Leon de Winter «Stadt der Hunde», Diogenes – Wortlaut St. Gallen

Jaap hat alles erreicht. Die Welt liegt ihm zu Füssen. Er ist ein Abräumer, ein Sieger. Bis seine Tochter mit ihrem Freund auf ihrer ersten grossen Reise spurlos verschwindet. Bis Jaap erfahren muss, dass das Schicksal sich einen Deut um die Erwartungen eines Siegers kümmert. Bis ein Hund ihm den Weg zeigt.

Jaap Hollander ist ein gefragter Gehirnchirurg, wahrscheinlich einer der besten in seinem Fach. Aber so aussergewöhnlich sein Talent mit dem Skalpell, so hölzern und wenig empathisch seine Beziehungen. Frauen sind Objekte der Selbstbestätigung, Projektionsflächen seiner Libido. Kein Wunder ist es dann eine Krankenschwester, die Mutter ihrer gemeinsamen Tochter wird, eine Beziehung, die allerdings den Belastungen einer innerfamiliären Katastrophe nicht standhält. Ihre gemeinsame Tochter Lea, auf ihrer ersten grossen Reise allein mit ihrem Freund Joshua, verschwindet spurlos in Israel, weit weg von zuhause, in der Wüste Negev. Obwohl eine grossangelegte Suchaktion gestartet wird, bleibt diese erfolglos.

Erst recht nach seiner Pensionierung fährt Jaap jedes Jahr um die immer gleiche Zeit in die Wüste Negev zu dem einen Stein, auf dem er die beiden Namen der beiden spurlos Verschwundenen eingravieren liess. In das immer gleiche Hotel, auf den immer gleichen Strassen zu dem Ort, an dem sich die Spuren seiner einzigen Tochter verloren. Sein Schmerz um diesen Verlust ist ihm das einzige, das geblieben ist, das einzige, was zählt. Auch wenn er weiss, dass diese Endlosschlaufe auch das war, was seine Frau damals, die Mutter seiner Tochter, aus dem Haus vertrieb. Sie ist nicht geblieben. Stellvertretend dafür die grosse leere Villa in Holland, die trotz aller Umbauarbeiten nie zu einem Zuhause wird.

Leon de Winter «Stadt der Hunde», Diogenes, 2025, aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer, 272 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-257-07281-5

Bei einem dieser jährlich wiederkehrenden Ausflüge in die Wüste Negev kommt es zur Begegnung mit einem Hund, einem Wesen, das ihn aus einer anderen Welt zu betrachten scheint. Gleichzeitig, mittlerweile sind es zehn Jahre seit dem Verschwinden seiner Tochter und ihrem Freund, erreicht ihn die Bitte des israelischen Ministerpräsidenten persönlich, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er brauche seine Hilfe. Was will das israelische Staatsoberhaupt von einem pensionierten Gehirnchirurgen? In grösster Geheimhaltung wird ihm mitgeteilt, dass sie einzige Tochter des saudischen Prinzen an einer Missbildung im Gehirn leidet, die jederzeit das noch junge Leben auslöschen kann. Aber weil der saudische Prinz beabsichtigt, seine Tochter dereinst zur ersten weiblichen Nachfolgerin in seinem Land zu machen, eine Revolution von oben, ist Jaap Hollander die einzige Hoffnung, die der Zukunft der jungen Frau und ihres Heimatlandes geblieben ist. Jaap soll operieren, auch wenn die Chancen auf Erfolg verschwindend klein sind.

Selbst wenn die Operation nicht gelingen sollte, würde Jaap so viel Geld verdienen, dass er ein Team von Archäologen damit beauftragen könnte, das noch unerforschte Höhlensystem am Ort des Verschwindens seiner Tochter zu finanzieren, erst recht, würde die Operation gelingen. Es würde eine Chance geben, endlich Klarheit zu schaffen, der einen grossen Frage seines Lebens eine Antwort entgegenzustellen.

Mag sein, dass „Stadt der Hunde“ jenen Leserinnen und Lesern nicht genügt, die wie ich sonst mit dem Bleistift lesen, die auf der Suche sind nach Sätzen, die bleiben, Szenen, die sich einbrennen. Leon de Winter ist ein Geschichtenerzähler. Einer, der sein ganzes Können einzusetzen weiss, wie eine Geschichte gebaut werden muss, dass ich als Leser auf seiner Spur bleibe. Versteckt baut der Meister der Spannung ein, was uns durch die Medien permanent mit Wirklichkeiten konfrontiert; ein Jude im Spannungsfeld zwischen arabischer Tradition und nahöstlicher Filigranität. „Stadt der Hunde“ ist ein Roman über einen Mann, den das Schicksal prügeln muss, um sich dessen bewusst zu werden, was Leben ausmacht. „Stadt der Hunde“ ist ein Roman über einen Mann, der alles erreicht und doch nichts gewonnen hat. Aber auch ein Roman darüber, dass es Wirklichkeiten gibt, die weder mit dem Skalpell wegzuschneiden, noch mit feinster Technik lokalisierbar zu machen sind.

Wie ich mich freue über die Begegnung mit dem Schriftsteller beim Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen, weil es Leon de Winter meisterhaft versteht, mich als Leser zu überraschen, die Grenzen des Wahrscheinlichen auszuloten.

Leon de Winter, geboren 1954 in ’s-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den ›Welt‹-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für «Das Recht auf Rückkehr» ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen bei Diogenes «Ein gutes Herz» (2013) und «Geronimo» (2016).

Stefanie Schäfer studierte Dolmetschen und Übersetzen an den Universitäten Heidelberg und Köln. Für herausragende übersetzerische Leistungen wurde sie mit dem Hieronymusring ausgezeichnet. Sie lebt in Köln.

Beitragsbild © Marco Okhuizen

Leon de Winter «Geronimo», Diogenes

Ich gebe zu, ich kaufe und lese jedes Buch von Leon de Winter, auch wenn sich die Presse mockiert über seinen Stil, fehlende «Subtilität» und Spuren von Kitsch. Vielleicht ist es genau das, was sein Schreiben ausmacht; das unverkrampfte Erzählen. Er tut dies, ohne sich einem Genre verschreiben zu wollen. Was den einen zu viel U ist, ist den andern oder den selben zu wenig E. So ist der Wankelmut in der Kritik nicht zuletzt Zeichen der grassierenden Verkrampfung in der Deutschsprachigen Literatur. Unvermeidbar wird sein, dass Leon de Winter weiter schreibt, trotz aller Mäkeleien, ganz zu meiner Freude.

Leon de Winter erzählt Geschichten, die bestens unterhalten, nicht bloss betäuben und wegtragen, sondern Anlass geben zu Auseinandersetzungen. «Geronimo» lautete der Auftrag jener us-amerikanischen Elitetruppe, die in einer spektakulären und minuziös geplanten Aktion im Mai 2011 Osama bin Laden in seinem pakistanischen Versteck eliminierten. Leon de Winter erzählt aber nicht einfach die Geschichte dieser von der Weltöffentlichkeit gefeierten Heldentat. Er mischt geschickt Realität und Fiktion, stellt Fragen, z. B. jene, was es für einen Sinn gehabt haben muss, jenen Mann zu töten. Der Leser kippt unmerklich aus der Realität in die Fiktion, wird in eine Welt katapultiert, die pulsiert von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten. Leon degeronimo-9783257069716 Winter spielt mit dem Leser, weiss genau, wie leicht er sich von Vermutungen und Misstrauen fesseln lässt, erst recht rund um die Geschehnisse um und nach 9/11. Wer nur ganz kurz im Netz seiner Neugier freien Lauf lässt, staunt, woran sich Millionen aufgeilen und klammern, wie minuziös man sucht und findet, wie leidenschaftlich man widerlegt und widerspricht.

Dabei will Leon de Winter am wenigsten Öl ins Feuer giessen. Er erzählt bloss eine Geschichte, eine spannende Geschichte. Eine Geschichte, die sich in weiten Teilen an Tatsachen, an dem von der ganzen Welt ertragenen Terror der al Qaida hält. Es ist die Geschichte von vier Menschen und die nie schlüssig zu beantwortenden Fragen: Wer trägt die Schuld? Wie viel Freiheit braucht der Mensch? Wie sehr darf der Mensch des Westens nach seinen Massstäben eingreifen? Tut nicht der islamische Extremist genau das gleiche, wenn er seine Welt zur weltumspannenden Atmosphäre machen will? Gewalt gegen Terror, Terror gegen Gewalt.

Apana ist ein afghanisches Mädchen, das seine Familie verlor und zuletzt Schutz in einem us-amerikanischen Militärcamp findet. Dort hört sie Musik, die Goldberg-Variationen von Bach, Musik, die ihr wie Stimmen aus dem Himmel erscheinen. Tom, ein Seals-Soldat, nimmt sich ihrer an, ist aber genau dann nicht im Camp, als dieses von Taliban beschossen und das Mädchen verschleppt wird. Tom fühlt sich schuldig, eh schon mit viel Blut an seinen Händen und versehrt durch den Tod seiner kleinen Tochter. Während der Soldat Tom auf der einen Seite der Erde im Kampf gegen den Terror wütet, stirbt seine kleine Tochter in den Armen ihrer Mutter an den Folgen des Terrors. Und die Geschichte Jabbars, eines pakistanischen Jungen. Er ist eigentlich Christ, versteckt sich hinter einem muslimischen Namen und lebt zusammen mit seiner Mutter in der Nachbarschaft jenes Scheichs, der in Abbottabad hinter hohen Mauern zum grossen, finalen Schlag gegen die Ungläubigen ausholt. Nach «Geronimo», jener Nacht, die Jabbars Leben urplötzlich in den Brennpunkt lebensgefährlicher Interessen versetzt, verweben und verbrennen sich die vier in der Glut «Geronimos».

Leon de Winter mischt sich ein, hält sich nicht zurück in seinen Ansichten darüber, was die westliche Welt tun müsste, um zu verstehen und die östliche, um sich wirklich zu öffnen, nicht für den Westen, aber für die wirklichen Bedürfnisse des Menschen. Vielleicht auch das ein Grund, warum der Autor nicht nur antisemitischen Angriffen des Publizisten und Satirikers Theo van Goghs ausgesetzt war, sondern weil er sich nicht scheut, einen Dialog kontrovers anzuheizen. Gerade als Zeichen persönlicher Freiheit. Im Tagesanzeiger Magazin Nr. 39 schrieb Leon de Winter unter dem Titel Die Israelisierung Europas: «Im Weltbild des Islamisten gibt es immer einen Gegner, einen Widersacher, einen Feind, der besiegt werden muss; ein Kalifat kann nicht anders, als die Herrschaft über alle Muslime anzustreben und wird prinzipiell versuchen, die ganze Welt unterwerfen.»

Nederland, Bloemendaal, 06-06-2002 Schrijver Leon de Winter. Foto Marco Okhuizen / HH (Bildtechnik: sRGB, 11.62 MByte vorhanden)
Leon de Winter.
Foto Marco Okhuizen

Leon de Winter, geboren 1954 in ’s-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, begann als Teenager, nach dem Tod seines Vaters, zu schreiben. Er arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher in Holland und den USA. Seine Romane erzielen nicht nur in den Niederlanden überwältigende Erfolge; einige wurden für Kino und Fernsehen verfilmt, so «Der Himmel von Hollywood» unter der Regie von Sönke Wortmann. Der Roman «SuperTex» wurde verfilmt von Jan Schütte. 2002 erhielt de Winter den Welt-Literaturpreis für sein Gesamtwerk, und 2006 wurde er mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet. Leon de Winter ist verheiratet mit der Schriftstellerin Jessica Durlacher.

Leon de Winter dreht momentan die TV-Serie «Brüssel», das Pendant zum us-amerikanischen «House of Cards».