Catalin Dorian Florescu «Die Freiheit ist möglich», Residenz

«Wie kann man den Menschen befähigen, eine integrierte Persönlichkeit zu werden? Will er das überhaupt? Ist ihm der fragile Frieden, den er mit sich selbst für die Dauer seiner virtuellen Manipulationen geschlossen hat, nicht dienlicher?» Catalin Dorian Florescu hat keinen Ratgeber geschrieben, aber einen streitbaren Essayband darüber, was die unbegrenzten Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung erreichen und verhindern. Und wer das Buch zum Anlass einer Diskussion lassen will, besuche die Hauslesung vom 1. September in Amriswil!

Ob uns die «Freiheit» vom Tier unterscheidet, scheint mir unsicher. Aber ich als Mensch hätte die Fähigkeit, mir durch mein Tun und Handeln, durch mein Denken und Fragen Freiheiten zu schaffen. Nutze ich diese Möglichkeit? Oder bin ich nicht längst ein fleissiger Knecht von Gesellschaft, Konsum, Politik, Medien und allgegenwärtiger Manipulation?

Nicht nur durch sein Studium der Psychologie, auch durch sein Sehen und Schreiben, «Schreiben und bewusst Leben, sind zwei Seiten der gleichen Medaille» formuliert Catalin Dorian Florescu Fragestellungen, die nachhallen, Aufforderungen zum Tun und Handeln, denen ich mich bei der Lektüre nicht selbstgefällig entziehen kann. Sei es im Umgang mit den modernen Medien, in der Art und Weise wie ich konsumiere, wie ich mich fortbewege, wie ich reise. Oder wie ich mich meinen Mitmenschen gegenüber verhalte.

Wie sehr uniformiere ich mich selbst in meinem Tun? Wie weit blende ich mich freiwillig in meiner Absicht ein Individuum zu werden, gehe den Verlockungen der virtuellen Welt auf den Leim? Bin ich einer derer, die Ökologie schätzen, aber einen grösseren, leistungsfähigeren Wagen kaufen? Bin ich gegen soziale Missstände, kaufe aber gerne bei Zalando und Amazon? Bin ich kritisch und skeptisch der Politik gegenüber, mache mich aber nicht auf, bei Wahlen und Abstimmungen mein Papier einzuwerfen?

Wir laufen Populisten mit wehenden Fahnen in ihre offenen Arme, sei es in der Schweiz, in Deutschland oder Österreich. Populisten ködern uns mit einfachen Antworten auf schwierige Fragen und Herausforderungen. Ob es bei diesen genügt, sich in eine kindliche Trotzhaltung zu begeben, sich abzugrenzen, abzuschotten, ist mehr als hinderlich bei der wirklichen Bewältigung anstehender Probleme.

Warum akzeptieren wir, dass wir die Welt, die uns die Werbung als Ziel vor Augen setzt, in der Roger Federer lässig seinen Kaffee schlürft und uns die Geissens die Welt erklären, nie erreichen werden, dass wir uns allerhöchstens den Billigurlaub an einem Strand in der Türkei leisten können. Von Genuss keine Spur, denn die permanente Angst vor dem Verlust der eigenen Sicherheit, der Arbeit oder Gesundheit lähmt uns viel zu sehr. Warum grassieren Depressionen, Burnouts und Selbsttötungen in einer Gesellschaft, die doch so perfekt ist? Warum liefern wir uns bei Erklärungen der Welt dem Einfachen und Polaren aus, statt zu akzeptieren, dass es schwierig ist, dass es Bewegung, Handeln, Erwachen braucht, um den tatsächlichen Problemen der modernen Gesellschaft entgegenzutreten?

Catalin Dorian Florescu stellt die Fragen, die es braucht. Er stellt sie mutig und genau. Er reisst die Kulissen herunter, die uns die Sicht verstellen, geht mit seinen Fragen so nahe ran, dass es zuweilen weh tut, wenn diese einem zur Reflexion zwingen. «Die Freiheit ist möglich» liest sich leicht, provoziert und verliert sich nicht in wissenschaftlichen, philosophischen oder gesellschaftlichen Erklärungen. Florescu hat es nicht nötig, seine Glaubwürdigkeit zu demonstrieren, denn was er schreibt, ist erlebt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timisoara, Rumänien. 1982 Flucht mit den Eltern in den Westen, lebt seitdem in Zürich. Studium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich, 1995–2001 Arbeit als Psychologe in einem Rehabilitationszentrum fur Drogenabhängige, Weiterbildung in Gestalttherapie, seit 2001 freier Schriftsteller. Zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. Anna Seghers-Preis 2003, Schweizer Buchpreis 2011, Joseph von Eichendorff-Literaturpreis 2012. Veröffentlichungen u. a.: „Zaira“ (2008), „Jacob beschließt zu lieben“ (2011), „Der Mann, der das Glück bringt“ (2016), „Der Nabel der Welt“ (Erzählungen, 2017). Zuletzt erschienen: «Die Freiheit ist möglich. Über Verantwortung, Lebenssinn und Glück in unserer Zeit» (2018).

In der Reihe unserer Hauslesungen an der St. Gallerstrasse 21, in 8580 Amriswil, liest Catalin Dorian Florescu am 1. September 2018 aus seinem Erzählband «Der Nabel der Welt» und dem Essayband «Die Freiheit ist möglich». Die Veranstaltung beginnt um 11 Uhr. Eine Anmeldung ist unbedingt erforderlich (info@literaturblatt.ch)! Eine einmalige Gelegenheit mit dem Schriftsteller und Schweizer Buchpreisträger in Kontakt zu kommen. Ein Büchertisch ist organisiert. Weitere Informationen hier.

Webseite des Autors

Beitragsbild: Sandra Kottonau

August 2018: Catalin Dorian Florescu liest in Amriswil!

Die Reihe der Hauslesungen wird fortgesetzt. Mitte August liest Catalin Dorian Florescu aus seinem bei C. H. Beck erschienen Erzählband „Der Nabel der Welt“ und seinem Essayband „Die Freiheit ist möglich“ aus dem Residenz Verlag. Die Veranstaltung beginnt wie immer mit einem Apéro um 11 Uhr. Auf die Lesung folgt ein Gespräch mit dem Autor und im Anschluss, wieder bei einem Glas Wein, ist Platz für ganz persönliche Gespräche. Ein Büchertisch steht zur Verfügung!

Genauere Informationen folgen. Eine Anmeldug ist wegen beschränkter Platzzahl unbedingt erforderlich! info@literaturblatt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

Rezension von „Der Nabel der Welt“ auf literaturblatt.ch