Dacia Maraini «Ein halber Löffel Reis», Folio

Die grosse italienische Schriftstellerin Dacia Maraini verbrachte einen Grossteil ihrer Kindheit in Japan. Weil sich aber Japan damals an der Seite Hitlers und Mussolinis in ihrem ganz eigenen Nationalismus sonnte, war die Familie der Schriftstellerin gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden, was zur Folge hatte, dass man sie mit vielen anderen in ein Konzentrationslager steckte. „Ein halber Löffel Reis“ ist alles andere als eine Abrechnung.

Was, wenn eines Tages Soldaten vor der Wohnungstür stehen und die ganze Familie auffordern, das Nötigste in jeweils einen Koffer zu packen und in den Lastwagen vor der Tür zu steigen? Ein Szenario, das millionenfach immer und immer wieder Biographien erschüttert und Menschen in eine Zukunft verfrachtet, die ungewisser und bedrohlicher nicht sein kann. Traumatische Erlebnisse, die das Gift hätten, selbst mit dem scheinbaren Glück des Überlebens, ein Leben irreparabel zu beschädigen.

Dacia Maraini wurde zusammen mit ihrer Familie für Jahre in ein japanisches Konzentrationslager weggesperrt, weil sich ihr Vater geweigert hatte, die japanischen Militärgesetze zu akzeptieren. Die Familie erlebte Ungeheueres; Hunger, Krankheit, Eiseskälte, Schikanen, Misshandlungen und die permanente Drohung, sie irgendwann umzubringen. Ausgerechnet die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, hunderttausendfaches Leid, brachten in einem endlos scheinenden Weltkrieg zumindest in Japan eine Wendung. Die Familie wurde freigelassen. Ihr gelang die Heimreise nach Italien, nach Sizilien.

Dacia Maraini «Ein halber Löffel Reis», Folio, 2025, aus dem Italienischen von Ingrid Ickler, 240 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-85256-910-9

Was Dacia Marainis Familie während den Jahren in diesem Konzentrationslager erlebte und mit in ihr langes Leben als Schriftstellerin zu tragen hatte, hätte allen Grund für Bitterkeit gehabt. Aber was die Schriftstellerin in ihrem Buch erzählt, ist nicht einmal ein Verarbeitungsversuch, allerhöchstens eine Vergegenwärtigung. Dacia Maraini erzählt aus der Perspektive der Reife, der Weisheit. Und Dacia Maraini erzählt liebend, was bei der Lektüre ihres Buches als Grundton durch alles klingt; die Liebe zu diesem Land und seiner Kultur, die Liebe zu ihrer Familie und deren Unerschütterlichkeit, selbst in Zeiten grössten Hungers und der Nähe des Todes, die Liebe zu den kleinen Dingen, den Gesten, den Worten, den Geschichten, der Sprache. Was die kleine Dacia, ihre ganze Familie, damals am Leben hielt, ist das gleiche, dass sie über die Jahrzehnte schreiben und kämpfen liess. Wenig verwunderlich, dass Dacia Maraini in Italien zu einer Ikone der Frauenbewegung, der Gleichberechtigung wurde.

In „Ein halber Löffel Reis“ erzählt sie von den Jahren bis zur Befreiung aus der Gefangenschaft. Sie schildert alles, ohne dem Schrecken zu huldigen. Nicht einmal die drangsalierenden Wärter werden als Monster und Unmenschen geschildert. Maraini richtet den Blick auf ihre Familie, die starken Bindungen untereinander, jene wachsende Kraft in ihr, überleben, leben zu wollen. „Ein halber Löffel Reis“ ist aber auch nicht blosses Erzählen. Eingebunden in das Erinnern sind essayistische Passagen über Literatur, Religion, Musik, über Leugner und Fanatiker, über Menschrechte. „Ein halber Löffel Reis“ ist durchsetzt von ihrem Engagement, erzählt, wie aus dem Leben in absoluter Isolation jenes Leben wurde, mit dem sich die Autorin über Jahrzehnte einen Namen machte.

Dacia Maraini ist keine Verwundete. Das macht die Lektüre ihres Buches zu einem grossen Gewinn. „Ein halber Löffel Reis“ ist eine Liebeserklärung an die Kraft der Familie, die Stärke eines Lebens – aber auch die Liebeserklärung an Japan, das Land ihrer Kindheit. Als das Mädchen nach dem Krieg nach Italien zurückkehrte, musste sie ihre Muttersprache erst wieder neu verinnerlichen. Japan war und ist das Land ihrer Kindheit. Aber vielleicht ist „Ein halber Löffel Reis“ auch ein Manifest der Versöhung. Und ein Fingerzeig gegen all das, von dem viele glauben, es wäre nach dem letzten Weltkrieg von der Bildfläche verschwunden. Dabei zieht sich das Netz an Konzentrationslagern in der Gegenwart wie das Netz eines Krebsgeschwürs über den ganzen Planeten, als Auswuchs dessen, was Unterdrückung, Willkür, Nationalismus und Diktatur anrichten können.

Veranstaltung im Literaturhaus Zürich, in Kooperation mit dem Istituto Italiano di Cultura Zurigo und der Società Dante Alighieri Zurigo

Dacia Maraini, eine der wichtigsten Stimmen Italiens sowie feministische Pionierin. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Aufgrund der antifaschistischen Haltung des Vaters in einem japanischen Gefangenenlager interniert, frühe Erfahrung von Hunger. Sie war eine der Ersten, die über Gewalt an Frauen schrieb, begründete experimentelle Theater und reiste mit P. P. Pasolini für Filmprojekte nach Afrika, schrieb Drehbücher u. a. für Margarethe von Trotta.

Ingrid Ickler studierte nach Stationen in Paris, Rom und Ferrara Übersetzungswissenschaften in Heidelberg und übersetzt heute aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Daneben arbeitet sie als Autorin und Moderatorin.

Dacia Maraini «Tage im August», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Henning Klüver

Dacia Maraini «Tage im August», Folio

Als Grande Dame der Italienischen Literatur 1962 als 26jährige ihr Debüt „La vacanza“ auf den Markt brachte, schlug das Buch ein wie eine Bombe und löste einen Skandal aus. Über 60 Jahre nach seinem ersten Erscheinen hat dieser Roman nichts von seinem Glanz, seiner Einzigartigkeit verloren.

Dacia Maraini ist auch mit ihren 87 Jahren noch immer eine Kämpferin für die Sache der Frau, auch wenn sie sich von gewissen Strömungen der Gegenwart distanziert. Sie stellt Frauen ins Zentrum, die sich aus ihren vorgeschriebenen Rollen befreien wollen. Dacia Marainis erster Roman „Tage im August“ stellt eine junge Frau ins Zentrum, die ihr Leben, ihre Entdeckungsreise des Lebens, ihre Sexualität selbstbestimmt und eigenständig erobern will. „Tage im August» spielt in den Sommerferien 1943 am Meer. Die Welt ist im Umbruch. Die Alliierten haben sich im Süden Italiens festgesetzt. Mussolini tut alles, um an der Macht zu bleiben, aber die Allianz mit Nazideutschland bröckelt, auch wenn noch immer italienische Soldaten an die Fronten im Norden entsandt werden. Immer wieder dröhnen amrikanische Bomber über den Strand Richtung Rom.

Dacia Maraini «Tage im August», Folio, 2024, aus dem Italienischen von Ingrid Ickler, 235 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-85256-894-2

Für die Sommerferien darf Anna das Internat in der Stadt verlassen. Sie wird mit dem Motorrad von ihrem Vater abgeholt, der ihr unterwegs nach Hause befiehlt, mit der neuen Mutter freundlich zu sein. Wenn sie nicht zuhause ist, erkundet sie den Strand, hängt mit Gleichaltrigen herum und probiert die Wirkung ihrer Erscheinung auf all die gierigen Blicke vieler älterer Männer aus. Anna ist 14 und will wissen, was aus den Momenten am Strand zu holen ist. Sie ist alles andere als vorsichtig und zurückhaltend. Ich begleite Anna in Situationen, die mehr als nur knistern und jederzeit entgleiten könnten. Und doch bleibt Anna passiv, ihrer Wirkung aber voll bewusst. Nichts von der damals noch weitverbreiteten Vorstellung, ein junges Mädchen hätte die schiere Pflicht, vorsichtig und zurückhaltend, brav und anständig zu sein. Ihre Selbstbestimmtheit ist ihr Privileg. So ganz anders, als das, was man(n) damals wie heute noch vom Frausein erwartet.

In Dacia Marainis Roman scheint es kein Morgen zu geben. Weil man im tiefsten Innern weiss, dass bald kein Stein auf dem anderen bleiben wird, wiederholt man mantraartig, dass der Krieg nicht mehr lange dauern wird. Was auf den italienischen Faschismus folgen wird, auf die drohende Niederlage, den Zusammenbruch des momentanen Machtgefüges, damit will man sich nicht auseinandersetzen. Nicht einmal Annas Vater, der als Werkstattchef in der Wohnung unter seinem Chef lebt und seine neue Frau regelrecht bändigen muss, weil diese den Umsturz auch in der kleinen Firma wittert, ein Umsturz zu ihren Gunsten. Man lebt mit permanenter Angst, die jungen Männer mit der, doch noch eingezogen zu werden, die Einwohner vor den drohenden Bomben und viele mit dem Untergang der aktuell Mächtigen die zu erwartenden Konsequenzen.

Dacia Maraini erzählt in „Tage im August“ konsequent aus der Sicht einer ganz jungen Frau, (Ganz hinten im Buch steht: Auf Wunsch der Autorin wurde für diese deutsche Ausgabe das Alter der Protagonistin von elf auf vierzehn Jahre geändert.) eines Mädchens, dass sich ihrer Wirkung voll und ganz bewusst ist und die wissen will, was sie damit auslösen kann. Ich las den Roman mit grossem Erstaunen, denn in keiner Zeile, nicht einmal in der Art des Erzählens verrät der Roman sein Alter. Er ist so jung und frech wie damals, auch wenn er heute keinen Skandal mehr auslöst. „Tage im August“ ist unbedingt lesenswert. Man riecht ihn!

Dacia Maraini, eine der wichtigsten Stimmen Italiens sowie feministische Pionierin. Geboren 1936 in Fiesole, aufgewachsen in Japan und Sizilien. Aufgrund der antifaschistischen Haltung des Vaters in einem japanischen Gefangenenlager interniert, frühe Erfahrung von Hunger. Sie war eine der Ersten, die über Gewalt an Frauen schrieb, begründete experimentelle Theater und reiste mit P. P. Pasolini für Filmprojekte nach Afrika, schrieb Drehbücher u. a. für Margarethe von Trotta.

Ingrid Ickler studierte nach Stationen in Paris, Rom und Ferrara Übersetzungswissenschaften in Heidelberg und übersetzt heute aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Daneben arbeitet sie als Autorin, Moderatorin und Yogalehrerin.

Beitragsbild © Mauro Ruffini