Michèle Minelli «Kapitulation», lektorbooks

Eine Handvoll Frauen treffen sich nach vielen Jahren wieder. Damals ermöglichte ihnen ein internationales Kunststipendium einen längeren Aufenthalt auf der Mittelmeerinsel Krk in der Villa de Artium. Eine Handvoll Frauen damals vor achtzehn Jahren, voller Verheissungen, Versprechen für die Zukunft.

Sie treffen sich in Zürich wieder, weil Adrienne Rytz-Bonnet, die ehemalige Präsidentin dieser Stiftung, zu einer Réunion einlädt, die erste Runde von damals, weil Adrienne spürt, dass ihre Krankheit sie schwinden lässt, weil es an der Zeit ist, die Kraft für einen letzten Kampf zu bündeln.

„Kapitulation“
Buchtaufe im Literaturhaus Thurgau,
Donnerstag 29. April 2021, 19:30 Uhr.
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Aina, kasachisch-schweizerische Actionskünstlerin, die im Kunsthaus zur Aufseherin geworden ist, wenn auch mit subversiven Zügen. Kirsty, die mit einem sehr persönlichen Forschungsprojekt über ihre schreibende Grossmutter einmal mehr bei einer Preisverleihung abblitzt. Brigitte, die einst alles auf ihre Bratsche setzte und nun den Primaten im Zoo spielt. Cloé, mittlerweile längst dem Alter eines Shootingstars entwachsen und im Permastreit mit ihrem Verleger, der sich schlankere Manuskripte wünscht, Zeug, das sich besser verkauft. Und Yvonne und Nomi. Yvonne, Adriennes Privatmasseurin und Nomi, Adriennes Tochter.

Sie alle sind Versehrte. Irgendwann kam es zu Kapitulation. Einmal mehr, einmal weniger. Sie alle mussten klein beigeben; den Umständen, dem Misserfolg, den Männern, den Erwartungen, dem Kampf. Sie alle haben ihren Preis bezahlt, ihre Narben einkassiert. Schon möglich, dass es Berufsgattungen und Gesellschaftsschichten gibt, in denen sich die Gleichberechtigung dem Ideal gar nicht mehr so weit weg zeigt. Aber wenn es einen Bereich in der Gesellschaft gibt, in dem es noch immer viel zu viele männerdominierte Plattformen gibt, dann in der Kultur. Michèle Minelli zeigt dies in einer Art und Weise, die bei der Lektüre beinahe schmerzt. Michèle Minelli schneidet ohne Narkose. Die eitrigen Geschwüre ergiessen sich über den üppig angerichteten Tisch eines opulenten Bilderschmauses. Die Autorin breitet die Schilderung der verschiedenen Welten, in denen sich die Frauen in den beiden Tagen vor ihrem Treffen in Zürich bewegen und aus denen sie sich schälen, in einem eigentliches Erzählmosaik aus,  ein Blitzlicht hier, eine Spot da. Lichter, die sich in die Tiefe bohren, die nicht chronologisch ausleuchten, sondern in verschiedensten Tiefen erzählen, wie das Leben mit ihnen spielt. Dass das zuweilen für mich als Leser verwirrlich ist, für den genauen Leser, ist ein Preis, den man gerne zahlt angesichts der Kraft und wörtlichen Leidenschaft, die der Roman ausstrahlt.

Michèle Minelli «Kapitulation», lectorbooks, 2021, 320 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-906913-25-4

Michèle Minelli hat viel gewagt. Den Roman aber mit den ersten Sätzen schon zu schubladisieren, wird dem nicht gerecht, was der Roman will. Würde man den Roman als „Frauenroman“ titulieren, gäbe man den Männern einen Grund ihn nicht zu lesen. „Kapitulation“ ist ein kämpferischer Gesellschaftroman, der aber nicht aus sicherer Distanz erzählt, sondern mitten aus dem Kampfgebiet von Gleichberechtigung und jahrhundertelanger Immunisierung substanzieller Veränderungen. Mag sein, dass es Stimmen gibt, die mahnen, was Frauen in der Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit alles können, dürfen und tun. Aber die Stimmen vermögen immer weniger zu kaschieren, dass es immer noch ein Kampf ist und bleibt. Ein Kampf, der viele Opfer fordert, Opfer die eine scheinbar moderne und aufgeschlossene Gesellschaft so einfach hinnimmt und akzepiert. Dass dieser Kampf noch lange nicht ausgestanden ist und dass es viele Männer noch immer hinnehmen, dass männliche Privilegien Selbstverständlichkeit bleiben, dass die Welt in der wir leben, in vielem durch ein männliches Okular gesehen wird.

„Kapitulation“ will viel mehr als bloss unterhalten, viel mehr als bloss eine Geschichte erzählen, auch wenn es die Geschichte der Frauen im Europa der Gegenwart ist. Dass Michèle Minelli im letzten Kapitel eine der Frauen in ihrer Verzweiflung über all die Lähmungen und Zurückweisungen das Letzte riskiert und dabei in ihrer letzten Kapitulation wieder nur verlieren kann, ist pessimistische Konsequenz. „Kapitulation“ ist schwere Kost, fordert von mir als Leser alles – ganz sicher mehr als bloss Reflexion. «Kapitulation» ist kämpferisch, durchflutet von starken Bildern und Dialogen. Eine Breitseite literarischer Wucht!

Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an »Kapitulation« wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.

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