Ursula Fricker «Fangspiele», Atlantis

Vielleicht beschreibt „Familie“ das engste Band, den grössten Anker, mit dem wir uns durch ein Leben mit vielen Ungewissheiten trauen. Kein Wunder, ist kein Gefüge derart mit Idealen, Vorstellungen und Erwartungen behaftet wie „Familie“. Ursula Fricker lotet in ihren Romanen immer wieder dieses filigrane Gefüge aus. „Fangspiele“ ist ein Roman über die Blendungen der „Freiheit“.

Was Freiheit bedeutet oder wie frei wir uns in Wirklichkeit in unserem Leben bewegen, darüber streitet nicht nur die Politik und die Philosophie. Wie sehr die Freiheit des einen zur Last des andern werden kann, davon gibt es unzählige kleine und grosse Beispiele. Beispiele, die sich bis zur Katastrophe auswachsen. Nach welchem Massstab agieren wir? Was lässt uns etwas tun und was verhindert, etwas zu tun? Wie sehr lassen wir uns in unserem Leben einschränken, um Konventionen zu genügen, Rollen einzunehmen? Wie weit haben wir das Recht, unsere eigenen Bedürfnisse, unsere Wünsche zur allumfassenden Rechtfertigung unseres Tuns zu erklären?

Ursula Fricker «Fangspiele», Atlantis, 2024, 224 Seiten, CHF ca. 30.00,
ISBN 978-3-7152-5036-6

Ines und Lenni sind ein modernes Paar, beide erfüllt in ihrem Beruf, auch wenn sich beide im Laufe ihrer Karriere anzupassen hatten. Sie kauften sich am Stadtrand Berlins ein Haus über einem kleinen See, renovierten es mit Hilfe ihrer Freunde zum grössten Teil eigenhändig und freuen sich am musikalischen Feingefühl ihrer einzigen Tochter Lea. Eigentlich passt alles. Eigentlich. Scheinbar.
Ganz zufällig, wegen einer Autopanne, lernen sie Edda kennen, eine charismatische, eigenwillige Frau in ihrem Alter, die mit einem Mal in ihr unaufgeregtes Leben tritt und alles aufmischt. Edda bewegt sich in der Theaterszene, wirbelt durch die Kunstwelt. Nicht nur auf der Bühne bleibt kein Stein auf dem andern, lösen sich Gewissheiten auf, reisst die Action Gewachsenes in ihren Strudel.

Auch ihre Tochter Lea schält sich aus ihrer Rolle als braves Kind, emanzipiert sich mehr und mehr, hängt ab mit ihrer Freundin Peggy. Plötzlich ist der Wunsch nach einem Tatoo viel dringlicher als das tägliche Cellospiel, obwohl Leas Lehrerin dem Mädchen ein grosses, auf keinen Fall zu vernachlässigendes Talent zuspricht. Auch Lenni hängt mit seinen Gedanken der einen oder andern verpassten Chance nach, nicht zuletzt dem versäumten Einstieg in die Forschung. Das Wartezimmer seiner Hausarztpraxis ist zwar immer voll. Aber auch er fühlt sich mehr und mehr in einem Zustand des Wartens.

«Was ist Einbildung und was ist real?»

Bis sich Lennis Frau Ines mehr und mehr von ihrer neuen Freundin Edda in ihre Theaterwelt einspannen lässt. Bis Ines mehr und mehr klar zu werden scheint, dass ihre eigentliche Berufung in den umtriebigen Theaterprojekten ihrer neuen Freundin liegt, Ines immer öfter abtaucht, manchmal auch für ein paar Tage. Bis man Lenni zu verstehen gibt, dass Ines auch an ihrem Arbeitsplatz das eine oder andere Mal unentschuldigt fehlte. Bis Ines bei einem Auftritt ihrer Tochter Lea trotz eines Versprechens wegbleibt. Nicht nur, dass sich Ines mehr und mehr aus dem Familiengefüge entfernt. Lenni weiss nicht, wie ihm geschieht. Was geschieht mit seiner Frau? Welche Rolle spielt die Frau, der man einst am Strassenrand aus der Patsche half? Warum wird aus Zweisamkeit, aus einer Familie plötzlich ein Trümmerfeld, in dem die letzten Gewissheiten einzustürzen drohen?

Und als Jasper, ein Freund aus alten Tagen ihm ein Angebot zurück in die Forschung macht, Lea die Aufnahmeprüfung an ein angesehenes Musikgymnasium schafft und sich die Bande zwischen Lenni und seiner Tochter Lea in der Not mit einem Mal verfestigen, als Lenni mehr und mehr hinnehmen muss, dass der Kampf um seine Ehe, die Mutter seiner Tochter aussichtslos wird, beginnen jene Fragen aufzuflammen, denen er sich ein Leben lang verweigerte.

„Fangspiele“ ist eine heftige Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen der Zeit: Wo beginnt Manipulation? Was bedeutet „persönliche Freiheit“? Wie weit kettet uns Verantwortung? Ursula Frickers literarische Auseinandersetzung zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns mit fahrlässiger Sicherheit bewegen. Wie schnell Gewissheiten kippen können. Ursula Frickers Roman ist fein gesponnen und zeigt gekonnt, wie sehr wir uns in Automatismen bewegen, wie sehr wir gefangen sind von uns selbst. Wie schnell die Freiheit des einen zum Zwang des andern wird. Wie sehr die Befreiung dort zur Katastrophe hier werden kann.

Unbedingt lesen!

Interview

Keiner meiner Lebensabschnitte zeigte mir deutlicher, wie verwundbar das Gefüge „Familie“ ist, wie die Corona-Zeit. Wie verletzlich. Wie ausgesetzt. Leben wir nicht viel zu sehr in scheinbaren Gewissheiten? Richten wir uns nicht viel zu selbstverliebt ein Leben ein, das gefälligst nach unseren Wünschen und Bedürfnissen zu funktionieren hat?

Interessant an der Corona-Zeit war ja, dass Familien, von denen man glaubte, sie funktionierten recht gut, durch die erzwungene permanente Nähe an ihre Grenzen kamen. Zumindest in meinem Bekanntenkreis konnte ich das beobachten. In normalen Zeiten ist man ja selten so viel zusammen, man arbeitet, die Kinder sind in der Schule, man trifft sich vielleicht morgens zum Frühstück und abends zum Essen. Und plötzlich teilt man sich Ort und Zeit vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Die kleinen Freiheiten, die Nischen, die man sich geschaffen hat, werden ausgefüllt von der Präsenz der anderen. Man fühlt sich, man ist, unter Dauerbeobachtung. Leise und vorsichtig stellt sich die Frage, ob ein Zusammenleben über Jahrzehnte überhaupt nur klappt, indem man sich den grössten Teil der Zeit aus dem Weg gehen kann.

Wenn man länger mit jemandem zusammen lebt, lernt man den andern auf eine bestimmte Weise kennen. Man ist gezwungen, ihn, zumindest teilweise, in das eigene Selbst zu integrieren. So ergeht es auch Lenni und Ines. Gewiss- und Geborgenheit, aber auch Abhängigkeiten und Gewohnheiten ergeben ein Lebensgefüge. Vielleicht scheint es zunächst eine Anmassung, sich das Leben möglichst nach den eigenen Wünschen und Bedürfnissen einrichten zu wollen, aber es ist doch auch zutiefst menschlich. Im alltäglichen Zusammenleben allerdings, auch ohne Corona, sind Kompromisse unerlässlich. Gut, wenn das Zurückstecken gerecht verteilt ist. Ist es aber in den seltensten Fällen. 

Im Roman gibt es ja Verweise auf die Mutter von Ines, Grete, auch sie Ärztin, eine kernige, selbstbewusste Frau, die mit einem Mann verheiratet ist, der sie emotional misshandelt: Sind das nun Gretes Bedürfnisse, die dieser Mann abdeckt, oder warum bleibt sie bei ihm – und zwar freiwillig. Selbe Frage stellt sich bei Ines und Edda: Warum verharrt eine bisher selbstbestimmt lebende Frau in einer toxischen Freundschaft, obwohl sie diese jederzeit beenden könnte. „Edda ist nicht Mafia“, reflektiert Lenni an einer Stelle, „sie würde kein Rollkommando schicken, im Gegenteil, sie würde Ines morgen früh schon ersetzt und sie abends vergessen haben …“ Mich haben die beiläufigen psychologischen Mechanismen interessiert, die Menschen (jenseits ökonomischer Zwänge) veranlassen, illiberale Bedingungen nicht nur zu tolerieren, nein, sie sogar zu suchen.

Das echte „Haus am Hang“ in der Nähe von Buckow, in dem die Geschichte teilweise spielt. Ursula Fricker entdeckte  es vor vielen Jahren. Bis heute blieb es unverändert. © Ursula Fricker

Edda bringt das Leben von Lenni und Ines umfassend durcheinander. Für Ines die Befreiung, für Lenni die Katastrophe. «Was ist Einbildung und was ist real?“, schreibst du in deinem Roman. Ist nicht jede Wahrheit eine ganz persönlich gefärbte? Eine nur aus der persönlichen Geschichte zu begreifende?

Der Roman, aus Lennis Perspektive erzählt, ist ja auch eine Manipulation (des Lesers, der Leserin). Was Einbildung ist und was real, diese Ambivalenz durchzieht die ganze Geschichte. Auch Lennis Forschungsgegenstand, Placebo-Einsatz in der praktischen Medizin, streift diesen Komplex: Einbildung kann zu einer durchaus realen Verbesserung unterschiedlichster Beschwerden beitragen. Und ja, jede Wahrheit ist natürlich eine persönlich gefärbte. Aber was bedeutet „persönlich“, gibt es so etwas wie eine reine eigene Wahrheit überhaupt? Auch die eigene Wahrheit ist ja beeinflusst von Dingen, die wir lesen oder hören, von Moden und Trends. Von Menschen, die wir bewundern, denen wir nacheifern, mit denen wir uns identifizieren und vergleichen. „…wo verbindet der fremde Einfluss sich mit dem eigenen Wollen, und wie viel Mischung verträgt ein eigener Wille, um nicht plötzlich rot statt blau zu sein?, fragt Lenni an einer Stelle. Ein schmaler Grat also. Man spricht heute ja oft von „Blasen“.  Je nachdem in welchem Umfeld wir uns bewegen, kann die „Wahrheit“ einer solchen Gruppe als ureigene Meinung/Ansicht empfunden werden bzw. ist sicherlich die Neigung wiederum sehr persönlich, welchem Umfeld man sich zugehörig fühlt. Früher gab es dieses Phänomen der „Blase“ natürlich auch schon, aber die Wucht der gegenseitigen Bestärkung, die Ausschließlichkeit und auch die Unversöhnlichkeit potenziert sich, seit wir Social Media haben – gepaart mir einer zeitgeistigen Überinterpretation des eigenen Gefühls bzw. der Unfähigkeit, Gefühle mittels rationaler kritischer Distanz zu reflektieren.

Recherchereise 2019 der Autorin, Hiddensee, der Leuchtturm – wenn man genau hinsieht. © Ursula Fricker

Dass sich Katastrophen kulminieren können, wissen wir aus unserem Leben selbst. Und dass der Satz „Eines Tages wirst du wissen, wie sehr du in jenen Momenten gewachsen bist“ dann nichts Tröstliches hat, wissen wir auch. Wir wissen auch sehr wohl, wie schnell Gewissheiten wegbrechen können. Und trotzdem öffnen sich Abgründe. Warum sind wir so harmoniebedüftig?

Gewissheit ist ja erstaunlich selten mit „wirklich wissen“ assoziiert und noch seltener mit Wissenschaft, vielmehr mit Erfahrung, mit Glauben, Vertrauen, mit Gefühl. Gewissheit ist also eine subjektiv geprägte, persönliche oder auch gruppenbezogene „Wahrheit“. Nehmen wir Gott als wohl bekanntestes Beispiel. Für Menschen im Mittelalter war Gott eine Gewissheit – durch vom Glauben geprägte Erfahrungen. Phänomene schrieb man umstandslos dem göttlichen Wirken zu. Gott (der Klerus) als unhinterfragbare Führungsinstanz lenkte und überwachte ein dichtes moralisches Regelwerk und verfügte entsprechende Sanktionen. Dem Einzelnen bot sich so eine Art Lebenskorsett. Eng geschnürt, aber auch Halt gebend. 

Emanzipatorische Strömungen, auch die Trennung zwischen Kirche und Staat im Zuge der europäischen Aufklärung/Säkularisierung haben uns von diesem moralischen Rigorismus nach und nach befreit. Heute sehen wir, zum einen in den USA, zum andern in islamisch bzw. islamistisch geprägten Ländern, die nie eine Aufklärung im westlichen Sinn durchlaufen haben, aber dennoch eine Weile recht freie Lebensweisen pflegten, einen beispiellosen religiösen Backlash. In den westlichen Gesellschaften, die USA habe ich ja schon erwähnt, aber auch bei uns, scheinen aktuell ebenfalls diverse religiöse oder quasireligiöse Entwicklungen Fahrt aufzunehmen. Autoritäre Führungsfiguren, seien sie dem rechten Spektrum zuzurechnen, seien es Verfechter moralisierender Sprach- und anderer ideologisierter Regelkomplexe, die absolut gesetzt werden. Parallel ist eine Romantisierung vermeintlicher Befreiungsbewegungen zu beobachten – bis hin zur Kontextualisierung von nackter Barbarei und der Rechtfertigung von politisch-religiösen Agenden, die uns allen eigentlich den Angstschweiss auf die Stirn treiben sollten. Das ist schon einigermassen absurd. 

Manchmal scheint mir, als ob kaum jemand so recht damit klarkäme, dass die Moderne dem Einzelnen viel Freiheit schenkt, aber auch viel Ambivalenz auferlegt. Dass das Böse nicht auf der einen, und das Gute auf der anderen Seite zu verorten ist. Vielleicht ist Freiheit ja eine so ungeheure Zumutung für den Menschen, dass er sich lieber autoritären Strukturen beugt, um dann umso heftiger von Freiheit zu träumen. Ich will das eigentlich nicht glauben.

Notizbuch von Ursula Fricker, © Ursula Fricker

Lenni glaubt an Manipulation; Edda ist die Zerstörerin. Lea, Ines und Lennis Tochter, versteht die Welt nicht mehr und verlässt in ihrer Not den Weg der Konfrontation, weil sie reflexartig spürt, dass mit dem Verschwinden ihrer Mutter ihr Boden zu Teibsand werden könnte. Selbst die scheinbare „Befreiung“ von Ines ist ein Klammern. Das Klammern an einen Traum, eine Idee. Ist nicht alles die Hoffnung auf Rettung?

Das Interessante an Ines ist ja, wie sie mit ihrer kognitiven Dissonanz umgeht bzw. nicht umgeht. Einerseits ist da Ines` bisherige, ausgesprochen selbstbestimmte Weise zu leben. Andererseits Eddas Theater, Avantgarde, Edda eine charismatische Figur, ein Guru, wenn man so will, die Opferbereitschaft fordert, die sich willkürliche Bestrafungen erlaubt, manipulativ. Warum möchte Ines so unbedingt mit Edda befreundet sein, zu dieser Gruppe um Edda gehören? Ist es wirklich nur der Traum, endlich Theater machen zu können, oder spielt da auch ein sehr eitles Motiv mit rein; möchte sie einfach gerne einem elitären Kollektiv angehören, ist es eine Art Fetischisierung des Aussergewöhnlichen, Eddas Machtmissbrauch ein Zug, der genialen Menschen halt zusteht? 

Will man irgendwo dazugehören, muss man sich im Grunde ja immer den dort herrschenden Bedingungen anpassen. Umso dringender dieser Wunsch, desto unfreier macht man sich selber – und umso exklusiver ein „Club“, desto verzweifelter möchte man ihm angehören, nicht selten auch um den Preis der Selbstentmündigung. 

Ja, Lea ist der Lichtpunkt in dieser Geschichte. Zumindest geht mir das so. Ein Mädchen, eine junge Frau, die unter den Entwicklungen in der Familie zwar leidet, aber intuitiv eine sehr eigenständige Stärke entwickelt. Verantwortung für sich selber übernimmt. Nicht primär nach der Schuld der anderen fragt, die Rettung nicht delegiert, sich selber rettet. Sie hält sich an das, was sie gut kann: das Cellospiel.  

Ines verschwindet aus ihrem alten, angestammten Leben. Wie oft spielen wir mit dem Gedanken, wie es wäre, wenn wir aus allen Pflichten und Zwängen aussteigen würden, kompromislos und unumstösslich. Wir kennen solche Biographien. Manche werden gar zu Heiligen. Und trotzdem zementieren wir unser Dasein, bis uns das Gewicht den Atem nimmt?

Der radikale Bruch. Die ultimative Befreiung. Bei Ines ist es ein wenig komplizierter. Sie geht ja nicht ins Offene; wenn man Lenni glauben will, vieles spricht dafür, begibt sie sich aus einer recht gleichberechtigten Partnerschaft sehenden Auges in eine manipulative Hölle. Mehr dazu habe ich ja oben schon ausgeführt. 

Wenn jemand aber aus einem Impuls heraus einfach geht, dann möchte man ihm unbedingt folgen. Man möchte sehen, wie er sich durchschlägt, wie er an Geld oder Essen kommt, wo er schläft. Es scheint sich, dem Tramp ähnlich, heute hier, morgen dort, um die totale Freiheit zu handeln. Ist es natürlich nicht. Aus Pflichten lässt sich vielleicht aussteigen, aber nicht aus Zwängen: zu essen, zu schlafen. Ich würde sogar sagen, die Beschaffung von Essen, das Suchen eines sicheren Schlafplatzes, mit anderen Worten, das Stillen der elementarsten Bedürfnisse, kann zu einer echten Plage werden, der Überdruss bleibt nicht aus. So oder so, das Leben hat Längen. Über weite Strecken passiert nicht viel. Und man gewöhnt sich leider auch an das aufregendste Leben. Sind das Gründe, nicht davon zu träumen? Natürlich nicht. Die Idee, einfach alles hinter sich zu lassen, ist wohl nichts weniger als eine archaische Sehnsucht. Esoteriker würden sagen, das Nomadische in uns. 

Und was uns hält, ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Nach Schutz. Nach Kontinuität, Gewissheit, Struktur. Diese Bedürfnisse oder auch Notwendigkeiten, besonders wenn man Kinder hat, sind wohl letztlich doch stärker als eine Freiheit, die ja eigentlich auch gar keine echte Freiheit ist.

Dein Roman ist auch ein Buch über Wahrnehmung. Ein Thema, dass wie nie zuvor diskutiert wird, und zwar nicht bloss theoretisch oder philosophisch. Selbst Kriege werden mit kollektiver, ideologisierter Wahrnehmung gerechtfertigt. Ist Schreiben ein Versuch der Wahrnehmung?

Wahrnehmung ist ja eng mit Wahrheit verzahnt. Wie wir oben gesehen haben, verleitet die Wahrnehmung aus einer bestimmten Perspektive heraus dazu, diese spezifische Sicht der Welt auch für wahr zu halten. Und möglicherweise den Rest der Welt zu zwingen, dasselbe zu tun. Schreiben ist der Versuch herauszuarbeiten, wie unterschiedlich Wahrnehmung funktionieren kann. Literatur leiht dem Leser, der Leserin, fremde Augen, verführt zur Empathie, erstmal neutral verstanden. Die Definition von Empathie ist ja zunächst nur: „Die Fähigkeit und Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu verstehen und nachzuempfinden.“ (Wikipedia) Also bedeutet Empathie nicht nur, beispielsweise den Schmerz einer anderen Person mit- oder nachempfinden zu können, auch den Hass oder die Gleichgültigkeit eines Mörders. Das hat nichts mit rechtfertigen zu tun. Wir lernen daraus viel. Für unser eigenes Leben und vielleicht auch Über-leben.  

Dass wir uns in der Literatur sowohl als Schreibende als auch als Lesende in andere, fremde Wahrnehmungswelten versetzen dürfen, hat ein extrem wertvolles humanes Potential. Literatur ist eine Art Training, Ambivalenzen auszuhalten. Literatur weiss nicht schon, sie fragt. Sie muss frei sein von Instrumentalisierung. Ein Essentialismus der behauptet, nur Betroffene könnten beispielsweise Unterdrückungserfahrungen begreifen und logischerweise auch schildern (oder übersetzen) hat in der Literatur nichts zu suchen. Die oftmals verzerrte Wahrnehmung gruppenbezogener Perspektiven als einzige Wahrheit – das kann niemand wollen. Literatur ist zu soviel mehr imstande als der Exekution politischer Agenden; sie kann uns von der Vielfalt menschlicher Möglichkeiten erzählen, weit jenseits der kleingeistig-ängstlichen Vermeidung von Verstörung. Lea, im Kleinen, macht es vor: Das Leben verletzt, aber man kann darüber hinwegkommen.  

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und «Gesund genug» (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt im Herbst 2022 mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für «Fangspiele» erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Ursula Fricker «Topografie der Kindheit – Über kleine und große Bedürfnisse», Plattform Gegenzauber

Unsere Mutter ist vor zwei Monaten ins Altersheim gezogen, und mein Bruder hat mir aus ihrer letzten Wohnung eine Kiste mitgebracht, randvoll mit Dingen, die man ungerne einfach entsorgt. Fotoalben, Schulzeugnisse, Briefe, außerdem eine Wanderkarte: UNTERSEE HEGAU-RHEIN. Es ist diese Karte, die er, kaum hat er die Kiste hingestellt, rausfischt und sie wie eine besonders fette Beute auf den Tisch klatscht. Und dabei grinst. Oder lächelt. Eine Wanderkarte 1: 50`000, 1963 herausgegeben vom Verkehrsverein Untersee und Rhein, Verkaufspreis: Fr. 3.50/DM 3.30. Sie ist speckig-vergilbt und alle Falzkanten wurden irgendwann mit Klebestreifen verstärkt, die sich an verschiedenen Stellen längst wieder gelöst haben.

Riechst du das?, fragt mein Bruder und hält sich die Karte unter die Nase. Gib her, sage ich. Und tatsächlich. Das Papier riecht noch, was, wonach? Es riecht nach Lavendel, Sandelholz, eine Komponente Leder (Wanderschuhe). Es riecht nach dem Rosmarin-Öl, mit dem Vater sich abends die Hände einrieb. Mühelos hat der Geruch die Zeiten überdauert – mein Bruder ist jetzt in seinen Sechzigern, ich unwesentlich jünger. Vorsichtig, als wäre dieses fragile Gebilde unendlich kostbar, falte ich es auseinander. Und da liegt sie, die Topografie unserer Kindheit.

Jeden Samstagabend saß Vater am Wohnzimmertisch über die Karte gebeugt und plante Routen. Er plante die Wege, die uns am Sonntag alle unsere Kräfte kosten sollten. Es waren nicht einfach Spaziergänge, nach denen ihm der Sinn stand, es waren Gewaltmärsche, die ihn und uns allwöchentlich an den Rand der Erschöpfung brachten, nicht selten darüber hinaus. Bei Einbruch der Nacht stolperten wir noch immer durch irgendeinen Wald, weil Vater sich zeitlich verkalkuliert oder wir uns schlicht und ergreifend verirrt hatten. Trotz Karte. Es war, als ob er sich jeden Sonntag erneut die überragende Leistungsfähigkeit seines Körpers beweisen müsste.

Nun war wandern damals ja noch keine besonders coole Freizeitbeschäftigung. Meine Klassenkameradinnen und Kameraden fuhren samstags, natürlich im Auto, mit ihren Eltern ins Shoppi nach Spreitenbach, sonntags schliefen sie lange, es gab ein üppiges Mittagessen, man spazierte maximal eine Stunde dem Rhein entlang und gegen vier Uhr gab es schon wieder Kaffee und Kuchen. Abends Fernsehen. Wir hingegen standen bei jedem Wetter vor sieben Uhr auf, um den Zug nach Immendingen oder Tuttlingen nicht zu verpassen. Im Rucksack Vollkornbrot, Äpfel, Möhren. Und die Karte.

Unser ökologischer Fußabdruck, hätte man dergleichen damals schon gekannt, wäre sozusagen Unternull gewesen; wir waren Vegetarier, industriell verarbeitete Lebensmittel waren tabu. Wir hatten kein eigenes Haus, besaßen weder Fernseher noch Auto, fliegen kam selbstverständlich nicht in Frage. Ein gutes Leben war für unseren Vater das Gegenteil dessen, was die Mehrheit in den siebziger/achtziger Jahren als gutes Leben empfand. Statt für mehr, war er für weniger. Oder: Er wollte immer mehr vom Weniger.

Heiß und innig war dabei sein Hass auf die degenerierten Massen, wie eine Monstranz trug er seine Minderheitenposition vor sich her, und er bestand darauf, auch noch innerhalb des Kreises der paar Veganer und Vegetarier, die es damals gab, eine Minderheit zu sein. Für ihn war niemand ernst zu nehmen, der auch nur das winzigste Bisschen kompromissbereiter war als er.

Warum hatten wir uns nicht gewehrt, frage ich mich. Warum hat sich mein Bruder nicht eines Sonntagmorgens trotzig auf den Boden gesetzt: Nein, keine Lust, heute komme ich nicht mit. Oder Mutter: Ich will aber jetzt auch endlich ein Auto! Unvorstellbar. Sünde wäre das gewesen.

Seine Obsession sicherte unser Vater ab mit einer Art Moral. Mit einer Moral der totalen Vernunft, die er ganz exklusiv für sich beanspruchte. Schaut mal, sagte er beispielsweise, der saure Regen! Und zeigte auf eine Tanne mit wunderbar grün sprießenden Trieben. Wie kann ein vernünftiger Mensch, fügte er hinzu, heutzutage noch Auto fahren und die Luft verpesten, während der Wald verreckt. Wir sahen hin, wir versuchten, gelbe Stellen zu finden im grünen Nadelkleid des Baumes, Zeichen der Krankheit, des Verfalls, wir wollten gelbe Stellen entdecken, unbedingt. Ja, dort, rief mein Bruder und dann sah ich es auch, ganz deutlich: gelbe Stellen im großen Grün. Und froh waren wir, nicht schuld am Verderben des Waldes und dem absehbaren Verderben einer Menschheit zu sein, die, meinte Vater, das Verderben mehr als verdient hat.

Aber er hatte doch recht, sage ich, wegen der Umwelt, heute ist das doch keine Frage mehr, manchmal muss man halt extrem sein, damit was in Gang kommt, oder nicht? Mein Bruder beugt sich über die Karte. Erinnerst du dich, als noch Dampfloks fuhren, sagt er, statt einer Antwort, und legt den Finger auf den Bahnhof Tuttlingen. Ja, sage ich, Dampfloks, die haben ja auch krass die Luft verpestet. Du soo klein, zeigt er mit der flachen Hand knapp überm Boden. Was du für einen Aufstand gemacht hast, wenn wir von einem Wagen in den anderen mussten. Seitlich diese dicken schwarzen Gummiwülste, über die scheppernde Blechbrücke, während Dampf durch die Zwischenräume hochfauchte. Ich erinnere mich nicht. Du hast gebrüllt, lacht er, zetermordio, wir mussten aussteigen und außen rumgehen. Und das findest du jetzt lustig, sage ich. Damals war mein Bruder ja wesentlich älter als ich, vier Jahre. Ich erinnere mich noch immer nicht, aber glaube ihm. Und bin erstaunt, dass ich derart unvernünftig Theater gemacht haben soll – und auch noch Erfolg hatte damit. So gnädig, weiß ich, wäre Vater ein paar Jahre später nicht mehr gewesen, grob hätte er mich über das Blech gezerrt, klar, war ja schließlich keine Hölle, nur Physik. Ein paar Jahre später hätte ich das verstanden.

(Erstmals erschienen als Carte Blanche im „Kulturtipp“)

Eine Frau, mitten im Leben, ist bereit, für die Kunst alles aufzugeben – sogar sich selbst. «Fangspiele» ist ein packend erzählter Roman über manipulative Macht und die bestürzende Bereitschaft, ihr zu verfallen. Erscheint im Frühling 2024!

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, hat bisher fünf Romane veröffentlicht, u.a. ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis, und «Gesund genug» (2022). Die in der Märkischen Schweiz bei Berlin lebende Autorin wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen. Für Fangspiele erhielt sie einen Werkbeitrag der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und den Brandenburgischen Kunst-Förderpreis für Literatur.

Ursula Fricker «Lügen von gestern und heute», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Ayse Yavas