Tanya hat ihre Heimat, die Ukraine, verlassen. Sie will vergessen. Ihre Herkunft, ihre Vergangenheit. Alisa, ihre Tochter, hat nicht nur im Leben ihrer Mutter keinen Platz. Sie versucht zu korrigieren, zu kompensieren, den Tritt zu fassen in einem Leben, das keinen Halt findet. „Jägerin und Sammlerin“ ist der Lebenskampf zweier Frauen, von Mutter und Tochter, der unterschiedlicher nicht sein könnte.
Suchen wir uns unsere Probleme aus oder werden wir von ihnen aus- oder heimgesucht? Alisa wird in kein einfaches Leben hineingeboren. Ihre Mutter Tanya und ihr viel älterer Vater suchen ein neues Leben in Deutschland, als jüdische Kontingentflüchtlinge und lassen die Ukraine hinter sich. Die Tochter Alisa wächst in Deutschland auf, wenig geliebt und umsorgt von einer arbeitenden, „jagenden“ Mutter und einem enttäuschten, immer griesgrämiger werdenden Vater. Ein Zuhause, das in lauten und unnachgiebig geführten Streitereien zu ersticken droht, das weit weg ist von Nestwärme und Geborgenheit.
Obwohl Alisa alles tun möchte, um ihrer Mutter zu gefallen, ein Lächeln der Zufriedenheit zu provozieren, genügt sie nie; zu hässlich, zu ungeschickt, zu lasch, zu faul. Obwohl Alisa in der Schule beste Noten zeigt, orientiert sich die Mutter ganz an den aus ihrer Sicht offensichtlichen Mängel der Tochter; keine Freunde, und wenn, dann die falschen, kein Talent fürs Ballet, obwohl die hübsche und zierliche Mascha aus der Nachbarschaft, ebenfalls aus der Ukraine, vormacht, was durch Selbstdisziplin zu erreichen wäre.
Tanya ist nicht nur mit ihrer Tochter Alisa nicht zufrieden. Sie ist mit ihrem ganzen Leben, der Welt und den Brosamen, die man ihr lässt nicht zufrieden. Von Familie und Pflichten daran gehindert, das zu werden und zu sein, was eigentlich in ihr steckt, sich dauernd mit den falschen Männern herumschlagend, von allen missverstanden und nie belohnt für das, was sie tut, wird Tanya nicht nur für ihre Tochter zur Tretmine. So sehr Tanya die Schlechtigkeit der Welt für ihr Unglück verantwortlich macht, so sehr leidet ihre Tochter Alisa darunter, dass sie sich das Glück schlicht nicht zutraut.
Was man ihr einimpft, bewahrheitet sich. Obwohl Alisa ein halbes Leben lang zeichnet, stempelt ihre Mutter dies bloss Unsinn. Obwohl Alisa über Jahre nach der Schule einkauft, putzt und kocht, obwohl sie der Mutter in ihrer Ausbildung hilft, Bewerbungen für die Arbeitsämter schreibt, genügt sie nie. Tanya kritisiert gnadenlos die Mängel ihrer Tochter. Alles, was Alisa tut, wird nach Nützlichkeit taxiert. Und so werden aus den Zeichen der Tochter, eines pubertierenden Körpers, den zunehmenden Schwierigkeiten mit Essen, der Figur, dem Gewicht, den Pickeln im Gesicht keine Zeichen, die einer Mutter sagen würden, dass sie helfen müsste, sondern das infernale Schlachtfeld der Tochter ganz allein.
„Ich bin die geborene Jägerin“, sagt Mutter Tanya ganz am Schluss des zweiten Romans der Schriftstellerin Lana Lux und meint damit eigentlich ihre Tochter Alisa, von der sie im gleichen Atemzug sagt: „Sie hat keinen Biss. Sie hat keinen Jagdtrieb.“ Ohne dass Tanya ihre Tochter klassifiziert, ist sie doch die, die die Probleme sammelt, eben eine Sammlerin. Niemand, der die Probleme beim Namen nennt, der die Probleme anpackt, sie besiegt.
Dabei ist das Leben der Mutter alles andere als eine Siegerstrasse.
Man kann „Jägerin und Sammlerin“ auf den Lebenskampf zweier Frauen reduzieren. Auf den Kampf einer jungen Frau, der Tochter, einen unsäglichen Kampf gegen den eigenen Körper, das eigene Ungenügen, die Angst vor dem Verlust letzter Selbstkontrolle. Den Kampf einer noch immer jungen Frau gegen die Angst an den Versprechungen des Lebens nicht teilhaben zu können, vom Unglück und allgegenwärtigen Missverständnis verfolgt zu sein. Manchmal sind beide Lebenskämpfe bei der Lektüre kaum auszuhalten. Jener der Tochter in dem ihr selbst zugeführten Schmerz, jener der Mutter in der offensichtlichen Empathielosigkeit. Aber es sind zwei Schlachtfelder der Gegenwart, Schlachtfelder von Ursache und Resultat.
In „Jägerin und Sammlerin“ erzählen Mutter und Tochter. Und es wird deutlich, wie unvereinbar Wahrheiten sein können, die auf die Schnelle betrachtet fast deckungsgleich sein könnten. Der Roman zeigt, wie sehr Empfindung und Wahrnehmung, Ursache und Wirkung auseinanderdriften können, selbst in allergrösster „Nähe“, zwischen Mutter und Tochter, Tochter und Mutter. Der Roman ist eine Schlacht, eine der vielen Schlachten der Gegenwart. Der Roman spiegelt die Welt zwischen Konsum, Rausch, Sehnsucht und Erwartungen.
Lana Lux, geboren 1986 in Dnipropetrowsk/Ukraine, wanderte im Alter von zehn Jahren mit ihren Eltern als Kontingentflüchtling nach Deutschland aus. Sie machte Abitur und studierte zunächst Ernährungswissenschaften in Mönchengladbach. Später absolvierte sie eine Schauspielausbildung am Michael Tschechow Studio in Berlin. Seit 2010 lebt und arbeitet sie als Schauspielerin und Autorin in Berlin. 2017 erschien ihr vielbeachtetes Debüt «Kukolka», das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, 2020 ihr neuer Roman «Jägerin und Sammlerin».
Beitragsbild © Lea Frei