Eine junge Tote in einer Pastafabrik. An einem Ort im pittoresken Tessin, der sonst nur mit Idylle verbunden wird. Emma Tschopps Einstieg als Ermittlerin in der Welt von JägerInnen und Gejagten! Ein Verbrechen im Schatten einer steinernen Familiengeschichte? Ein Verbrechen aus der Vergangenheit? Sandra Hughes überzeugt mit ihrem ersten Krimi, schält ganz langsam, ganz genüsslich bis an den „Kern einer faulenden Zwiebel“.
Wenn es in Krimis darum geht, Ordnung zu machen, einen Fall zu lösen, dann mag ich dieses Genre nicht. Selbst wenn die Handlung, die Verstrickungen noch so verwirrlich sind und Autorin oder Autor sich bemüht, mir die Hauptperson nahe zu bringen – es bleibt ein schales Gefühl. Eben dieses schale Gefühl einer vorgegaukelten Ordnung, einer Ordnung, die es nicht gibt, einer Gerechtigkeit, die es nicht gibt. Denn selbst wenn eine Täterin oder ein Täter überführt, verurteilt und hinter Gittern ist, bleibt die Wunde offen. Verbrechen bleiben, Verletzungen bleiben, selbst wenn sie unsichtbar sind, selbst wenn sie vernarben, selbst wenn sie bezeugt sind.
In Sandra Hughes erstem Krimi sagt die Vermittlerin Emma Tschopp ganz am Schluss: „Mein ganzes Arbeitsleben lang kämpfe ich schon für die Gerechtigkeit. Aber es gibt keine.“ Darüber liesse sich abendfüllend diskutieren. Vielleicht gibt es eine Gerechtigkeit für die Gesellschaft. Aber mit Sicherheit keine für Opfer und TäterInnen. Opfer bleiben Opfer, erst recht, wenn ein Mensch sterben musste. Noch viel mehr, wenn das Opfer wie im Krimi von Sandra Hughes ein mehr oder weniger zufälliges ist. Auch für TäterInnen, denn selbst dann, wenn Haftstrafen nach ihrer Dauer und Geldstrafen in ihrer Höhe messbar sind, ist es für Aussenstehende sehr oft nicht nachvollziehbar, das die einen für Jahrzehnte weggeschlossen werden und andere auf Bewährung frei bleiben.
Emma Tschopp, einundfünfzig, alleinstehend und kinderlos, Kriminalpolizistin bei der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft versucht mit ihrem Labrador Rubio und ihrem gelben Campingbus an einem Waldrand ein paar Kilometer von Meride, einem Tessiner Bilderbuchdorf, Ferien zu machen. Jene dreiundzwanzig Tage Ferienguthaben, die ihr zustehen und die entfallen, wenn sie nicht in diesem Jahr eingelöst werden. Aber weil eine Kriminalbeamtin auch in den Ferien Kriminalbeamtin bleibt, wird sie von ihren Tessiner Kollegen um Unterstützung gebeten, weil das Opfer wie Emma Tschopp aus dem Umland von Basel stammt.
Und das Opfer? Stefanie Schwendener war wenig über zwanzig. Eine junge Kindergärtnerin, die alle mochten, die im Tessin einen unbezahlten Urlaub machte, nachdem sie von einem Aufenthalt zuvor schon hingerissen war von einer neuen Welt, einer neuen Aufgabe. Sie bewohnte eine kleine Wohnung in Meride und bot Führungen an in der Pastamanufaktur der Familie Savelli im Ort. Eine kleine Fabrik mit langer Tradition, eine Perle im Ort am Fusse des Monte San Giorgio, Weltkulturerbe und weit herum bekannt für seine prähistorischen Fossilienfunde. Stefanie Schwendener wird eines Morgens vom alten Patron der Pastamanufaktur tot im Kühlraum der kleinen Fabrik gefunden. Eine Katastrophe für die Familien, jene des Opfers, die der Manufaktur und für das Dorf, das sich in Schockstarre befindet. Ein Fall, bei dem nichts zu greifen scheint und die Polizei unter dem Tessiner Commissario Bianchi an ihre Grenzen kommt. Ein Fall, an dem sich auch Emma Tschopp anfänglich die Zähne ausbeisst, weil wie immer alles in die Irre führt, was offensichtlich scheint.
Sandra Hughes sticht mitten hinein. Seien es verkrustete Familienverhältnisse, Geheimnisse, die nie an die Oberfläche kamen, aber über Jahrzehnte ihren Modergeruch verbreiteten. Hinein in Fassaden, hinter denen sich Abgründe auftun, nicht nur in Familien, sondern in Strukturen, die nach Aussen nur Gutes propagieren. So wie die barmherzigen Schwestern von Ballenmoos, die ein Kinderheim führen und über Jahrzehnte mit mehr als fragwürdigen Methoden das Leben von Kindern brachen. Eine Geschichte, die im Roman fiktionalisiert ist, aber im vergangenen Jahrhundert nicht bloss einmal Realität und Skandal war.
Emma trifft sich im Tessin manchmal mit Karin, auch einer, die sich im Kanton auf der anderen Seite der Berge ein Stück Paradies zu bauen scheint. Emma hilft Karin beim Erstellen eines Mosaiks vor dem Eingang zu ihrem Grotto. Ein Labyrinth, das von innen nach aussen gelegt wird, in entgegengesetzter Richtung zum eigentlichen Weg durch ein Labyrinth. Sandra Hughes bedient sich noch anderer starker Bilder; wenn die Tote dort gefunden wird, wo Hartweizengries und Wasser zu einer klebrigen Masse verrührt werden, einem Teig, der sich zu einem Genussmittel verwandelt.
Sandra Hughes erster Krimi ist ein gelungenes Stück Literatur, das weit mehr ist als Strandfutter oder buchgewordener Fastfood. Hintergründig und faszinierend konstruiert mit einer Ermittlerin, die für einmal nicht den gängigen Klischees entspricht, die KimiautorInnen gerne anzapfen, wenn es darum geht, einen neuen „Schnüffler“ zu kreieren.
Die Lesung von Sandra Hughes anlässlich der 2. Kulturnacht Amriswil entstand in Zusammenarbeit mit dem Literaturhaus Thurgau.
Sandra Hughes, geboren 1966, wuchs in Luzern auf und lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel. Mit der Polizistin Emma Tschopp teilt sie die Vorliebe für Bistecca (saignant) und Blauschimmelkäse. Bisher schrieb sie Romane für Erwachsene und eine Geschichte für Kinder: «Lee Gustavo» (2006), «Maus im Kopf» (2009, Limmat Verlag), «Zimmer 307» (2012, Dörlemann Verlag) und «Fallen» (2016, Dörlemann Verlag), «Das Dach» (2019, SJW). 2013 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft für Literatur, 2017/2018 das Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung für Schweizer Kulturschaffende in London.
PS: «Das Dach» von Sandra Hughes ist ein wunderbares SJW-Heft für Kinder, die schon gut lesen können und Erwachsene, die gerne mit der Fantasie einer Schriftstellerin durchbrennen. Paul ist 11 und wohnt ganz oben im 8. Stock. Durch Zufall zeigt ihm der Fahrstuhl im Haus, dass es einen Weg aufs Dach gibt, in eine Welt, die den Erwachsenen verborgen bleibt!
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