Helga Bürster «Steine», Plattform Gegenzauber

Der Alte kniete auf dem Platz vor dem ehemaligen Verwaltungsgebäude, in dem jetzt die Anderen wohnten. Er arbeitete immer hier, wenn die Galeerensklaven mit ihren brüllenden Gesängen aufzogen. Sie fingen schon wieder an, die Pflasterung aufzureißen, als er unten auf der Straße angekommen war. Vom Balkon aus hatte er den Platz im Blick, nur kam er nicht mehr so schnell die Treppe runter. Es war nicht der erste Aufzug vor dem Gebäude und er kannte den einen und die andere. Nachbarssöhne und Töchter. Er war selbst ein Galeerensklave gewesen, damals, er kannte sich aus. Wenn sie kamen, ging er mit seinem Fäustel auf die Straße. Er  musste wieder in Ordnung bringen, was sie anrichteten. Einer musste die Löcher flicken, die sie rissen. Einer musste das alles wieder heil machen. Wozu war er Steinsetzer gewesen. Einer der Besten. Er räumte auf, setzte Stein um Stein an seinen Platz zurück, und kümmerte sich nicht um die

Vorwärts! vorwärts!

Schlacht, die um herum tobte. Er hörte nicht hin, langte nach einem weiteren Basaltstein, der lose herumlag, und drückt ihn in ein Loch. Dann nahm er den Fäustel und klopfte Stein um Stein im Sandbett fest. Ein Knallkörper zischte dicht an seinem Ohr vorbei, eine Weile hörte er nichts mehr. Er sah nicht auf. Er arbeitete weiter, immer weiter, von Loch zu Loch, während um ihn herum neue aufgerissen wurden. Er wollte das nicht sehen, auch dann nicht, als die Polizei kam und alle aufforderte, den Ort zu verlassen. Niemand hörte darauf. Ein Wasserwerfer schleuderte einen Strahl über ihn hinweg. Harte Tropfen regneten auf seinen Rücken nieder. Er bückte sich nach einem weiteren   

mögen wir auch untergehn

Stein, obwohl sein Kreuz schmerzte. Berufskrankheit. Er war längst zu alt zum Kriechen, aber er hatte Schuld zu begleichen.   
Ein junger Kerl riss ihm den Stein aus der Hand, den er gerade

Mann für Mann!

aufgehoben hatte. Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und er sah sich selbst, seinen alten Hass, die Angst und Wut. Er wusste noch gut, wie sich das angefühlt hatte. Der Junge mit dem Stein war in dem Alter, in dem er selbst ein  Galeerensklave geworden war. Er packte den Jungen am Handgelenk. 
„Ich kenne dich.“
„Fresse halten!“
Der Junge riss sich los, nahm Anlauf, streckte sich, holte in einer eleganten Bewegung aus, als ob er das tausend Jahre geübt hatte, und

durch unsere Fäuste

schleuderte den Stein gegen das brennende Haus. Ein Tier im Sprung, blutberauscht, schön und abscheulich. Das dachte der Alte, obwohl er sich das Denken lange abgewöhnt hatte. Der Stein prallte gegen die Wand aus Plexiglasschilden, hinter der sich die Ordnungshüter so schnell verschanzt hatten. Dahinter turnten die Anderen schutzlos auf den Simsen und Balkonen, einer hing wie eine Bettdecke von einer Brüstung, Scheiben barsten und Flammen schlugen aus Fensterlöchern. Das Haus schrie. Ein Feuerwehrwagen blieb im Gewühl stecken. Eine sprang aus dem dritten Stock, angefeuert noch und beklatscht.
„Immer schön runter! In den Dreck. Dreckspack!“
Er hatte nur kurz hingesehen und den Kopf dann wieder gesenkt. Er hatte besseres zu tun, er flickte

durch Nacht und durch Not

die Löcher, die gerissen wurden und auch diejenigen, die gerissen worden waren. Alle Löcher dieser Welt zu flicken, etwas Besseres hatte er nicht zu bieten.

„Fünf Millimeter, wenn´s recht ist. Ein deutscher Mann sieht nicht aus wie ein Zigeuner oder Jud!“ 
Der Friseur, der einen Kerl aus ihm machen sollte, war ein schmächtiges Bürschchen gewesen, einer mit flottem Führerbärtchen und zackiger Pose. Er selbst hatte auf dem Stuhl im Herrensalon gesessen, die Haut klebrig vom Schweiß, das rissige Kunstleder kratzte im Rücken. Im Spiegel lief ein Film mit ihm als bestem Nebendarsteller. Wie ich zu dem wurde, was ich zu sein habe. Sein Vater hatte hinter ihm gestanden, stramm auf den Beinen, während der Friseur auf dem Jungenflaum tänzelte, der auf den Boden schneite. Als er ihm schließlich den Nacken ausrasierte, wurde ihm kalt. In der Geschichtsstunde hatte der Lehrer Bilder von römischen Galeerensklaven gezeigt.  Abbildungen alter Ölgemälde. Die Sklaven hatten ausgesehen, wie er jetzt, wie sein Vater schon lange. Wie alle. Der Lehrer hatte gesagt, der geschorene Kopf sei das Mal der Unterwerfung unter die römischen Herren gewesen. Bestimmt hatte er gelogen, denn sein Vater behauptete doch, sie seien jetzt und immerdar

Kamraden, dir!

die Herren der Welt. 
Ein leiser Zweifel hatte ihn damals befallen, der bohrte seitdem in ihm, ob er nämlich Worten trauen konnte. Je nachdem, wer sie aussprach und wer sie hörte, bedeuteten sie mal dies und mal das. Dazu kamen die Spitzfindigkeiten, die er nicht begriff.  Also war er lieber Steinsetzer geworden, denn ein Stein ist ein Stein. Heute wusste er, dass selbst das nicht immer stimmte. 
Er kroch auf Knien weiter und sammelte einen Armvoll ausgerissener Balastquader ein. Sorgfältig reihte er sie neben dem Loch auf, das er zu flicken begonnen hatte. Er erkannte mit bloßem Auge, dass alles passen würde, denn er hatte schon zu viel geflickt, da konnte ihm niemand etwas vormachen. Jemand stieß ihn in den Rücken. Sirenen heulten. Gelbblaues Licht zuckte über den Platz. Er arbeitete bedächtig. Sein Herz schlug im Takt des Fäustels. Er atmete ruhig. Aus dem Dach schlug

die neue Zeit

das Feuer. Balken krachten, Scheiben klirrten und er hob für einen Moment den Blick, um zu sehen, was da los war. An einem Fenster stand eine Frau, ihr Umriss zeichnete sich vor den Flammen ab, die hinter ihr loderten. Unten breitete die Feuerwehr Sprungtücher aus. Sie hielt ein Kind im Arm. Wie damals, dachte er und verfluchte sich fürs Hinschauen, aber es war nicht mehr zu ändern. Die Bilder schoben sich übereinander. Die alten und die neuen. Es gab ein Hier und ein Da. Die Frau von damals hatte auch ein Kind gehalten, Flammen im Haar, die heilige Barbara, während unten die Galeerensklaven Löcher rissen. Die Frau hatte ihn angesehen und das Kind

flattert uns voran

geworfen. Und er?

Der nächste Stein passte in das nächste Loch. So ist es gut, dachte er. Sein Herz schlug wild, denn der Führer persönlich hatte ihm damals die Hand geschüttelt, war aus seinem Bunker gestiegen, hatte ihm zugelächelt mit zuckenden Mundwinkeln, ihm und ein paar anderen Jungs, die eilig zusammengekratzt worden waren, den Krieg noch zu gewinnen, so kurz vor dem Ende, Kanonenfutter, das man dem Schüttelgelähmten vor die Füße stellte, um seinen Tremor zu besänftigen. Ein schöner Frühlingstag war das gewesen und so voller Hoffnung, denn die Kirschbäume hatten geblüht. An diesem wunderschönen Frühlingstag verlieh

wirst leuchtend stehn

der Führer ihnen Orden. Warum hatte die Frau damals ausgerechnet ihn angesehen? Er war nur ein kleiner Galeerensklave gewesen, der von nichts gewusst hatte. Seine Knie schmerzten. Der Stein, den er gerade hielt, fiel ihm   

als der Tod

aus der Hand. Er hob ihn auf und legte ihn in das Loch, das er für den Stein vorgesehen hatte, aber er passte nicht hinein. Alles tat ihm weh, der Nacken am allermeisten. Er streckte seine schmerzenden Glieder. Die Frau mit dem Kind stand immer noch da. Sie blickte ihn in

Ewigkeit!

an.

 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe» und 2023 ihr Roman «Als wir an Wunder glaubten«, beide bei Insel/Suhrkamp.

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel 

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Roman darüber, wie sehr wir Menschen uns von scheinbaren Gewissheiten leiten lassen wollen, wie leicht wir uns in Ausweglosigkeiten verrennen und wie naiv das Sprichwort ist, Zeit würde Wunden heilen. Die Zeit heilt nichts. Was nicht ausgestanden ist, sickert nur tiefer, selbst wenn wir darüber eine heile Welt errichten.

Das der 2. Weltkrieg mit der Kapitulation zu Ende ging, liest man wohl in Geschichtsbüchern, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Genauso wie die Vorstellung, die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts hätten sich endgültig vom irrigen Glauben verabschiedet, die Welt wäre durchsetzt von bösen und unheilvollen Kräften. Wir brauchen Erklärungen und wenn nötig Schuldige, denen wir das eigene Unvermögen, all das Unerklärliche, das sich nicht leugnen lässt, aber auch die eigene Dummheit und die eigenen Fehler unterjubeln lassen.

Als das Tausendjährige Reich in Schutt und Asche lag, war das Leiden noch lange nicht zu Ende. Da war der Schmerz über all das Leid, das der Krieg und der Nationalsozialismus über Europa und die ganze Welt brachte, die Verwundeten an Leib und Seele, das Grauen, das sich nicht nur in Lagern abspielte, sondern überall, nicht zuletzt auch in den Herzen und Köpfen der Betroffenen. Da waren Heerscharen an Leib und Psyche Verwundeter, Versehrter und Verkrüppelter, die aus dem Krieg oder Jahre oder Jahrzehnte später aus Lagern zurückkehrten, unfähig, dort weiterzumachen, wo man sie herausgerissen hatte. Da waren die Zurückgebliebenen, Frauen und Familien, die nicht nur das Leben aufrecht zu erhalten hatten, sondern auch den Glauben an eine bessere Zukunft. Da war eine Nation, ein „Volk“, das man zum Führerglauben erzogen hatte, das in strengem Gehorsam Wegschauen und Verdrängen gelernt hatte. Wie hätte man vom strammen Glauben an einen Endsieg so einfach das eigene Denken reaktivieren sollen, die Selbstverantwortung.

Foto © Emsland Moormuseum, Fotoarchiv

Man hatte den Massen jahrzehntelang eingebleut, dass Andersgläubige und Andersdenkende für das eigene und kollektive Versagen und Unvermögen verantwortlich wären. Wie sollten jene Massen mit dem erklärten Ende des Krieges so einfach aus einem „bösen“ Traum erwachen, wenn man sie ein halbes Leben in die eine Richtung drillte?

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel, 2023, 285 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-458-64388-3

Helga Bürster erzählt von einem Moordorf; Unnenmoor, nicht weit von Oldenburg. Noch vor dem Krieg heirateten die beiden Freundinnen Edith und Annie. Aber von beiden Männern kam ziemlich schnell kein Zeichen mehr von der Front. Während sie als verschollen galten, hatten die beiden Frauen in der Heimat zu kämpfen; Edith gegen das Klischee, das man mit ihren flammend roten Haaren verband und Annie mit dem stummen Sohn Willi, den sie kaum zu bändigen weiss. Beide sind eingespannt in ihre Pflichten als Zurückgelassene und ausgesetzt als Frauen, die man für eigene Zwecke einspannen will. Im Dorf, etwas ausserhalb, lebt Guste, die ihren Mann schon während des ersten Weltkriegs verloren hatte, die ihr Alter längst vergessen hat und in ihrer Kate lebt, als wäre sie noch Jahrhunderte vom anbrechenden Fortschritt entfernt. Betty, Ediths Tochter, die Guste immer wieder mal einen Topf mit Suppe bringt, freundet sich mit der alten Guste an, eine Freundschaft, die ebenso argwöhnisch beobachtet wird, wie die Tatsache, dass sich ihre Mutter mit dem Dorfjournalisten anfreundet, wo doch nicht einmal klar ist, ob Ediths Mann aus dem Krieg zurückkehren wird.

Eines Tages kehrt dann wirklich einer zurück. Einer, der nicht nur beide Beine in einem russischen Sumpfloch zurückgelassen hatte, sondern sämtliche Erinnerungen. Das einzige, was blieb, war ein Ring mit eingraviertem Namen, der aber auf keinen seiner Finger passte. Je näher der Versehrte der Gegend kommt, in der man seine Sprache spricht, desto mehr bricht Erinnerung hervor. Erst glaubt er Otto, der Mann einer Edith zu sein, bis Annie feststellt, dass es Joseph, ihr Mann ist. Da ist einer zurückgekehrt. Aber schon nach wenigen Wochen bricht durch, was der Versehrte an Grauen mit aus dem Krieg nahm. Genauso wie das, was im Dorf und im Lager am Rande des Dorfes in den verwundeten Seelen der Einwohner weiterwirkt. 

Edith soll für alles Mögliche und Unmögliche im Dorf verantwortlich sein, sie sei eine Hexe, so wie die alte Guste, und mit Sicherheit auch Ediths Tochter Betty. Während Joseph sich kaputtsäuft, der ehemalige Lageraufseher Fritz Renken als «Spökenfritz» und Wunderheiler den Dorfbewohnern die Welt erklärt und sie gegen Edith aufhetzt, während man mit einem riesigen Moorpflug, dem Mammut, die Untiefen der Moorlandschaft in fruchtbare Wiesen umzugraben beginnt und damit dem Fortschritt den Weg ebnen will, heizen sich die Geister, die wirklichen und unwirklichen, an den Verschwörungstheorien der Unbelehrbaren auf. 

© Helga Bürster

Helga Bürsters Roman wird zur atemlosen Lektüre, vielschichtig ineinander verschränkt , von ungeheurer Unmittelbarkeit. Die Autorin spiegelt die Gegenwart ebenso, wie sie Unverdautes an die Oberfläche reisst. “Als wir an Wunder glaubten“ ist sowohl dramaturgisch wie sprachlich Feinkost.

Interview

Ihr Buch beruht auch auf einem Prozess, der 1956 gegen einen Mann geführt wurde, der es mittels fragwürdiger Methoden und Behauptungen schaffte, ein ganzes Dorf durch Aberglauben und Hexenbanner-Tätigkeit gegen einzelne Frauen aufzuwiegeln. Kein Mittelalterprozess, sondern ein Teil des 20. Jahrhunderts. Die Coronazeit hat verdeutlicht, dass auch die Gegenwart nicht vor den abstrusesten Verschwöhrungs- und Erklärungsversuchen gefeit ist. So wie es die Religion für Jahrhunderte schaffte, auf schwierige Fragen einfache Antworten zu geben, schaffen dies auch Diktaturen bis in die Gegenwart. Dort hocken die Schuldigen, vernichten wir sie. Wir schaffen es zwar auf den Mond, aber erliegen der grassierenden Dummheit trotzdem. Macht sie das nicht manchmal mutlos.
Um ehrlich zu sein: Ja, es frustriert mich. Wenn es eng wird, wird das Denken, so scheint es, zur Qual. Es wird anstrengend, die vielen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, die Zwischentöne in all dem Gebrüll, noch wahrzunehmen. Zu viel Komplexität verwirrt. Einfache Antworten sind gefragt. Der Diskurs wird unversöhnlich, befeuert noch vom Barbarismus im Internet. In unseren Köpfen brennen die Scheiterhaufen. Aber, um auch dies zu hinterfragen: Wir dürfen die vielen Menschen nicht vergessen, die tagtäglich dagegen anleben. Es gibt, wie immer, Hoffnung. 

Viele leben im irrigen Glauben, der 2. Weltkrieg wäre mit der Kapitulation des Dritten Reichs zu Ende gegangen. Ihr Roman ist die Verdeutlichung dieses Irrglaubens. Kriege hallen und wirken nach. Unrecht hallt und wirkt nach. Nicht auszudenken, was mit all den Wunden passiert, die aktuelle Kriege aufreissen. Wer heute durch Berlin geht und nicht viel über das vergangene Jahrhundert weiss, sieht nichts. Da steht wohl ein Mahnmal, dort ein Museum. Aber man sieht nur, wovon man weiss. War das Schreiben dieses Romans Museum und Mahnmal zugleich?
Kriege gehen nie mit dem Friedensschluss zu Ende. Zwar fallen keine Bomben mehr, aber die Schrecken wirken über Generationen weiter. Von transgenerationellen Tramata ist hier die Rede. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Die Aufarbeitung, wenn sie überhaupt stattfindet, ist zäh, schmerzvoll und schambehaftet. Warum sollte man im Frieden noch am Krieg leiden? Nach den Lesungen kommen immer Menschen, die ihr eigenes Erleben erzählen. Oft wissen Betroffene gar nicht, dass die Panik, die sie manchmal überfällt (um nur ein Beispiel zu nennen) nicht ihnen gehört, sondern der Mutter, dem Grossvater, Onkel und Tanten, die im Krieg Schreckliches erlebt haben. Um besser damit umgehen zu können, bräuchte es Bildung, Bildung und nochmal Bildung. Wie hängen die Dinge zusammen, was war vor uns, woher kommen wir, wohin gehen wir. Nur so könnten wir, um in Ihrem Beispiel zu bleiben, einer Berliner Fassade seine Geschichte ablauschen. Oder einer räudigen Moorhütte. So gesehen ist der Roman Museum und Mahnmal zugleich und ein bisschen auch Therapie.

eine trocken gelegte Moorlandschaft © Helga Bürster

Jeder, der in einem Dorf aufgewachsen ist, weiss von der Eigendynamik einer Dorfgemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die wirklich Gemeinschaft sein kann, aber in seiner Enge und Nähe auch unkontrollierbare Feuer entfachen kann. Hier die dörfliche Unausweichlichkeit, dort die Anonymität der Stadt. Magazine wie „Landleben“ nähren eine Sehnsucht; jene nach Unmittelbarkeit und Authentizität. Die Stadt suggeriert „unbegrenzte Möglichkeiten“. Sind wir nicht genauso Opfer unserer Sehnsüchte wie unserer Ängste?
Ich wüsste nicht, wie wir das vermeiden könnten. Ich habe in der Stadt gelebt und mich nach dem Land gesehnt, nun lebe ich auf dem Land und sehne mich immer mal wieder nach der Stadt. Habe ich ein paar Tage Berlin hinter mir, bin ich froh, in mein stilles Dorf zurückzukehren. Sitze ich wochenlang einsam an meinem Schreibtisch, muss ich raus in die Grossstadt, um zu spüren, dass ich noch lebe. Es kommt darauf an, wie ich damit umgehe. Mein Rezept heisst Abstand von mir selbst und ein Schuss Selbstironie. Solange ich mich selbst hinterfrage, bin ich kein Opfer. Aus solchen Ambivalenzen entstehen Stoffe für Geschichten. Es ist anstrengend, aber ich liebe es. 

Katie, eine Hausiererin, von vielen argwohnisch beobachtet, taucht eines Tages nicht mehr mit dem Handwagen vor Ediths bescheidenem Hof auf, sondern aufgemotzt mit einem Auto und dem Versprechen, auch Edith etwas von dem Wohlstand ins Haus zu bringen. Edith soll Spitzenwäsche schneidern, neben erotischen „Hilfsmitteln“ ein neues Geschäftsfeld von Katie, die so etwas wie eine Freundin Ediths wurde. Ein bisschen die Geschichte von Beate Uhse. Eine Frau, der der Erfolg Recht gab, die aber an ihrer Kollaboration mit den „Dorfhexen“ hätte scheitern können. Warum schafft Beate Uhse, was in der kleinbürgerlich verklemmten Gesellschaft der Nachkriegsjahre so gar nicht hineinzupassen schien?
Was mich bei den Recherchen fasziniert hat, war der Umstand, dass es nach dem Krieg ein grosses weibliches Bedürfnis nach sexueller Freiheit gab und ich war überrascht, wie offen und modern die vermeintlich muffigen 50er Jahren auch waren. Die Frauen, im Krieg als Gebärmaschinen und Lückenbüsser missbraucht, hatten die Nase gehörig voll. Beate Uhses «Schrift X», ein Aufklärungsheftchen, in dem es u.a. um Verhütung ging, fiel da auf sehr fruchbaren Boden, nicht nur in der Stadt. Es wurde zum heimlichen Bestseller. Die Frauen hatten gewaltig an Selbstbewusstsein gewonnen. Die Scheidungsrate war immens hoch. Es brodelte so gewaltig in der Gesellschaft, dass sich sogar der Bundestag mit dem «Zerfall der Familie» beschäftigte. Ich war erstaunt, dass dies heute so wenig bekannt ist. Aus diesem Grunde habe ich Katy ein bisschen von der Biografie Beate Uhses angedichtet, obwohl Frau Uhse nicht als Einzige in Sachen Erotik unterwegs war, aber sie war die erfolgreichste. 

Moorsee © Helga Bürster

Männer sind tot oder Fracks, verwundet, traumatisiert, aus den Angeln gehoben oder Verdränger. Nach einem Krieg, der sechs Jahre dauerte und Millionen von Toten forderte, kein Wunder. Frauen halten zusammen, was übrig blieb, kompensieren, räumen auf. Auch in den Kriegen der Gegenwart sind Rollenverteilungen alles andere als „modern“. Ändert sich nicht erst dann wirklich etwas, wenn man „Menschsein“ über das Rollenmodell und das Geschlechtliche hinaus zu leben beginnt?
Auf jeden Fall. Wenn wir nicht mehr in Geschlechtern denken, wenn Stereotype, dass eine Frau besser pflegen und ein Mann besser den Hammer schwingen kann, endlich der Vergangenheit angehörten, wenn alle Arbeit gerecht verteilt wäre, je nach Fähigkeit und Neigung, erst dann hätten wir echte Gleichberechtigung. Eine schöne Vorstellung. 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe«.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel 

Helga Bürster «Luzies Erbe», Insel

Johanne ist bei Luzie, als diese stirbt. Luzie, Johannes Grossmutter, fast hundert, war zeitlebens eine, die nicht viel sprach, das «Masur’sche Schweigen» wie eine schallschluckende Glocke über die Familie hängte. Und nun ist sie tot, nimmt alle Geheimnisse mit hinein in dieses grosse letzte Schweigen. Aber Johanne lässt das, was seit Generationen über der Familie Liebe schluckte, nicht los.

Vier Generationen versammeln sich im Haus von Luzie, als diese aufgebahrt in ihrem Zimmer liegt. Ihre beiden Töchter Helene und Thea, beide selbst in die Jahre gekommen, Helenes Tochter Johanne und später auch deren Tochter Silje, die noch studiert. Erdbestattung oder Urne? Thea und ihr Mann unter dem gleichen Dach schlafen, während Luzie tot daliegt? Während sich unter Luzies Töchter wie so oft der Streit entfacht, flieht Johanne in den Keller, bügelt lieber, als sich den Streitereien der beiden auszusetzen. Johannes Schmerz und Trauer mischt sich mit der Verzweiflung darüber, allein gelassen zu sein, allein mit dem, was nie zur Sprache kam, dem Geheimnis um einen Makel in der Familie, der wie ein eitrig gewordener Splitter aus der Vergangenheit ausstrahlt.

Helene und Thea hätten einen Vater. Aber man sprach von ihm höchstens als Pronomen. Er war ein Geist. Genauso wie Luzies Bruder, der nie aus dem Grossen Krieg zurückkehrte, wie Luzies einstmals Verlobter, der von der Bildfläche verschwand. Luzies Töchter nahmen das Schweigen ihrer Mutter hin, akzeptierten, dass das, was während des Krieges geschah unter dem Deckel des Mazur’schen Schweigens ruhen sollte. Und nun, nach dem Tod ihrer Grossmutter, soll Johanne akzeptieren, was jahrzehntelang sein Gift aussandte?

Auf einem der vielen Schränke in Luzies Haus liegt ein alter metallener Koffer, seit Jahrzehnten, stets bereit, mitgenommen zu werden, aus der Angst, man würde dereinst wieder fliehen müssen. Johanne nimmt den Koffer mit nach unten in den Keller, findet Fotos, Dokumente, Briefe von Luzies Bruder von der Front – und ganz unten in einer Blechdose etwas von dem, was den Deckel lüftet.

Helga Bürster verwebt die Geschichte von Luzies Familie, Luzies Leben während und kurz nach dem Grossen Krieg und jenes des totgeschwiegenen Grossvaters Jurek, jenes polnischen Zwangsarbeiters, in den sich Luzie in den Wirren des Krieges verliebte und aus Rassenschande zwei Kinder wurden. Helga Bürster erzählt, dass der Krieg mit einer Kapitulation nicht vorbei und schon gar nicht ausgestanden ist, wie sehr sich die Verletzungen in jene einfrassen, die nach Mai 1945 das Leben wiederaufnehmen sollten. Johanne nimmt die Spur auf zu jenem Mann, den der Krieg wie einen Kiesel in deutsche Gefangenschaft spülte, an den Hof von Luzies Familie, der die Liebe genauso wie unsäglichen Kummer mitbrachte. «Luzies Erbe» ist, wie Helga Bürster in einem Nachwort schreibt, die Geschichte ihrer eigenen Grossmutter. «Wenn man mit einem solchen Schweigen aufwächst, lernt man zu lauschen», schreibt Helga Bürster. «Luzies Erbe» ist das Erbe von Generationen. Deshalb so wichtig, dass davon erzählt wird. Und Helga Bürster tut dies hervorragend!

© Uwe Stalf

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/NDR sowie vom SWR einige Hörspiele von ihr ausgestrahlt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau