unsicher darüber, ob mehr gewonnen oder nicht viel mehr das wenige zerstört wurde. Zum einen war da die Recherche, ein paar Wochen abgeschiedenes Leben in einer Hütte im kanadischen Manitoba, zum andern die Lust nach Klarheit über eine Familienlegende, nach der die Urgrossmutter einen stolzen indianischen Krieger vom Stamm der Arapaho zum Mann nahm und er nun als Achtelindianer wissen wollte, ob nachzuforschen sei, was aus dem verlorenen Familienteil geworden war. Andererseits war die Reise eine Flucht vor den emotionalen Wirren um die Trennung von seiner Frau Hanna. «Wie konnten sich zwei Menschen, die ihr Innerstes in gemeinsame Schwingungen versetzen konnten, nicht mehr lieben? Ich weiss es nicht. Aber wir konnten es. Wir konnten einander nicht mehr lieben.» Und dann noch sein ebenfalls schreibender Sohn, der mit seinem Erstling jenen Erfolg hatte, der ihm zu fehlen schien.

9783869711317Ein Mann, der sich abkoppelt, nun auf der Suche nach Herkunft, weil die Gegenwart zu kollabieren drohte, auf den Spuren seiner Herkunft, die letztlich auch nicht durch Stammbäume und Gentechnik zu klären sind. Und nicht zuletzt eine Flucht mit Fluchthelfern, Tabletten gegen Herzrhythmusstörungen, Hilfe für einen aus dem Tritt geworfenen, der als Preis dafür mit langen, heftigen und fremden Träumen zu kämpfen hat. Vater und Sohn weit voneinander entfernt, verbrüht durch Verletzungen, falsch verstanden und im entscheidenden Moment alleine gelassen. Für mich als Leser vielleicht eine der stärksten Szenen im Roman: Der Vater früher zurück aus den Staaten an der Preisverleihung zu Ehren seines Sohnes schlussendlich sitzen gelassen, weil die Festgesellschaft ohne ihn weitergezogen war.

«Manitoba» ist jenseits aller Rührseeligkeit auch ein Buch über die Begegnung mit Indianern, die unter dem Deckmantel der Missionierung von Menschen mehr als nur zu leiden hatten. Vielleicht auch von der aus der innerschweizerischen Enge geflohenen Urgrossmutter des Erzählers. Indianer, die für ihr Anderssein bestraft wurden. In nordamerikanischen Schulen, in der die Urgrossmutter unterrichtete, schon dafür, dass die Kinder heimlich in der Sprache ihrer Eltern flüsterten. Was waren die Beweggründe jener Frau damals? Warum reiste sie wenige Jahre später wieder zurück ins Stauffacherdorf Steinen im Kanton Schwyz? Während er fährt, nachfragt und sucht, liest er Urgrossmutters spätes Tagebuch, einen niedergeschriebenen Erklärungsversuch, den sie als alte Frau kurz vor ihrem Tod niederschrieb und Quell vieler neuer Geheimnisse wurde.

Linus Reichlin spannt den Bogen von Steinen bis in die Wälder Kanadas, von den Alteingesessenen hier und da. Ein Buch über die Hoffnung nach klärender Distanz und distanzierter Klärung, ein Protokoll des Schreibens und Scheiterns, darüber, dass eben doch nur Geschichten ein Ende haben.

autor_1312Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für seinen in mehrere Sprachen übersetzten Debütroman »Die Sehnsucht der Atome« erhielt er den Deutschen Krimi-Preis 2009. Sein Roman »Der Assistent der Sterne« wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010/Kategorie Unterhaltung gewählt. Über seinen Eifersuchtsroman »Er« schrieb der Stern »Spannend bis zur letzten Minute«. 2014 erschien »Das Leuchten in der Ferne«, ein Roman über einen Kriegsreporter in Afghanistan – »das ist große Literatur, und dann auch noch spannend erzählt« (FAZ).