Der Schriftsteller Thomas Poeschel erzählt im „Der Nestor“ eine Davoser Kunst- und Hoteliersgeschichte und gibt Auskunft über seine Beziehungen zu Barcelona und Graubünden.
Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni
„Wie eine Offenbarung“
Urs Heinz Aerni: Ihr Buch mit dem Titel „Der Nestor“ ist Ihrem Vorfahren Ernst Poeschel gewidmet, der 1913 krank nach Davos kam, geheilt wurde, dann selber Hotelier wurde und Gastgeber für für viele Kunst- und Kulturschaffende war. Sie selber sind auch in der Welt der Kultur tätig. Kann man nicht anders, wenn man Poeschel heisst?
Thomas Poeschel: Ich wurde erst ziemlich spät an Erwin Poeschel erinnert, der übrigens nicht mein Vorfahr ist, sondern einer von ungefähr dreissig Cousins meines Grossvaters war. Eines Tages hat mich eine Buchhändlerin in München gefragt, ob ich mit Hans Poeschel, dem älteren Bruder von Erwin verwandt sei, was ich aus Unwissenheit glatt verneinte. Hans war unter anderem eng mit dem Dichter Ernst Pentzold, dem Autor von «Squirrel» befreundet, und ist mir dann plötzlich in US-amerikanischen Militärakten im Zusammenhang mit der Presse-Lizenzierung im Freistaat Bayern wiederbegegnet.
Aerni: Dann kam die Neugier?
Poeschel: So begann, ohne dass ich dies beabsichtigt hätte, eine Spurensuche, die mich schliesslich zu Erwin und seinem wunderbaren Buch über Augusto Giacometti hinführte. Es war Giacometti, der Erwin Poeschel, einen gelernten Juristen und nun Davoser Hotelier, für die Kunstgeschichtsschreibung «entdeckt» hat. Der Dichter Klabund wiederum, ein Protagonist meines Buches, war mir aus Erzählungen von Elga Jacobi, die ihn persönlich aus dem legendären Romanischen Café in Berlin kannte, vertraut. Dann hat sich herausgestellt, dass Klabund lange Zeit im Haus von Erwin Poeschel in Davos gelebt hat, und dort schliesslich gestorben ist. Das ist doch ein reichlich verrückter Anlass, um eine gute Geschichte zu erzählen.
Aerni: In der Tat. Damals trafen sich Künstlerinnen, Schriftsteller, Tänzer und Musikerinnen, tauschten sich aus und feierten. Hand auf Herz: Begannen Sie beim Schreiben nicht eine solche Welt heute zu vermissen?
Poeschel: Wenn Sie „damals“ sagen, meinen Sie wohl die Zeit des Ersten Weltkriegs, als die Schweiz ein Zufluchtsort für jene wurde, die die sinnlose Zerstörung der europäischen Nachbarländer nicht mitmachen wollten.
Aerni: Ja, aber obwohl ich nicht die Weltsituation meine, sondern den Austausch zwischen den Kulturschaffenden…
Poeschel: Sie bildeten eine sehr enge Gemeinschaft, ja sie verstanden sich als Schicksalsgefährten. Sie setzten in Zürich Dada in die Welt. Selbst ein Einzelgänger wie Augusto Giacometti, der ja 1915 als Ausländer selbst Florenz verlassen musste, schloss sich lose an. Als Einzelgänger, in einer, in vielen Ländern Europas von Vereinzelung und bloss virtueller Vernetzung gekennzeichneten Welt, tausche ich mich immer wieder persönlich mit Anderen aus, vor allem auf Reisen. Doch eine so richtig ausgelassene Künstlerfeier, wie sie in «Der Nestor» erzählt wird, habe ich zuletzt nur in Kolumbien erlebt.
Aerni: Die Herausforderung des Biografen über einen Verwandten ist wohl die Wahrung einer kritischen Distanz. Wie gingen Sie dabei vor?
Poeschel: Ich nahm mir ein Beispiel an Erwin. Er war ja Hotelier, ein Schweizer Hotelier, das heisst er war überaus diskret. In meinem Buch «Der Nestor» agiert er in dieser diskreten Rolle des feinen und umsichtigen Gastgebers, der sich gerne etwas im Hintergrund hält, um seinen berühmten Gästen, wie dem Dichter Klabund und der Schauspielerin Carola Neher, dem Romancier Jakob Wassermann oder dem Vortragskünstler Ludwig Hardt mit Vergnügen das Rampenlicht zu überlassen.
Aerni: Sie selber leben in Barcelona und sind immer wieder in München oder in der Schweiz anzutreffen, was hat Barcelona, was Zürich oder Ihr Geburtsort Würzburg nicht haben?
Poeschel: Das Meer. Die Mittelmeerkultur. Auch Andalusien, übt seit mehr als hundert Jahren, besser gesagt seit der Industrialisierung der Küstenregion Kataloniens, einen deutlich spürbaren Einfluss für das bunte Zusammenleben in der Metropole aus. Lateinamerika ist präsent, und wie Sie bestimmt wissen, wurden grosse Romane der Weltliteratur wie von García Márquez der Vargas Llosa in Barcelona verfasst und verlegt. Auch viele Schweizer haben hier ihre Spuren hinterlassen. Das Klima in dieser wunderbaren Stadt bekommt mir schon immer gut.
Aerni: Sie studierten Ethnologie und Philosophie sowie Experimentelle Filmgestaltung, welches von diesen Fächern nutzt Ihnen heute beim Schreiben am meisten?
Poeschel: Kann ich Ihnen nicht sagen. Bei der Arbeit an «Der Nestor» hatte ich komischerweise das Gefühl, wie ein Bildhauer vorzugehen. Nur dass der Steinblock aus nichts Anderem als Zeit bestand.
Aerni: Erwin Poeschel publizierte in den 1920er bis in die 60er Jahren kunsthistorische Bücher über St. Gallen, Liechtenstein und Graubünden. Seine Bibliothek befindet sich im Staatsarchiv Graubünden in Chur. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Südostschweiz beschreiben?
Poeschel: Ich bin dabei sie näher zu entdecken. Mein Grossvater ist schon viele Jahre vor Erwin Poeschel in die Westschweiz gekommen und hat in Vevey Pharmazie gelernt hat. Als Kind kam ich mehrfach zum Skifahren nach Scuol. Als ich kürzlich in Chur eine rätoromanische Zeitung kaufte, war ich nicht wenig darüber erstaunt, dass ich sie lesen konnte. Es scheint mir eine sehr vornehme Sprache zu sein, die ja einst auch in Bayern gesprochen wurde. Im Werdenfelser Land bestehen heute noch rätoromanische Sprachreste. Im Anschluss an meine Recherchen im Staatsarchiv in Chur bin ich von Thusis nach Zillis gewandert. Es kam mir wie eine Offenbarung vor.
Der Kulturanthropologe Thomas Poeschel verfasste ein umfangreiches zeitgeschichtliches Faust-Buch, «Abraxas. Höllen-Spectaculum». Vor kurzem veröffentlichte er die von Jaime de Córdoba illustrierte kleine Erzählung «Die Madonna mit dem Fisch» (Bucher Verlag). In Bälde wird eine Drei-Geschwister-Biografie zur Exilforschung, «Die Geschwister Olden. Eine Odyssee» erscheinen. Poeschel lebt in Barcelona.
Beitragsfoto © Urs Heinz Aerni