Jürg Halter «Gemeinsame Sprache» Gedichte, Dörlemann

Als ich das erste Mal vor mehr als 15 Jahren Gedichte von Jürg Halter las, war das für mich die Wiederentdeckung der Lyrik, nachdem ich sie für Jahrzehnte aus den Augen verloren hatte, man mir während der Ausbildung den Zugang zu ihr durch Deutungszwang verschüttet hatte. Damals war Jürg Halter ein Rebell mit ungewohntem Ton. Heute ist Jürg Halter die Stimme eines Bewusstseins!

Er schreibt auf allen Kanälen, mischt sich ein, mischt mit. Er liest, performt, singt und spricht, mal im Takt, mal mit Schlagzeug, mal in Talkshows oder mitten im Grünen, manchmal im Spiegel einer Pfütze, manchmal in einem proppenvollen Saal. Jürg Halter ist ein Phänomen, ein Unikum. Mal scharfzüngig und beissend, mal lieblich und umgarnend, mal heiss und leidenschaftlich, mal mahnend und zornig. Man kann sich leicht verunsichern lassen, weil sich der Tausendsassa nicht fassen lässt, weil er unermüdlich sein Ding durchzieht, weil er ebenso schonungslos wie ehrlich ist, weil er Sprache gewordenes Abbild einer Generation geworden ist, die weder hinnimmt noch akzeptiert, weder kuscht noch blökt.

Defektes Leben

Wir sind krank nach uns selbst,
an den schönen Orten der Welt,
lassen uns sagen, wo diese liegen,
sehnen in die Weite, sehnen uns matt.

Wir sparen uns für eine Zukunft auf,
um die wir uns selbst betrügen.
Wir treten besonnen ans Feuer,
niemals wollen wir brennen.

Wir verschwenden uns wohltemperiert,
betäubt von der Hitze, die uns fehlt,
warten wir – dass das wahre Leben beginne
(etwa nach der nächsten Eiszeit).

Solange wir unseren Tod verdrängen,
kommen wir nicht lebendig zur Wahrheit,
danach zu leben heisst zweifelsohne nicht
täglich vor Todesangst zu sterben.

 

Jürg Halter «Gemeinsame Sprache» Gedichte, Dörlemann, 2021, 152 Seiten, CHF 24.00, ISBN 978-3-03820-089-5

Nach einem halben Dutzend Gedichtbänden, einem Roman („Erwachen im 21. Jahrhundert» bei Zytglogge) und unzähligen „Zetteln“ auf denen er in den Sozialen Medien den Lauf der Geschichte kommentiert, erschien bei Dörlemann sein neustes Werk „Gemeinsame Sprache“. Ein Titel, der versöhnlich klingt. Aber das Versöhnliche zeigt sich wenn überhaupt in den Liebesgedichten. Allen anderen Gedichten ist die Gemeinsamkeit eben höchstens die gemeinsame Sprache, das Wissen um den Schmerz in all den Abgründen und Unvereinbarkeiten des Lebens. Sein erster Gedichtband „Ich habe die Welt berührt“ war der Versuch, der globalen Zersetzung etwas entgegenzusetzen. Mit „Gemeinsame Sprache“ tut er es wieder, nicht weniger zornig, nicht weniger leidenschaftlich.

Kunst

Wenn ich für meine Antwort auf die Frage,
ob ich von der Kunst leben könne,
jees Mal Geld kriegt,
könnte ich alleine von dieser Frage leben.
Aber das wäre keine Kunst.

 

Jürg Halter ist der Beweis, was Lyrik alles kann. Dass Lyrik nicht bloss die Seele streicheln muss. Dass Lyrik mitreissen, vielleicht sogar niederreissen kann. Dass Lyrik alles andere als lieblich, entrückt und verklärend sein muss. Und „reizend“ dabei einen ganz eigenen Dreh bekommt. Jürg Halter denkt politisch, gesellschaftskritisch, ist sich für nichts zu schön, wettert und schimpft, um sich im Handumdrehen mit aller Zärtlichkeit an ein Du zu wenden.

Glimmen

Montagnacht empfahl ich mich
fraglos deiner Traurigkeit, 
im Auto vor dem Haus,
während du rauchend
in der dunklen Küche sasst –
als wäre Liebe zu ertragen.

 

Alle drei Gedichte aus: Jürg Halter, «Gemeinsame Sprache» © 2021 Dörlemann Verlag AG, Zürich. Mit freundlicher Genehmigung des Dörlemann Verlags!

«Glimmen», der Song und das Video zum Buch «Gemeinsame Sprache» (Dörlemann, 2021). Musik: Mario Batkovic. Bild: Rob Lewis.

Jürg Halter, 1980 in Bern geboren, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Lyriker, Spoken Word Artist und Speaker. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern. Regelmässig Auftritte in ganz Europa, in den USA, in Afrika, Russland, Südamerika und Japan. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Rob Lewis

Eine Breitseite am Lyrikfestival «Neonfische» in Lenzburg

Zum dritten Mal stellten sich Lyrikerinnen und Lyriker am ersten Märzwochenende einem interessierten Publikum im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg. Vom Jahrgang 1989 bis 1938 bot das Lyrikfestival «Neonfische» nicht nur ein breites Spektrum, sondern auch manchen Kontrast, vom freien Assoziieren im Takt einer Schlagzeugs bis zu kühner «Wortkartographie». Nicht bloss die Neonfische als Süsswasserfische glitzerten. Das Biotop Lyrik zeigte sich in allen Farben und Schattierungen.

Neonfische sind keine Einzeltiere. Auch wenn sich die Schwarmbildung im Aargauer Literaturhaus in Grenzen hielt, macht Lyrik und diese Art von Begegnung deutlich, wie sehr Lyrik ein Gegenüber benötigt. In Werkstattgesprächen von jeweils drei Lyriker/innen und einer Moderation stellen sich die Schreibenden auch dem Publikum. Sie geben Einblicke in Entstehungsprozesse, Gedanken und Bilder, die mir sonst verschlossen bleiben. Sie stellen sich, auch mit dem Risiko, dass ich als Zuhörer sehr genau spüre, ob Wellen aufeinanderprallen oder ineinander übergehen. Eine ungemein spannende Art, den Autor/innen und ihren Texten zu begegnen. Erst recht, weil sich die Organisation des Festivals sehr darum bemüht, es dem Zuhörer möglichst einfach zu machen, in der Fülle der Texte nicht unterzugehen.

Werkstattgespräche sind Fenster, die aufgestossen werden. Vielleicht ein Gegensatz zu Romanautor/innen. So zerbrechlich Lyrik manchmal zu sein scheint, Lyriker/innen sind es nicht. Ich erinnere mich an ein Autorengespräch zwischen den Schriftstellern Zora del Buono und Matthias Zschokke: eine überaus vorsichtige und zaghafte Annäherung mit latenter Sprengkraft. Es ist, als ob Lyrik sich viel weniger mit dem eigenen Ich beschäftigt. Dichtung ist Musik, Komposition, zu der man findet oder auch nicht. Viel weniger Nabelschau.

Zum Beispiel Cornelia Travnicek, die sich in ihrem jüngsten Gedichtband «Parablüh» mit der autobiografischen Lyrik der Amerikanerin Sylvia Plath (1932–1963) auseinandersetzte, deren Bücher in den 1960er- und 1970er-Jahren zur Kultliteratur wurden und Silvia Plath zu einer Symbolfigur der Frauenbewegung machten. Zu Gedichten in Sylvia Plaths Band «Der Koloss» hat Cornelia Travnicek im «Nachglanz» der Lektüre eigene Gedichte geschrieben. So entstand ein «Monolog mit Sivia», eine intensive Auseinandersetzung mit einer Dichterin, in deren Werk Cornelia Travnicek regelrecht eintauchte. Gedichte, die die Welt der Autorin mitnehmen und zuweilen auch politische Töne anschlagen.

Cornelia Travnicek, geboren 1987, lebt in Niederösterreich. Sie studierte an der Universität Wien Sinologie und Informatik und arbeitet als Researcher in einem Zentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Für ihre literarischen Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. für ihr Romandebüt Chucks (2012). 2012 erhielt sie den Publikumspreis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt für einen Auszug aus ihrem Roman Junge Hunde (2015),

Parablüh

1.
Der Boden verfestigt sich unter ihrem Tritt
Der Kohl gibt seinen Geruch frei in der Sonne
In den Wimpern des Hundes, ein Insekt, sich verfangen
Im Staub des Weges ein zurückgelassenes Bein
Bereits trockener Knochen, ein Stück Fell
Ein Kokon dreht sich als Windspiel, wiegt
Die träumende Raupe

Der Hund nimmt den Hasenfuss zwischen die Beisser, hält ihn als Stöckchen
Hält ihn ihr hin, als ein Angebot, das sie nicht ausschlagen kann

2.
Hier haben sich ein Fuchs und eine Hase
Gute Nacht gesagt. Die kleinen Raubvögel stehen
Schräg unter dem Licht. Das Kind
Taumelt auf der Spur eines Falters, blind
Für Haar und Gebein. Dunkles Blau
Spannt der Abend über ihre Köpfe. Paraplui
Sagt die Mutter: Dunkles Blau auch zwischen Regen
Und sie. Parablüh sagt das Kind und pflanzt
Schirme in die Landschaft.

aus „Parablüh. Monolog mit Silvia“, Limbus

Mirko Bonné ist noch bis Ende März 2018 Residenzgast im Atelier Müllerhaus des Aargauer Literaturhauses in Lenzburg. Im kommenden Herbst erscheint im Schöffling Verlag, sein, wie er sagt, letzter Gedichtband unter dem Titel «Wimpern und Asche». Eine Gedichtsammlung aus vielen Jahren unter 12 thematisch eng gefassten Kapiteln. Viele Kindheitserinnerungen, die der Autor zurückholt, Klangbilder in verschiedensten Tonlagen. Erinnerungen, die ausgelöst werden durch Bilder der Gegenwart, weltöffnende Einblicke in eine damals paradiesisch erscheinende Kindheit. Mirko Bonné, der vielen als bedeutender Romancier bekannt ist und im vergangenen Jahr mit «Lichter als der Tag» für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, ist ein sensibler Beobachter mit erfrischendem Schalk in seinem Schreiben.

Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt in Hamburg. Neben Übersetzungen von u. a. Sherwood Anderson, Robert Creeley, E. E. Cummings, Emily Dickinson, John Keats, Grace Paley und William Butler Yeats veröffentlichte er bislang fünf Romane und fünf Gedichtbände sowie Aufsätze und Reisejournale.

Das trabende Gras

Es stimmt, auch ich
war mal im glücklichen Garten.
Nur bin ich mir nicht sicher, wo das war
und ob meine Grosseltern mir so ersparten,
Schrecken zu sehen,
vielleicht für ein Jahr.

Es war der Sommer,
als ich auf den Bäumen las.
Ich kletterte in die Wipfel, fühlte mich frei,
und wenn es leuchtete, im trabenden Gras,
mein Lieblingsgesicht,
war mir alles einerlei

Für Nadia Küchenmeister

aus „Wimpern und Asche“, Herbst 2018 bei Schöffling

Oder Jürg Halter, der nicht nur in seiner Lyrik, sondern auch im Werkstattgespräch Witz versprüht und nicht mit Seitenhieben an den «gossen Bruder» spart: «Lyrik ist und bleibt Kleinkunst, während Romane Gegenstand einer ganzen Industrie sind.» Jürg Halters Gedichte sind nicht zuletzt gesellschaftspolitische Statements. Das, was er schon als Kutti MC als Kunstfigur in der Rap-Szene begonnen hatte und in seinen eigenwilligen Performance-Auftritten weiterführt.

Jürg Halter, 1980 in Bern geboren, absolvierte ein Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern. Jürg Halter ist Schriftsteller, Musiker und Performancekünstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zählt zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Auftritte in Europa, Afrika, den USA, Russland und Japan. Zuletzt erschienen: «Wir fürchten das Ende der Musik», Gedichte (Wallstein, 2014) und «Das 48-Stunden-Gedicht»

Erdwissenschaften

Sie versinkt in ihrem Sitz
wie ein Stein im Wasser;
geht unter wie eine
zu leise gestellte Frage.
Alles ist ein Sinken
zum Erdmittelpunkt
und zurück in Millionen
von Jahren und …
in allen Religionen gibt es
eigentlich nur einen Gott,
den der Schwerkraft.
Oder weshalb werfen sich
Gläubige auf den Boden
anstatt in die Luft zu springen?

aus «Wir fürchten das Ende der Musik», Wallstein 2014

Weitere Autor/innen waren: Meret Gut, Kathrin Schmidt, Joachim Sartorius, Robert Schindel, Raphael Urweider, Klaus Merz, Tim Holland und Frédéric Wandelère. Vielen Dank an die Festivalorganisatorinnen, allen voran Bettina Spoerri, die mit grosser Souveränität durch das Festival führte.

Fotos: Miklós Rózsa / Literaturhaus Lenzburg

 

Jürg Halter „Mondkreisläufer“, Der gesunde Menschenversand

Jürg Halter dichtet nicht auf dem Standbein und trotzdem aus dem Stand heraus. Jürg Halter ist Dichter und bezeichnet sich zuweilen als Drifter. Ein driftender Dichter ist er sicher. Ein Vorspiegler wörtlicher Tatsachen. Einer, der listig und lustig behauptet, den Dingen aber nie den Ernst nimmt, denn Jürg ist nicht Ernst.

„Mondkreisläufer“ ist fast ein Gespräch, erinnert an den Fragenkatalog von Max Frisch. „Wie oft hast du in deinem Leben etwas getan, wozu du dich entschieden hast? Stehen Fühlen und Denken bei dir noch in einem Zusammenhang? Was für ein Verhältnis hast du zu deiner Machtlosigkeit? Wie lange beweist dich das Spieglein an der Wand noch?“ Jürg Halter fordert heraus. „Mondkreisläufer“ ist kein Roman, keine Erzählung, keine Geschichte. Ein Prosatext, der sich an mich wendet, der mich auffordert, mitzudenken, erst recht mit dem Denken anzufangen.

Als ich Jürg Halter zum letzten Mal zuhörte, war dies an der BuchBasel 2017 an der Greifengasse hinter einem Schaufenster. Er las drinnen als Teil einer Adventsdekoration und ich hörte draussen zu, in der Kälte, angeschupst von Vorbeieilenden. Er hörte mich nicht, ich ihn sehr gut durch einen Lautsprecher vor der Scheibe. „Mondkreisläufer“ ist genau so. Jürg Halter scheint mich zu sehen, aber nicht zu hören. Er scheint zu reagieren, auf mein Nicken, mein Kopfschütteln, mein Schulterzucken.

Die Lektüre flutscht nicht, sie beisst, kratzt und steht quer. In der Literaturlandschaft subversiv. Ein Monolog eines Wahn-sinnigen, der uns mitnimmt auf die Reise zu einer bergenden Mutter. Ein Text, der mich mitnimmt, mit Fragen und Aufforderungen:

Denken ist gefährlich, Denken hat Denken zur Folge, du wirst zum  Gedankenverfolgten, treiben sie dich in die Enge oder an den Rand des Abgrunds, können Gedanken tödlich sein.“

Ursprünglich war „Mondkreisläufer“ als Theaterstück geschrieben. Das Buch ist eine Weiterentwicklung des Theaterstücks in einen schillernden Prosatext, herausgegeben von einem Verlag, der sich wie der Autor Jürg Halter auf neues Terrain begibt.

Jürg Halter ist neben vielen anderen Gast am 3. Lyrikfestival NEONFISCHE 2018 im Aargauer Literaturhaus Lenzburg. Am Wochenende vom 3. und 4. März lesen und performen neben Jürg Halter auch Joachim Sartorius, Robert Schindel, Kathrin Schmidt, Ernst Halter, Raphael Urweider, Frédéric Wandelère, Klaus Merz, Meret Gut, Cornelia Travnicek, Tim Holland sowie die Übersetzerinnen Elisabeth Edl und Marion Graf.

Bild: Corinne Futterlieb

Jürg Halter, geboren 1980 in Bern, lebt meistens in Bern, wo er Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern in studierte. Jürg Halter ist Schriftsteller, Musiker und Performancekünstler. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zählt zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Auftritte in Europa, Afrika, den USA, Russland und Japan. Zuletzt erschienen: «Wir fürchten das Ende der Musik», Gedichte (Wallstein, 2014) und «Das 48-Stunden-Gedicht» mit Tanikawa Shuntarō (Wallstein, 2016).

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