Was Jakub Małecki mit seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman „Rost“ als grosses Versprechen in den literarischen Himmel schrieb, ist wahr geworden. Sein neuer Roman „Saturnin“ überzeugt nicht nur als sprachliches Kunstwerk – es ist passgenau in eine Zeit geschrieben, in der Ordnung implodiert und mit unkontrollierbarer Kraft explodiert.
Saturnin Markiewicz hat sich in seinem Leben eingerichtet. Er wohnt in einer kleinen Wohnung in Warschau, leidet mehr oder weniger an seiner Unsichtbarkeit trotz seines Übergewichts, arbeitet als Handelsvertreter, hat nichts dagegen, allein zu sein, sich damit abgefunden, dass das Leben nicht so stattfindet, wie er sich das als junger Mann vorgestellt hatte. So bringe ich wie ein Hamster im Laufrad immer weitere eintönige Tage hinter mich, die aus Arbeit, Fahrt zur Arbeit, Rückkehr von der Arbeit, einkaufen, essen, Computer schauen und Abendspaziergang bestehen. Er wartet ständig, bis etwas passiert. Bis das Telefon klingelt und ihn seine Mutter bittet, zu ihr zu fahren. Grossvater sei verschwunden. Saturnins Grossvater ist sechsundneunzig! Er steigt in sein Auto und fährt in das Kaff, in dem er aufgewachsen war, in dem sein Grossvater seit dem Krieg ununterbrochen lebte. Was will ein Sechsundneuzigjähriger? Warum fährt er mit seinem grünen Opel Astra weg, ohne einen einzigen Hinweis zu hinterlassen? Und dann noch ein Anruf. Als Saturnin bei seiner Mutter ist, meldet sich eine Daria Tomczyk. Weder Saturnin noch seine Mutter kennen eine Frau mit diesem Namen. Aber Daria Tomczyk erklärt, sie wisse wo Saturnins Grossvater zu finden wäre. Also fahren die beiden zu der Frau, die ihnen eine Karte gibt, einen Ort und den Satz: „Ihr Vater hat behauptet, er wäre dort gestorben.“
Es beginnt eine Odyssee. Nicht nur eine Suche nach dem verschwundenen Grossvater, sondern auch eine Odyssee zu den Geheimnissen einer Familie. Solchen wie dem Geheimnis seines Namens. Wer heisst schon Saturnin! Niemand ausser er. Zuerst beginnt seine Mutter zu erzählen, denn damals als sie mit ihm schwanger war, bat sie ihr Vater, ihren Sohn nach seiner Geburt doch bitte Saturnin zu taufen. Und obwohl die Mutter nicht erfahren sollte, welches Geheimnis sich hinter dem Namen verbarg, tat sie es. Vielleicht auch aus Trotz, denn der Mann, der Vater werden sollte, entpuppte sich als gar nicht der, was sie sich versprochen hatte. Nach nicht einmal einem Jahr war die Ehe geschieden, der Mann aus ihrem Leben verschwunden. Saturnin blieb, wurde grösser und kräftiger. Sehr kräftig, denn der Grossvater schenkte ihm schon bald selbstgebaute Hanteln, mit denen Saturnin zu trainieren begann. Ein Training, das immer intensiver wird, bis Saturnin eine unschlagbare Grösse im Kraftdreikampf wird, bis Knochen brechen und nichts mehr zusammenpasst im durcheinandergeratenen Leben des jungen Saturnin.
„Er versucht in dieser Geschichte Ursache und Wirkung herauszufinden, aber nichts passt zusammen, die Welt ist aus den Fugen geraten, und vom einen Ufer kann man das andere nicht sehen.»
Saturnin und seine Mutter finden den Grossvater tatsächlich. Mitten im einem Wald, auf dem Bauch liegend, das Gesicht im Dreck, als wäre er tot. Sie schleppen ihn ins Leben zurück, einen Mann, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist, der seine Tochter und seinen Enkel halb wahnsinnig macht, weil er kein Wort sagt, mit keinem ganzen Satz verraten will, warum er weggefahren war, warum sie ihn im Wald liegend finden mussten, warum er nicht endlich zu erzählen beginnt. Und dann passiert es doch. Mit einem Mal bricht der Damm und der Grossvater beginnt zu erzählen; die Geschichte von einem Saturnin. Die Geschichte einer Freundschaft. Die Geschichte eines Versprechens. Eine Geschichte aus den Tagen des letzten Weltkriegs, als Saturnins Grossvater unfreiwillig zum Partisanen, zum Mörder wurde, als man ihm seine Schwester Irka nahm und er noch Jahre später auf dessen Rückkehr hoffte. Von einer Wunde, die nie heilte.
2022 und es herrscht Krieg in der Ukraine. Für die einen unwirklich scheinend, für die anderen tödlicher Ernst. Im Herbst 1939 überfiel das nationalsozialistische Deutschland seinen Nachbarn Polen. Ein von langer Hand geplanter Angriffskrieg mit allerlei fadenscheinigen Rechtfertigungen. 2022 überfällt ein russischer Diktator mit seinen Militärspielzeugen sein Nachbarland die Ukraine, zerbombt ganze Städte, feuert Raketen gegen zivile Ziele und verwüstet ein demokratisches Land, dem im Budapester Memorandum 1994 von russischer Seite her Souveränität und Enthaltung von Gewalt mit Siegel und Unterschrift zugesichert wurde.
In Jakub Małeckis Roman „Saturnin“ gibt es Szenen, die einem eben jetzt ganz besonders schaudern lassen. Seien es Momentaufnahmen, Szenenbeschreibungen in feinster Wahrnehmung oder Kriegsszenen, Momente bitterster seelischer Not, die mir in die Knochen fahren. Jakub Małeckis Sprache ist schnörkellos, seine Geschichte kunstvoll verwoben. Das Personal seines Romans widerspiegelt die Archetypen der Gesellschaft. Und sein Roman warnt vor den unabsehbaren Folgen jener Gewalt, die sich mit jedem Krieg immer und immer wieder offenbart. Es werden Wunden geschlagen, die sich nie schliessen werden!
Jakub Małecki, geboren 1982 in Koło, Polen, studierte an der Wirtschaftsuniversität in Posen. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Zudem übersetzt er aus dem Englischen ins Polnische. Er lebt als freier Schriftsteller in Warschau. «Rost» war sein erster Roman in deutscher Übersetzung.
Renate Schmidgall, geboren am 26. März 1955 in Heilbronn, ist deutsche Übersetzerin polnischer Literatur und lebt in Darmstadt. Sie studierte Slawistik und Germanistik in Heidelberg und war anschliessend als Bibliothekarin am Deutschen Polen-Institut beschäftigt. Von 1990 bis 1996 arbeitete sie dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Seither ist sie als freie Übersetzerin tätig.
Beitragsbild © Krzysztof Nowicki