Jürg Rechsteiner «Eine seltsame Botschaft», Plattform Gegenzauber

Tell setzt sich an einen Tisch im Schiffsbauch. Trotz Kapuze ist ihm der Fahrtwind an diesem wolkenverhangenen Septembertag kurz nach Isleten zu kalt geworden. Vielleicht wäre es klüger gewesen, in Altdorf zu bleiben. Hier drin riecht es nach Flammkuchen und Kaffee, doch für seinen Rücken ist die angestaute Wärme sicher besser. Am Tisch nebenan malt ein Kind mit Farbstiften und singt vor sich hin. Er muss auf sich achten und beweglich bleiben, mit blockiertem Rücken ist nichts zu gewinnen, weder eine Verhandlung, noch ein Krieg, noch persönlicher Friede. Um all das geht es heute, und natürlich geht es um Freiheit, immer wieder geht es um Freiheit. Alle reden davon, und viele wollen frei sein. Ihm geht es um Verantwortung, so viel ist ihm inzwischen klar geworden. Der See lässt ihn für einmal nicht handeln, sondern nachdenken. Er gilt als Rebell, dabei hat er an Gelassenheit gewonnen. Schon wieder dieses Wort, gewonnen. Er hat sich nie als Anführer gesehen. Das wurde ihm auch schon als Feigheit ausgelegt. Freiheit und Führung passen nur für kurze Zeit zusammen, ist seine Erfahrung.

«Es ist Zeit, deine Waffe weiterzugeben», diese kurze Botschaft hat er vor zwei Tagen erhalten. Wer bin ich, dass ich jetzt in diesem Schiffsbauch sitze, unterwegs zu einem Geheimtreffen? fragt sich Tell. Der Gipfel des Niederbauen schaut aus den Wolken, wie ein Felsbrocken der auf einem Wolkenband schwebt, ein grauer Kopf unter einem blauen Stück Himmel. Wer bin ich? Vor Jahren hat er mit seiner Waffe einen Gewaltherrscher umgebracht. Seither lebt er mit seiner Tat. Als Held, angeblich. Die Waffe hat er noch eine Zeitlang zur Jagd von Wild gebraucht. Das hat nicht verhindert, dass seine Waffe zum Symbol geworden ist, zum Symbol für Widerstand, für gerechtfertigte Gewalt gegen Gewalt, für…, ja, für viele Deutungen ist sie dienlich. Nun soll er sie weiterreichen, andernorts würde sie gebraucht, so heisst es. Er hat sich zu einem geheimen Gespräch bereit erklärt. Doch jetzt auf dem Schiff unterwegs zu diesem Treffen kreisen seine Gedanken, ohne an ein Ziel zu finden. Ist es Eitelkeit? Selbstüberschätzung? Die Waffe lagert zuhause in einem abgeschlossenen Schrank. Soll sie dort bleiben? Als Symbol?

Das Treffen kann er nicht mehr absagen, aber er wird keine abschliessende Antwort geben. Er muss die Sache mit Hedwig besprechen. Das wird seine Antwort sein: Ich muss das mit Frau und Kindern klären. Tell ahnt, was Hedwig sagen wird. 

Jürg Rechsteiner, geb. 1956, lebt in St. Gallen. Schriftsteller und Jurist. Zuletzt Lyrikveröffentlichungen, u.a. in orte Verlag Poesie Agenda. Roman «Halbland», mehrere Hörspiele bei Radio SRF.

Beitragsbild © privat

Bettina Scheiflinger «la ultima», Plattform Gegenzauber

1

Die Frau liegt in ihrem Bett. Es kommt ihr vor, als träume sie, als habe sie die Augen geöffnet und schliefe doch noch immer. Nur im Alptraum ist man sich so sicher, wach zu sein.
Sie steht auf, geht auf die Strasse, endgültig vertrieben aus der Sicherheit des eigenen Zimmers, getrieben von einer schrecklichen Ahnung. Etwas ist anders, ihr Name ist weg, ist verschwunden, war gestern noch da. Ihr Name war das erste Wort, von ihrer Mutter an sie gerichtet, das Wort, das ihre Schwester ihr tröstend einflüsterte, das Wort, mit dem ihre Freundin sich suchend an sie wendete, das Wort, das ihre Tochter rief in der Furcht und in der Freude. Sie schüttelt den Kopf, kann ihn einfach nicht erinnern.
Ich bin die Namenlose, denkt sie.
Die Namenlose klopft an Türen und Fenster. Gestern noch wohnten hier alle Menschen zusammen. Hier lebten sie alle und gaben allem eine Form und einen Grund, benannten die Dinge und einander, erkannten sich. Jemand muss sich doch an ihren Namen erinnern und ihn ihr nennen können. Aus zaghaftem Klopfen wird ein Hämmern und Rütteln, ein mächtiges Reissen mit Klage und Zorn. Keine da, sie beim Namen zu nennen. Wo ist die Freundin, die Mutter, die Schwester, die Tochter? Die Zimmer hinter den aufgerissenen Türen sind hohl, sind Löcher in der Stadt, sind Wunden in den Mauern. Das Echo in den Strassen und Innenhöfen verhöhnt ihre Suche. Mehrmals meint sie, es verrate flüsternd ihren Namen. Es gibt doch immer nur ihre eigenen Geräusche wieder, ihr Name ist es nie.
Sie versteht, alle Frauen sind weg, alle Mütter und Schwestern, Töchter und Freundinnen. Mit ihnen verschwunden sind alle Namen. Die Stadt ist ohne Frauen, wer weiss, wie und wohin sie gingen. Sie ist die Einzige, die noch verbleibt.
Ich bin die Zurückgelassene, denkt sie.

2

Der Morgendunst verzieht sich in die Höhe, löst sich auf, macht Platz für das Licht. Gleich steht die Sonne so hoch, dass sie zwischen die Häuser in die Gassen gelangt und jeden Winkel ausleuchtet. Die Zurückgelassene kauert in einer schattigen Ecke, als das Sonnenlicht sie erfasst und ihr Versteck beleuchtet. Es strahlt sie an und stellt sie aus. Sie erhebt sich, ihre Finger ballt sie zu einer Faust. Ihre Haut glänzt in der Sonne. Sie hört Schritte sich ihr nähern, begleitet von aufgeregten Stimmen. Einige Männer stehen vor ihr. Es ist ihr Vater, ihr Sohn, ihr Bruder, ihr Freund. Als die Männer sie erblicken, schauen sie sie bewundernd an, den Mund leicht geöffnet. Sie verbirgt ihr Zittern hinter einem Lächeln.
Die Männer treten einen Schritt zurück, bestaunen sie mit glänzenden Augen. Einer streckt ehrfürchtig seine Hand nach ihr aus und berührt ihr Haar, streicht ihr behutsam über den Kopf, fährt mit einem Finger über ihre Wange bis zu ihrem Kinn. Der Griff eines Anderen geht knapp an ihr vorbei, sie spürt seine Fingerspitzen ihre Schulter streifen, als sie sich von ihnen entfernt.
Ich bin die Bewunderte, bemerkt sie.
Aber auch das ist nicht ihr richtiger Name.
Die Männer verkünden ihre Entdeckung. Die Bewunderte hastet über die Strasse auf den Platz, von allen Seiten nähern sich schon entschlossene Schritte, stark im Takt der Gruppe, drohen, sie einzukreisen. Die Schritte folgen ihr bis an den Rand der Stadt, werden lauter, werden schneller. Sie beginnt zu laufen.
Ich bin die Gejagte, wird ihr bewusst.
Die Gejagte läuft über das Feld vor der Stadt, über die Wiese dahinter, bis zu den Büschen und Bäumen. Gestern noch nannte sie die Pflanzen bei ihren Namen, konnte leicht eine von der andern unterscheiden. Sie spürt ein Brennen im Nacken, weiss, die Sonne ist noch da und wird weiterhin auf- und untergehen, die Erde hört nicht auf, sich zu erneuern.
Sie läuft in die Obhut des nahen Waldes. Sie ist nicht weit entfernt von der Stadt, trotzdem ist sie dankbar um die Baumkronen und Büsche, die sie abschirmen von der Bedrohung der Stadt, um das Moos, das ihre Schritte dämpft, die langsam zur Ruhe kommen. Sie schöpft Atem, schöpft Hoffnung. Der Boden saugt an ihren Füssen, bis sie sich in einen Klumpen Schlamm verwandeln. Ihre Hände verschwinden in den Blättern eines Strauches, rascheln bei jeder Bewegung, sind nicht mehr von der Pflanze zu unterscheiden. Ihr Körper schmiegt sich in die Kuhlen des Moosbodens, die Haut schimmert in sattgrünem Ton, die Härchen auf ihren Armen und Beinen wachsen grün und stark. Der Wald und ihre vor Angst und Sorge verhärteten Muskeln, alles wird weich, alles vereint sich. Die Frau weiss, es gibt ihren Namen nicht mehr und es gibt ihre Gefährtinnen nicht mehr.

3

Sie erwacht vom Lärm der Männer. Sie erhebt sich vom Boden, spürt, dass unter ihr Kartoffeln reifen, an denen Käfer knabbern, sieht, dass über ihr Äpfel an den Ästen des Baumes baumeln, hört das Zwitschern der Vögel.
Die Männer diskutieren, geben sich Zeichen, rufen sich zu, brüllen vor Aufregung und Angst, während sie im Chaos der Stadt irren. Die Frau geht sicheren Schrittes auf den Lärm zu, zurück in die Stadt.
Die Männer prüfen regelmässig ihre Waffen, kontrollieren deren Einsatzbereitschaft. Sie spreizen die Hände um das Metall, bis ihre Knöchel sich weiss färben, legen ihre Zeigfinger über die Abzüge, umklammern die Griffe ihrer Messer. Als die Frau in der Stadt erscheint, verstummen die Männer, lockern ihre Finger und Muskeln.
Einer nähert sich ihr, hält sie fest. Die Männer jubeln. Die Frau zuckt nur wenig zusammen, ist bereit. Der stärkste Mann tritt ganz nah vor sie, will sie schultern, will sie in die Mitte der Stadt tragen. Sie reisst sich los, schreitet selbst voraus. Die Männer folgen ihr, es sind ihre Väter, ihre Söhne, ihre Brüder, ihre Freunde. Der stärkste Mann geht nie weiter entfernt als einen Schritt hinter ihr.
Auf dem Platz bleibt die Frau stehen. Die Männer umringen sie, kratzen sich am Kopf, blicken sich an und dann zu Boden. Es wird still.
Die Frau schaut den Männern in die Augen, dann geht ihr Blick zwischen ihnen durch und über sie hinaus. Sie weiss, sie ist die Letzte, sie ist die Erste.
Sie kann sich teilen, kann Neues aus sich hervor bringen, sich aufspalten und neues Leben geben. Sie ist mächtig. Das ist das Ende. Und das ist der Anfang.

Die Frau öffnet den Mund, bringt erst nur ein Kratzen und Krächzen heraus. Die Männer weichen einen Schritt zurück, bleiben mit offenen Mündern stehen. Die Wörter vibrieren in ihrem Hals, als sie zu sprechen beginnt. Sie findet ihre Stimme, findet ihren Namen.
Laut und kraftvoll ruft sie ihn allen zu.

Bettina Scheiflinger, geboren 1984 in der Schweiz. Auf das Lehramtsstudium und einige Jahre Unterrichtstätigkeit folgte 2017 der Umzug nach Wien, um am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst zu studieren. Sie schreibt Theaterstücke und Kurzhörgeschichten, veröffentlicht Prosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. Eins ihrer Hörstücke wurde 2020 beim sonohr Radio- und Podcastfestival nominiert. 
Ihr Debütroman „Erbgut“ erscheint im August 2022 bei Kremayr&Scheriau.

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Beitragsfoto © Mercan Falter

Ralf Bruggmann «Cindy und Bert», Plattform Gegenzauber

Da ist dieser Teebeutel. Es ist zu bezweifeln, dass es viele gute Geschichten gibt, die mit einem Teebeutel beginnen. Doch einerseits ist es auch zu bezweifeln, dass diese Geschichte eine gute Geschichte ist. Und andererseits steht der Teebeutel nicht am Anfang der Geschichte, sondern mittendrin, und vielleicht sogar schon kurz vor dem Ende. Cindy ist sich diesbezüglich nicht sicher, aber sie hat eine Ahnung.

Cindy fragt sich, wie der Teebeutel dorthin gekommen ist. Cindy fragt sich viele Dinge, unter anderem fragt sich Cindy, warum sie sich so viele Dinge fragt, und sie fragt sich, warum sie so oft keine Antwort kennt. Manchmal denkt Cindy, dass sie dumm sei, doch dann erinnert sie sich an die Titelmusik der Sesamstraße, sie singt im Kopf mit, Der, die, das – wer, wie, was – wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm, und Cindy weiß dann zwar noch immer nicht genau, ob sie dumm ist, aber sie ist sich sicher, dass sie es nicht bleiben will, wenn sie es denn wäre, darum fragt sie sich weiterhin viele Dinge.

Der Teebeutel liegt mitten auf dem Tisch in der Küche von Bert, und eigentlich wollte Cindy nur ein Glas Wasser trinken, denn sie hatte Durst und einen pelzigen Belag auf der Zunge, doch jetzt steht sie da und starrt auf den Teebeutel, als läge in ihm ein elementares Rätsel der Weltgeschichte, und Wasser getrunken hat sie noch immer nicht.

Dass sie in der Küche von Bert steht, liegt daran, dass sie zuvor im Bett von Bert lag, und dass sie im Bett von Bert lag, lag vor allem am Alkohol. Sie hatte wohl angenommen, der Sex mit Bert könnte das Loch füllen, das sich in ihr so unbeirrbar auszubreiten schien, doch eigentlich war es vor allem der Alkohol, der dieses Loch füllte. Bert war nett, Bert war auch ein wenig hübsch, außerdem hatte er eine gute Körperhaltung und gepflegte Finger, doch darüber hinaus war er nichts Besonderes, aber nichts Besonderes war immer noch besser als nichts, hatte sich Cindy gedacht und war mit ihm mitgegangen.

Die Wohnung war gepflegt und sauber, eher lieblos eingerichtet, wie ein Hotelzimmer, nur ohne Bibel in der Schublade. An einer Wand hing ein Bild von Mahatma Gandhi, und das hatte Cindy ein wenig beruhigt, weil Menschen, die sich Bilder von guten Menschen an die Wand hängten, grundsätzlich keine schlechten Menschen sein konnten. Bert erzählte, was er beruflich machte, aber Cindy hat es vergessen. Wahrscheinlich war sie gerade mit dem Bild von Mahatma Gandhi beschäftigt, als Bert von seiner Arbeit berichtete.

Ich will dich ficken, hatte Bert irgendwann in beinahe sachlichem Ton gesagt, daran erinnert sie sich noch, und sie erinnert sich auch daran, dass sie ihm mit einem Schulterzucken geantwortet hatte. An den Sex erinnert sie sich hingegen kaum mehr. Bert hatte komische Geräusche gemacht, gerade so, als hätte er Schmerzen oder Angst oder beides, aber womöglich war er auch einfach vergnügt. Als er einschlief, war sie noch sehr weit von einem Orgasmus entfernt, aber auch darauf hatte sie wohl nur mit einem Schulterzucken reagiert, und nach einigen Minuten war sie ebenfalls eingeschlafen.

Und jetzt steht sie eben vor diesem Teebeutel, einem gebrauchten Teebeutel, der offensichtlich schon seit Tagen auf dem Tisch in der Küche von Bert liegt, denn die wenigen Teetropfen, die ihm noch entronnen waren, haben längst einen trockenen braunen Ring um den Teebeutel gebildet, um die Inszenierung aufzuwerten, und als Cindy den Teebeutel leicht mit dem Finger berührt, ist sie erstaunt, wie hart er sich anfühlt. Als sie ein Kind war, hatte sie eine Maus als Haustier, die Maus hieß Felix, und als Felix starb, fühlte sich sein Körper ganz ähnlich an wie der Teebeutel auf dem Tisch in der Küche von Bert. Sie begrub Felix damals im Garten und ist jetzt umso mehr irritiert, dass Bert den toten Teebeutel einfach auf dem Küchentisch liegen lässt.

Früher gab es ein Schlagerduo namens Cindy & Bert. Das fiel ihr sofort ein, als Bert seinen Namen nannte, und Cindy musste lachen, woraufhin Bert wohl dachte, sie fände seinen Namen lustig. Er kannte Cindy & Bert offensichtlich nicht, denn als sie ihrerseits sagte, wie sie heißt, nickte er lediglich. Der größte Erfolg von Cindy & Bert war das Lied Immer wieder sonntags, und jetzt steht Cindy vor dem Teebeutel in Berts Küche, es ist Sonntag, sie hat keine Meinung zu Cindy & Bert, doch sie ist sich sicher, dass sie kein Interesse daran hat, zwischen sich und dem Bert im Bett ein verbindendes & entstehen zu lassen.

Cindy trinkt endlich einen Schluck Wasser, dann noch einen. Dann betrachtet sie erneut den Teebeutel. Es ist einer jener Teebeutel, deren Etikett mit hübschen Sinnsprüchen versehen sind, mit denen man sein Leben und die Welt verbessern kann. Sie dreht das Etikett des Teebeutels zu sich hin und liest. Sich an jedem Moment zu erfreuen – das ist der Sinn des Lebens. Cindy lächelt, obwohl sie es gar nicht witzig findet, und das Lächeln ist so bitter, dass sie gleich nochmals einen Schluck Wasser trinken muss.

Sie öffnet alle Schränke in der Küche, zieht Schubladen heraus und schiebt sie wieder hinein, bis sie endlich findet, was sie sucht. Sie stellt die kleine Schachtel auf den Tisch, öffnet den Deckel und nimmt einen Teebeutel nach dem anderen hinaus. Fein säuberlich legt sie alle Teebeutel vor sich hin, breitet die gesamte Weisheit auf engstem Raum aus und liest sich dann durch das teebeutelphilosophische Schlaraffenland.

Allen zu dienen, das ist die Kunst, glücklich zu sein. Mach dir selbst und anderen Mut. Wenn wir ganz bei uns selbst sind, sind wir Liebe. Lebe deine Stärken. Geh nur Wege mit Herz. Sei ein Teil der Antwort auf die Probleme dieser Welt. Lebe mit Respekt vor dir selbst und anderen. Schätze die Person, die du bist. Lerne in Stille, dir selbst zuzuhören. Lass dein Verhalten für sich sprechen. Mitgefühl bringt Verständnis. Sei freundlich zu dir selbst. Löse ein Problem und hundert andere verschwinden. Dankbarkeit schenkt viele neue Möglichkeiten. Leben ist Teilen. Geduld zahlt sich aus. Im Vergeben zeigt sich Größe. Hab Mut, deiner Intuition zu folgen. Sei stolz darauf, wer du bist. Manchmal verschwindet alles Komplizierte, wenn ein neuer Morgen erwacht.

Cindy lässt den letzten Teebeutel sinken. Sie zuckt mit den Schultern, starrt auf die gesammelten Sinnsprüche. Dann denkt sie, dass es Zeit ist, allmählich zu verschwinden, am besten, bevor auch für Bert ein neuer Morgen erwacht. Sie sammelt die Teebeutel ein, verstaut alle bis auf einen wieder in der Schachtel und stellt diese zurück in den Schrank. Den gebrauchten Teebeutel lässt sie auf dem Tisch liegen, denn jene Geschichte ist tatsächlich zu Ende. Den ungebrauchten Teebeutel nimmt sie mit.

Ralf Bruggmann, 1977, ist in Herisau in der Schweiz aufgewachsen und lebt heute mit seiner Familie in Speicher. Neben seiner Tätigkeit als Texter in einer Werbeagentur schreibt er Textfragmente, kurze und lange Geschichten und realisiert Literaturprojekte. Zahlreiche Texte sind auf disputnik.com zu finden. 2016 gewann er den Jury- und Publikumspreis beim Schreibwettbewerb «Literaturland» des Amts für Kultur des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Neben Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften erschien 2017 der Prosaband «Hornhaut» in der Edition Outbird. Mit «delfin» erschien im Sepätsommer 2024 im orte Verlag sein erster gedruckter Roman. Zuvor veröffentlichte Ralf das fragmentarische Romanexperiment «Nita verschwindet» im Internet.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Andreas Butz

Fee Katrin Kanzler „Flipping the bird“, Plattform Gegenzauber

Küßt euch und beißt,
Zwei Otter, in die Dotter, hartgekocht, den Toast.
​​Durs Grünbein


Komm. Du Idiot. Schau nicht, als wären meine Augen aus Dynamit. Sie sind aus Gallerte. Wie die Sülze beim Metzger, wie der Froschlaich am Ufer. Mach das Kopfkino aus. Hör auf das Gurgeln der Amseln. Beweg dich.

Unter Wasser ist es wärmer als oben. Die Sonne steht zwischen den Schlehdornbüschen, noch geht sie früh unter. Pippa lässt sich von der Luftmatratze gleiten, schwimmt in den flachen Uferbereich. Dort hat der See noch etwas Tageswärme gespeichert, nicht viel, noch ist Frühling. Aus der Wiese hängt Hahnenfuß auf den Strand herab, hingekleckste Dotterflecken, und eine Silberweide schleift ihre Zweige über den lehmigen Grund.
Matt folgt Pippa. Je näher er, Bohnenstange, dem Ufer kommt, desto häufiger stoßen seine Knie gegen den Seeboden. Schließlich liegt er neben dem Mädchen, auf die Ellenbogen gestützt, wirbelt Schlamm auf.

Wie du guckst. Wie ein Hund, der sich vergewissert, ob alles in Ordnung ist. Ich wette, dass du noch keine im Bett hattest. In deinem schottischen Dorf, hundert Seelen am Arsch der Welt, Rinder, Schafe, keine Touristen. Ein Himmel voller Möwen, im Sommer zwei, drei Ornithologen zu Gast, und fertig. Jetzt arbeitest du im Schottlandladen, Spirit of Alba, und kommst mit der Großstadt nicht klar. Du fährst alle paar Tage hinaus in die Landschaft, zu Tümpeln wie diesem hier. Seit du da bist, starrst du mich an mit diesem Hundehunger.

Alles an Matt ist größer als an Pippa. In einen seiner Schuhe kann sie beide Füße stecken. Sie hat es ausprobiert, bevor sie ihre zerrissenen Strümpfe abstreifte, bevor sie ins Wasser sprang. Als sie Matts Hand nimmt, durch die trübe Suppe führt, spreizen sich seine Finger. Seine aufgespannte Flosse bedeckt Pippas kompletten Bauch.
Der Wind hat etwas Müll ans Ufer getrieben, das Mädchen fischt einen kleinen, violetten Tetra Pak aus dem Unrat. Wasser, Fruktosesirup, Sauerkirschsaft, Holunderbeerkonzentrat, Limettensaft, Ascorbinsäure. Sie liest Matt das Kleingedruckte wie ein Gedicht vor, bevor sie die Verpackung ins Gestrüpp wirft. Ein Paar Schwingen bringt die Schilfkolben in Bewegung, ein Graureiher steigt in die Luft. Matt lässt seine Hand einige Zentimeter wandern. Hinter den Bäumen lässt sich die Skyline erahnen. Es ist, als hätten sich die Gebäude extra hochgestemmt, als spähe die Stadt eifersüchtig herüber.

Unsere erste Begegnung in der Wunderbar, du warst am Morgen erst aus Edinburgh eingeflogen, ich hielt dir meinen Mittelfinger ins Gesicht. Pippa, Philippa, flipping the bird, sagtest du. Ich fragte dich, ob das eine Songzeile, irgendein Zitat sei. Du hattest es erfunden. Ich beschloss, dass du nur halbseitig ein Idiot bist. Die Hälfte, die Songzeilen produzieren kann, die nach Heidekraut riecht und Klavier spielt, ist in Ordnung. Vertrottelt bist du trotzdem. Entschuldigst dich für jeden Mist. Wenn ich in deine Badeshorts greife, wirst du immer noch dein gehauchtes Sorry auf den Lippen haben. Wenn ich deinen Schwanz anfasse, wirst du die Augen verdrehen wie ein Lobotomierter.

Die Seerosen treiben fette Knopsen an die Oberfläche. Zwei davon sind schon aufgesprungen, zwei Spritzer Monetweiß im Schlammgrün des Sees. Ein Teichhuhn stakt über die Seerosenblätter, viel vorsichtiger, als es müsste.

Im Frühjahr 2025 wird im danube books Verlag (https://www.danube-books.eu/) der Erzählband „Ameisenschnee“ erscheinen, darunter auch der hier erschienene Text.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. 
Ihr Roman »Die Schüchternheit der Pflaume« (FVA 2012) war für den »aspekte«-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«. 2020 war sie Finalistin des 22. Irseer Pegasus.

«Wichtige Männer warten lassen»

Webseite der Autorin 

Beitragsbild @ Thomas B. Jones 

Arno Dahmer «Die Nüchternheit der Nullerjahre», ein Kapitel

1. Januar 2019, 10.00 Uhr

Was mag die Essenz des Felskletterns sein? Wenn ich die gesamte Zeit bilanziere, von 1994 bis heute, könnte die Antwort lauten: das Licht.

Licht, das mich die Wand emporträgt wie ein Aufwind. An einem sonnigen, nicht zu heißen Tag, an einem abgelegenen Felsen.

Licht dringt durch Stirn und Schädeldach in mich; erhellt die Nacht, die dort über Jahre geherrscht hat, bis ich nur mehr Licht bin; Licht, Licht, Licht, ein unendliches Strahlen und Gleißen.

Doch ist das Dunkel nun außen, fast überall, jenseits der Felsen; als wäre es in die Welt emittiert.

Wenn ich damals, während meines kurzen Studiums, etwa durch einen Korridor an der Uni gehe, in irgendeinem Hörsaal sitze, scheint Mangel an Licht mein Denken zu beeinträchtigen; ich merke, wie ich in dem Dämmer um mich her nur immer wieder „ja, ja, ja …“ sage – man hält mich für einen Idioten.

Lange Zeit später ist dann – aber nun werde ich gleich pathetisch – das Dunkel mein Schicksal geworden. Mein Augenlicht schwindet. Ich bin fast blind. Trotzdem klettere ich noch immer.

Wie geht das überhaupt? Und vor allem: Wie kam es dazu? Dass ich zu klettern anfing und weiterhin klettere. Davon handelt dieser Blog.

Er handelt allerdings in ein Dunkel hinein, wie jenes, das mich mehr und mehr umgibt. Wer werden seine Leser sein? Wird es welche geben? Liest jemand noch längere Texte oder scrollt man nur durch Newsfeeds?

Noch kann ich am Computer arbeiten. Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, zwei bis drei Zentimeter hoch. Aber lange werde ich es nicht mehr können, es sei denn, ich erlerne die Blindenschrift. Dagegen sträube ich mich. Ein Behinderter will ich nicht sein. Doch wenn man eine eigens für Behinderte erdachte Schrift benutzt, ist man es dann nicht unleugbar und endgültig? Behinderte sind weder alt noch jung, weder Mann noch Frau. Sie sind einfach nur behindert. Sie gehen nicht auf Herren- oder Damentoiletten, sie gehen auf Behindertentoiletten. Sie parken nicht im Parkverbot, sie parken auf Behindertenparkplätzen. Jedoch: Ich schweife ab.

Was ich sagen wollte, ist: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit für meinen Bericht. Einen Blog könnte man prinzipiell unendlich fortsetzen; das Web ist geduldig. So aber werde ich mich aufs Wesentliche beschränken müssen.

Ich habe vor, die Namen aller Personen, die hier vorkommen werden, zu ändern. Eine Ausnahme bilden berühmte Kletterer. Man würde ja auch nicht schreiben: „Gerald Röder“ oder „Der Kanzler, der Deutschland von 1998 bis 2005 regierte“. Das wäre ebenso albern wie verwirrend.

Ich selbst werde mich, einer Eingebung folgend, Markus Dengler taufen. Das klingt erdverbunden und mein Lebensweg mag zeigen, dass dies tatsächlich eine Facette meiner Persönlichkeit ist. Der Name im Impressum dieser Seite ist – allen Schlaubergern sei es gesagt – natürlich nicht meiner, sondern der eines entfernten Bekannten, der sich damit einverstanden erklärt hat, dort genannt zu werden. Er liest seine Mails übrigens nicht, geschweige denn Briefe.

Doch tue ich all dies nicht aus Angst vor Verwicklungen, juristischen oder auch nur privaten. Ich hoffe lediglich, auf diese Weise unbefangener schreiben zu können. Vielleicht kann ich überhaupt nur so schreiben, über mich selbst und im Internet. Entweder weil ich ein zurückhaltender Mensch bin oder, wahrscheinlicher, weil ich zur Zeit der Floppy Disks und Wählscheibentelefone geboren wurde, im Jahr 1977. Solche wie mich nennt man heutzutage „digital immigrants“. Und es stimmt: Das Internet ist uns etwas fremd geblieben.

Aber bin ich nicht andererseits ein Inbild des Zeitgeists? Der Unbekannte mit seinem Drang, sich einer virtuellen Öffentlichkeit zu präsentieren, um sich – ja, was? – seiner selbst zu vergewissern?, sich zu behaupten?, darzustellen?, vielleicht gar zu überhöhen? Der letztlich ungreifbare, geradezu unkörperliche Einzelne. Dieses Sich-Zeigen und Doch-nicht-zeigen-Wollen. Ob jemand sich dabei namentlich zu erkennen gibt, mag nicht der entscheidende Punkt sein. Denn ob einer durch Masken spricht, das wissen wir im Netz ja ohnehin nie.

Ihr könnt mich also für lächerlich modern oder peinlich altmodisch halten – das bleibt ganz euch überlassen.

[Der Text ist geplant als eines der ersten Kapitel des in Arbeit befindlichen Romans „Die Nüchternheit der Nullerjahre“. Dieser spielt in der Subkultur der Felskletterer und erzählt die Geschichte einer schwierigen Jugendfreundschaft. Der Roman hat die Form eines fiktiven Blogs.]

 

Arno Dahmer wurde 1973 in Frankfurt am Main geboren. Heute lebt er in Mainz. Er studierte Germanistik, war danach u. a. journalistisch tätig und arbeitet zurzeit als Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er veröffentlichte kurze Prosa in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie den Erzählband Manchmal eine Stunde, da bist Du (Mirabilis, Klipphausen/Miltitz, 2017). Arno Dahmer nahm an der von Kurt Drawert geleiteten Darmstädter Textwerkstatt teil und erhielt für seine literarische Arbeit einige Stipendien sowie einen Sonderpreis beim Uslarer Literaturpreis. Bei kul-ja! publishing erschien im März 2023 sein Roman «Ein Mythos von mir». Aktuell arbeitet Arno Dahmer an seinem neuen Roman, der voraussichtlich 2026 bei kul-ja! publishing erscheint.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Julia Kulewatz

Tom Zürcher «Unberührt», Plattform Gegenzauber

Mein erstes Interview gab ich mit zehn. Ich weiss nicht mehr, wo es war, ob im Garten, im Wohnzimmer oder im Bad vor dem Spiegel, aber ich weiss noch den Anlass: Ich hatte soeben meinen ersten Roman geschrieben. Der Held meiner Geschichte hiess Tschivers Cambel und suchte einen grossen Schatz. Der «Tages-Anzeiger» widmete Tschivers Cambel oder vielmehr mir die Titel-Schlagzeile der Wochenendausgabe:

«Bub schreibt Buch!»

Und so wurde ich selbst zu einem Schatz, nämlich zu dem meiner Mutter, die mich auf ein Podest hob und von unten bis oben anhimmelte – ein Gefühl wie tausend Glühwürmchen im Bauch, selbst wenn man es sich nur vorstellte.

Seither verging kein Tag ohne Interviews. Ich gab sie auf dem Schulweg, auf dem­ Arbeitsweg, im Fernsehen, im Bett und im Radio. Am liebsten im Radio. Ich beantwortete hundertmal Herrn Schawinskis Frage, wer ich sei, und war so oft zu Gast in der­ Sendung «Musik für einen Gast», dass derRedaktion die Platten ausgingen.

Dass ich einmal berühmt werden würde, ahnte ausser mir niemand. Obwohl es schon früh Anzeichen gab, schon mit acht. Ich ging in die zweite Klasse, und die Lehrerin sagte, wer wolle, dürfe nach vorn kommen und ein Märchen erzählen. Sie meinte eines, das man mal gehört hatte, zum Beispiel «Der Froschkönig» oder «Das hässliche Entlein», aber ich hatte nicht aufgepasst und redete einfach drauflos. Als ich fertig war, fragte die Lehrerin, woher ich die Geschichte hätte, die sei neu für sie, und ich sagte, ich hätte sie soeben erfunden. Und dann bat ich, noch einen anderen Schluss erzählen zu dürfen, der mir gerade eingefallen war, und sie war einverstanden, obwohl es geklingelt hatte.

Als ich 18 war, blitzte meine Geniehaftigkeit ein zweites Mal auf. Wieder in der Schule. Wir nahmen gerade den Dadaismus durch, und ich behauptete, solche Gedichte könnte ich auch schreiben, mit links. Mein Deutschlehrer, ein untersetzter, humorvoller Mann, sagte:

«Beweisen Sie es!»

In der nächsten Stunde hatte ich zwei Dada-Gedichte an die Tafel geschrieben und bat den Lehrer, herauszufinden, welches ein echtes Dada-Gedicht sei und welches von mir. Er las und sagte, ihm gefielen beide Gedichte, aber das links sei von mir. Ich musste ihm recht geben. Ich wollte wissen, woran er das erkannt habe, und er sagte, das echte Dada sei eben noch eine Spur raffinierter. Er ging die beiden Gedichte Zeile für Zeile durch und zeigte die Unterschiede auf. Dann wollte er wissen, von wem das echte stamme, von Hans Arp, Max Ernst, Hugo Ball? Ich sagte: auch von Tom Zürcher.

Ich musste 30 werden, bis ein Verlag sich für eine meiner Geschichten interessierte. Er hiess Eichborn, was sich reimt auf: a Star is born. Als der Roman dann im Buchladen stand, wurden auch spezialisierte Kreise auf mich aufmerksam. So lud mich das Literarische Quartett ins ZDF ein, weil Herr Reich-Ranicki mich und mein Werk persönlich in die Mangel nehmen wollte. Doch statt energisch den Kopf zu schütteln und miserabel, ganz miserabel! zu schimpfen, hielt er das Cover in die Kamera und sagte, Mann, krass wie Grass, und es war das erste Mal, dass er krass im Fernsehen sagte.

Ich wollte nie ein Schriftsteller werden. Ich wollte immer ein Texter sein. Während Schriftsteller unter der Bürde wohlformulierter Intelligenzigkeit mit der Zeit bitter und finster werden, bleiben Texter unbekümmerte Handwerker, die alles texten können, was sie wollen. Wenn sie Geld haben, texten sie Theater, Comics und Romane, wenn sie kein Geld haben, texten sie für teures Geld billige Reklame. Aber auch Texter wollen berühmt werden. Ganz besonders, wenn sie schon mit zehn ihren ersten Roman ins Schulheft gekritzelt haben.

Ich wollte einen Bestseller texten, den man nicht mehr weglegen konnte. Ich wollte in aller Munde sein mit einem Buch, das man von der ersten bis zur letzten Seite frass. Ich wollte einen Hit landen, der mich berühmt machte. So berühmt, dass ich auch mal ausserhalb meines Kopfes ein bedeutendes­ Interview geben konnte. Wo es auch andere hörten, allen voran meine Mutter, die dann sagen würde:

«Nun hat er doch noch etwas Vorzeigbares geschafft, wer hätte das gedacht, ich nicht.»

Im Februar letzten Jahres, kurz bevor mein neuer Roman herauskam, starb meine Mutter und machte ihn damit zu meinem letzten. Denn nun gab es keinen Grund mehr, Bücher zu texten, das Feuer war erloschen unter der Asche meiner Mutter. Wozu noch berühmt werden? Das Leben war auch so anstrengend genug, ich war mittlerweile 55. Die fixe Idee, die mich seit klein auf begleitet hatte, löste sich in einem verheissungsvollen Regenbogen auf, an dessen Ende ich endlich Ruhe und Bescheidenheit fand.

Und nun kommt der kulturtipp und bietet mir die Carte blanche an. Die grüne Wiese. Die freie Bühne! Ich dürfe machen, was ich wolle, und natürlich weiss ich sofort, was ich machen will. Ein Interview. Mit mir:

Tom, das ist einfach unglaublich. Du im kulturtipp! Nun scheinst du doch noch berühmt zu werden.

Tja. Wo ich es nicht mehr brauche.

Das nehme ich dir nicht ab.

Ist aber so. Ich bin geheilt.

Du träumst kein bisschen mehr vom grossen Erfolg?

Nö. Sonst würd ich ja weiterschreiben.

Du hast also nicht irgendwo noch ein ­ Manuskript versteckt, an dem du heimlich rumdokterst?

Echt nicht. Ich habe meinen Traum in eine Eisen­kiste gepackt und so tief vergraben, dass nicht mal Tschivers Cambel sie finden würde.

Hat deine Mutter je etwas von dir gelesen?

Wahrscheinlich nicht. Du?

Alles. Und nicht nur gelesen, geschrieben!

Bereit für die letzte Frage?

Was, schon die letzte?

Tom. Wer bist du?

(Erstveröffentlichung: www.kultur-tipp.ch)

Tom Zürcher, 1966 geboren, ist freier Texter. Meistens textet er in Zürich. Er textet alles, was das Leben von ihm verlangt, doch am liebsten textet er Romane. Keine Mitgliedschaften, keine Jurys, keine Pläne. In festen Händen. 2019 war er mit «Mobbing Dick» für den Deutschen Buchpreis nominiert. Im Picus Verlag erschien 2021 sein neuer Roman «Liebe Rock».

 «Der Spartaner» Rezension

Beitragsbild © CH Media/Sandra Ardizzone

Rebekka Salm «Chrüüfzere», Plattform Gegenzauber

D Chilchenuhr hett churz vor achti und im Chinderzimmer chäibet myni Chlyyni no immer uf em Chinderbett umme wie en chäärige Chirsichlöpfer. E Chilbi isch das, säg ich euch. Chääferig wie si isch, chrääsmelet si us eigener Chraft uf en umgcheerte Chratte näb em chriesböimig Chaschte, chniempet sich cherzegraad aane und chalbernäärscht denn wie nes chaabisdrööligs Chäigeli über s chloobige Kchaanapee derap ufe Chacheliboode, zmitz is Chlötzli-Chrausimausi, dezwüüsche Chrükcherli und verdrukcheti Chröömli, alles chrüzwyys. Wie das chäibed, chläppered und choldered, chasch chuum glaube. Es Chrippischrappis het si gmacht bim ummechalbere und ummechuugele, das Chrüüschelihäxli.

„Mach kchäi Chabis, Chnüschperli“, hani chooblig gchäibed und ha ufe Liechtschalter drükched und s Chämmerli isch dutzwytt chäibemeesig choolbrandschwarz worde.

Do isch dä chlyy Chnopf z Chopfede ufs Chopfchüssi gchläädered wie ufe Chanzle, het sich haupthööchlig und z chnüünlige aaneghökchled und het mit syyne Chueöigli so gross wie Choolchöpf gkchlimpered und gchüüscheled:

„Chunnsch mi cho chrüüfzere, Mami?“

Ui, was cha das Chutschi chüenzle und chüüderle noch allne Noote.

„Du chrampfchruttige Chnüüderi“, hani drum gchittered und däm Chnööpflibyyger s chruushöörige Chöpfli gchrääbeled. „Es isch doch scho chyttig. Und was zum chöödrige Chrottestächer isch denn ‚chrüüfzere‘ für es chäibs Chäppelerzügs? Isch das Chuuderwältsch?“

„Chrüüfzere isch e chäibe chöischtligi Sach“, isch es choo wie us dr Chäpselibischtoole und debyy isch mir das Chützli ufd Schänkchel gchläädered und het sich zhächligedikch an mich aanegchnuuschded wie ne Chlette. „Chasch mi drum bissoguet so lang chrüüfzere wies bruucht, um mit eme Chüechliseechter e Chrueg Chrälleliwasser zchluuribelze?“

„Äch chumm, du chlyyne Chluuri“, hani gchlööned, „chasch nid äifach chly chrööse. Und was isch denn das Chogechäibs, das Chrüüfzere?“

S Chindle het chatzefrüntlig syn Chambe uf mini Chittelfäkchte gchiered. Do hani in deere chäibe chaltlächtige Chäldnacht aagfange, sys Chruuseltschüppli z chnöötsche und z chüüderle. Jo, die ganzi chrooschpelig Chüürpse vo däm chlyyne Chlaus hani gchrööieled und gchräsmeled.

„Isch das chrüüfzere“, hani gchüüscheled und ha mit myne Chlööpe die chöischtlige Chaabisblätter gchrüüseled, gchriibeled und gchramsled.

„Chasch dänkche“, het dä chyydigi Chnoorzchopf gkchichered.

„In däm Fall isch das chrüüfzere“, hani gchischpered und ha s chnuschprig Chyyni gchnätted und gchrüüscheled und mit myne chnöpfige Chlöpfer, fascht scho Chnölpifinger syys, e chlyy uf em Chiifer ummekchlympered.

„Chaabis, Mami, het dä chatzenöigligi Chaschper gchäischbered. Hesch Chuuder in de Oore? Chrüüfzere söllsch mi, chumm.“

„Chas ächt syy, dass das chrüüfzere isch“, hani fangs chäibedäig gchyyschtered und ha die chäche Chnüü vo däm chummlige Chnülli gchlütterled, gchnutted und gchnöötscht und die verchruschtete Chlekch hani gstryychled.

Jo s ganze chöischtlige, gschmökchige und choge choschtbaare Chind hani phäkched und gchnuddled und churzschpitz chreftig an mi aaanegcheesed und ha gchlischpled:

„Oder ächt das? Isch das churzamänd das chrüüfzere, Chindgottes?“
Chöit dir euch voorstelle, was mir dä chlyy Chrott churz vor Mitternacht ändlich chogechäibelyys zur Antwoort gchuuched het?

Chhh.

Chhh.

Chhh.

***

Rebekka Salm besuch den Lesekreis Literaturhaus St. Gallen mit ihren Romanen im Gepäck. Wer Interesse an diesem Lesekreis hat, kann sich hier (Literaturhaus St. Gallen) oder hier (Veranstaltungen literaturblatt.ch) informieren und anmelden.

Rebekka Salm, geboren 1979 in Liestal und wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Mit ihrem bemerkenswerten Debütroman «Die Dinge beim Namen» (2022) schaffte sie es in die Bestsellerlisten und wurde bereits zu über hundert Lesungen eingeladen. Rebekka Salm wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet: Förderpreise der Kantone Solothurn und Basellandschaft, Dreitannen-Förderpreis der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung.

«Wie der Hase läuft» Rezension mit Interview

Webseite der Autorin

Beitragsbild © privat

Boris Hoge-Benteler „Klosterberg“ (Romanbeginn), Plattform Gegenzauber

1.

Gartenhaus

Hagebutten und Kastanien auf dem Schreibblock schweben, von oben fotografiert, über dem linienlosen Weiß. Der Kopf. Sein Hängen. Das Klicken des Kugelschreibers.

 

Flur

Der Tunnel ist mir fremd, und ich habe Angst. Nicht aber, dass ich allein bin, ängstigt mich, nicht die vielen nur vage auszumachenden, geschlossenen Türen zu beiden Seiten, nicht die Unkenntnis dessen, was sich hinter ihnen wohl befinden mag, auch nicht die Abwesenheit meiner Schritte auf dem lautlosen Teppich, sondern allein, in diesem Augenblick, der Umstand, dass hinten, ganz weit hinten eine Tür sich öffnet und wieder schließt zu einem Licht, das mich auffordert, ja zwingt, nicht stehenzubleiben und immer weiter darauf zuzugehen.

Nur darum drossele ich meinen Gang, tausche Neugierde und düstere Erwartung ein gegen Achtsamkeit, spüre meine Füße in den Socken, in den Schuhen, die Sohlen auf dem Teppich, das Abrollen der Ferse erst links und dann rechts und wieder links und wieder rechts, spüre meine Hände in den Seitentaschen meiner Jeans, mit der einen ein Feuerzeug umfassend, mit der anderen einen glatten, nicht ganz runden Stein, spüre ein leichtes Jucken an drei Stellen meiner Kopfhaut, einen leicht bitteren Geschmack auf der Zunge, aufsteigende Luft im Magen, ein nervöses Drücken im Darm. Und obwohl das alles nicht angenehm ist, versuche ich, es mir einzuprägen und es zu bewahren, während der Tunnel mich dunkel umgibt und das Licht dort hinten immer kleiner wird und sich immer weiter, mich an sich ziehend und mich nicht loslassend, von mir entfernt.

 

Fahrt

Alle Erwartung frisst sich zurück in meinen Bauch, und ich wende, mit bereits geschlossenen Augen, den Blick ab, den ersten und anhaltenden durch das Fenster hinter dem Schreibtisch, wende ihn ab von den Ställen und der Schmiede, der Wiese, dem Zaun, dem Rest einer Mauer. Ich verstaue das Schreibzeug, den Walkman, alles Umherliegende in Tasche und Rucksack, streife die Jacke über, streiche erneut und erstmalig mit der Hand über den blassgelben und beigen Frotteebezug des Kopfkissens und der Decke, sauge den Geruch nach starkem Waschmittel ein und nach kaltem Staub, sauge den blaugrauen Teppichblick ein, den Blick auf Furnierholz, die Schublade des Nachttischs, das Milchglas der Lampe, das Kreuz darüber, sauge das alles, kaum wurde es vor mir ausgeschüttet, ein, denn nichts soll zurückbleiben, alles sei rückwärtig, bis sie mir übergehen, Augen und Hirn, und ich das Zimmer verlasse, den Flur, die Wohnung, das Treppenhaus mit den hölzernen, nicht endenden, ächzenden Stufen.

Draußen schiebe ich meine Sachen auf den Rücksitz des Wagens, schließe alle Türen, auch den Kofferraum, steige ein, starte und fahre los, im Rückwärtsgang, den schmalen Weg entlang durch den Garten und den Park mit seinen Gemüse- und Blumenbeeten und alten Bäumen, vielleicht sind es Linden, vielleicht auch Kastanien, rolle vorbei an Schmiede und Töpferei, einem Seiteneingang, einem geparkten dunkelblauen VW Golf, passiere rechts das sich jäh und wie von selbst öffnende Eisentor, passiere die verlassene Pforte, die lange weiße Frontseite des Klosters, das rotgeklinkerte Gästehaus, den Parkplatz, die Obstwiesen, die Schule, rolle weiter zurück bis zur Kreuzung, biege nach links ab, schaue auf das Gelb einer Telefonzelle, auf die bunten Auslagen eines Kiosks, nehme den Fuß von der Bremse, gebe Gas und schlängele mich über etliche Kurven den Berg hinab. Fahre den Klosterberg hinab. Bewege mich dabei rückwärts und verschwinde, den Blick wiederum auf Gelb, doch diesmal des Ortsschildes, gerichtet, in einem Wald, einem dunklen Tannenwald, auf den nach langer Zeit braune Äcker folgen, dann wieder ein Wald, Hügel mit grauen Stoppelfeldern, Wald und wiederum Hügel, die Straße in Schlangenlinien den Fluss entlang und irgendwo dort hinten, jenseits des Tales und steil herauf, in schwindender Ferne, mir schwanend: das Dorf und das HAUS.

Ich stelle jetzt, Pauls Wunsch gemäß, vieles vor mich hin, als käme es einer Sichtung gleich, bedenke die Zeit und ihre Lügen, unzählbare Versuche, mir weißzumachen, dass sie vergehe.

Ich entkomme nicht und komme auch nie an. Und unterwegs werde ich mich nicht verlieren im schönen Detail. Denn das schöne Detail ist nicht schön, und ich verliere mich nicht in, sondern ich kralle mich fest an ihm.

 

Flur

Ich stehe vor einer hellen Tür und weiß nicht, ob ich sie öffnen soll. Das Tageslicht, das für mich ganz plötzlich von außen durch die obere und untere Glasscheibe dringt, sorgt dafür, dass ich abrupt die Augen schließe und sie nur zögerlich und blinzelnd wieder öffne. Hinter mir weiß ich einen langen dunklen Flur, dessen Ausgangspunkt mir in diesem Augenblick entfallen ist.

Ich habe Angst in beide Richtungen.

Die Tür hat, glaube ich, im Gegenlicht einen sehr dunkelgrünen Rahmen.

Wenn ich wüsste, ob und hinter welcher der vielen abgehenden Türen in meinem Rücken sich ein Ort des Unterschlupfs befindet, vielleicht ein dunkler und enger Wäsche- oder Putzraum, eine Dusche oder eine Toilette, würde ich mich, vielleicht, jetzt, in diesem Augenblick, umdrehen, um ihn aufzusuchen. Mich einzuschließen in einer der Kabinen. Vielleicht auch zwischen den Eimern und Geräten einer Abstellkammer. Um Zeit zu gewinnen.

Die Tür verfügt über einen Stoßgriff, rechteckig, aus schwarzem Kunststoff. Keine Klinke. Zum Aufschieben oder  ziehen, je nachdem. Sie ist nicht verschlossen. Sie führt nach draußen, kein Zweifel.

Wie mit der Nase eines Kindes am Glas mit Blick von drinnen nach draußen: Dort sitzen und bewegen sich große Menschen, wie viele, ist von hier aus nicht zu erkennen. Etwas trübt die Sicht, Nebel oder Rauch. Akustisches nehme ich nicht wahr.

Welche Art des Öffnens, frage ich mich, wäre das, öffnete ich die Tür ganz langsam oder versuchte ich, sie aufzustoßen, ruckartig, und welchen Ausmaßes wäre dieses Öffnen, und was würde sein, und was würde folgen.

Ich umfasse den Griff, gebe mir einen Ruck: der allerdings nicht oder nur halb nach vorn, nach draußen, sondern zugleich nach hinten losgeht, ins Dunkle, wo ich mich rasch verkrieche, in irgendeiner Ecke, fort bin und unauffindbar, während ich im selben Augenblick und etwas ungelenk nach vorne kippe und mich und einen nicht leicht zu bestimmenden Teil von mir wiederfinde am Ein- oder Ausgang eines Hofes.

 

Kabine

Ich sitze im Dunkeln und gehe davon aus, dass ohne Licht die Zeit nicht vergeht. Dass sie anhebt und vergeht, nur wenn es hell ist.

Wenn ich an die Fahrt denke, dann nur an ein stehendes Bild, vielleicht auch mehrere, aber immer stehend. Dass keine Gefahr ausgehe von ihnen.

Was, frage ich mich, werde ich tun, wenn jemand kommt und das Licht anschaltet? Mich auf keinen Fall räuspern, nur nichts zu erkennen geben, nichts, das sich zurückverfolgen, sich einfordern ließe. Ich werde die Luft anhalten, den Herzschlag herunterfahren, mir die Fluchtwege vor Augen führen, auch das Heimweh verdrängen, es mir verbieten, wonach auch. Nur im Dunkeln entfällt die Frage, in welche Richtung ich denken oder schauen und mich bewegen werde.

Doch wenn das Licht angeht, seltsam, wird Paul dann denken, dass die Tür der Kabine verschlossen ist. Dann wird er wissen, was los ist, was ich getan habe, wird, nur kurz und ohne sie nach unten zu drücken, die Hand auf die Klinke legen, wieder heben, mit den Fingernägeln fast und doch nicht, aber fast schon hörbar, über die glatte Furnierschicht der Tür streichen, um sich dann, mit leichtem Rauschen, wieder zu entfernen. Das Licht zu löschen. Und seine Schritte auf dem Teppich des Flures und die Richtung seines Fortgehens werden nicht mehr auszumachen sein.

Oft, denke ich, wird von jetzt an diese Kabine der Ort meines Rückzugs sein.

 

Hof

Als wäre ich, gerade jetzt, an einem trüben Tag und in fremder Umgebung aufgewacht. Es ist weniger hell, als es der Übergang von Schlaf zu Nichtschlaf vermuten ließ. Ein kühler, etwas milchiger Nachmittag ist dies. Rauch und Nebel weiten die Grundfläche des Hofes, die in vermeintlicher Ferne eingefasst scheint von einer vage verlaufenden, in blassem Rot sich verlierenden Mauer.

Die Welt ringsum ist nicht vorhanden, innerhalb der Mauer jedoch nehme ich gleichzeitig Verschiedenes wahr: vorne einen Grill, qualmend, darauf graue, braune oder geschwärzte Würstchen, zwei Bierkisten, einige Flaschen Cola, Becher, zwei Bierbänke und einen Tisch.

Die Personen zu zählen, liegt mir jetzt fern, es scheinen viele, aber mir fällt auf, dass sie alle Jacken tragen und dass doppelt so viele Augen sich jetzt, womöglich, auf mich richten und mir zu sagen scheinen: Jetzt musst du etwas tun oder etwas sagen. Noch stehe ich abseits, aus Scham, dass sie mich sehen, doch schon höre ich eine Stimme, die ich kenne, dann sehe ich ihn auch: Bruder Paul.

„Da bist du ja.“ Und prompt werden mir, viel zu schnell, die vorgestellt, denen ich zugeordnet werde, die mich einarbeiten und von nun an begleiten sollen, es sind vier: Tom, Liv, Chris und Ka.

Dann sitze ich etwas krumm auf einer der Bänke, eine Bierflasche in der Hand, zwischen ihnen. Das Bier macht die unruhigen Hände, macht den nervösen Magen kalt. Stimmen erfasse ich, doch keine Worte. Paul befindet sich nicht weit von mir. Von oben ragt der Ast irgendeines Baumes ins Bild, das hin und wieder flackert, wie unentschieden zwischen Farbig und Schwarzweiß.

„Vergiss nicht“, höre ich ihn durch das Blättergewirr und die Stimmen der anderen hindurch zu mir sagen, „morgen, um halb acht.“

 

(Der Roman „Klosterberg“ erscheint im Herbst 2025.)

Boris Hoge-Benteler „Liebe Dunkelheit. Briefroman“, kul-ja! publishing 2023, 304 Seiten, ISBN: 978-3-949260-13-1

Boris Hoge-Benteler, geboren 1979 in Marburg, aufgewachsen in Büren (Westf.), studierte Neuere deutsche Literatur, Italienisch und Geschichte in Berlin und Wien und promovierte in Münster über Russland-Konstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Er arbeitet als wissenschaftlicher Bibliothekar in Jena und lebt in Weimar. 2022 erschien sein Debütroman „Sonnenstadt“, 2023 folgte sein Briefroman „Liebe Dunkelheit“.

Der Autor auf literaturport.de

Beitragsbild © Miriam Benteler

Helga Bürster «Steine», Plattform Gegenzauber

Der Alte kniete auf dem Platz vor dem ehemaligen Verwaltungsgebäude, in dem jetzt die Anderen wohnten. Er arbeitete immer hier, wenn die Galeerensklaven mit ihren brüllenden Gesängen aufzogen. Sie fingen schon wieder an, die Pflasterung aufzureißen, als er unten auf der Straße angekommen war. Vom Balkon aus hatte er den Platz im Blick, nur kam er nicht mehr so schnell die Treppe runter. Es war nicht der erste Aufzug vor dem Gebäude und er kannte den einen und die andere. Nachbarssöhne und Töchter. Er war selbst ein Galeerensklave gewesen, damals, er kannte sich aus. Wenn sie kamen, ging er mit seinem Fäustel auf die Straße. Er  musste wieder in Ordnung bringen, was sie anrichteten. Einer musste die Löcher flicken, die sie rissen. Einer musste das alles wieder heil machen. Wozu war er Steinsetzer gewesen. Einer der Besten. Er räumte auf, setzte Stein um Stein an seinen Platz zurück, und kümmerte sich nicht um die

Vorwärts! vorwärts!

Schlacht, die um herum tobte. Er hörte nicht hin, langte nach einem weiteren Basaltstein, der lose herumlag, und drückt ihn in ein Loch. Dann nahm er den Fäustel und klopfte Stein um Stein im Sandbett fest. Ein Knallkörper zischte dicht an seinem Ohr vorbei, eine Weile hörte er nichts mehr. Er sah nicht auf. Er arbeitete weiter, immer weiter, von Loch zu Loch, während um ihn herum neue aufgerissen wurden. Er wollte das nicht sehen, auch dann nicht, als die Polizei kam und alle aufforderte, den Ort zu verlassen. Niemand hörte darauf. Ein Wasserwerfer schleuderte einen Strahl über ihn hinweg. Harte Tropfen regneten auf seinen Rücken nieder. Er bückte sich nach einem weiteren   

mögen wir auch untergehn

Stein, obwohl sein Kreuz schmerzte. Berufskrankheit. Er war längst zu alt zum Kriechen, aber er hatte Schuld zu begleichen.   
Ein junger Kerl riss ihm den Stein aus der Hand, den er gerade

Mann für Mann!

aufgehoben hatte. Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und er sah sich selbst, seinen alten Hass, die Angst und Wut. Er wusste noch gut, wie sich das angefühlt hatte. Der Junge mit dem Stein war in dem Alter, in dem er selbst ein  Galeerensklave geworden war. Er packte den Jungen am Handgelenk. 
„Ich kenne dich.“
„Fresse halten!“
Der Junge riss sich los, nahm Anlauf, streckte sich, holte in einer eleganten Bewegung aus, als ob er das tausend Jahre geübt hatte, und

durch unsere Fäuste

schleuderte den Stein gegen das brennende Haus. Ein Tier im Sprung, blutberauscht, schön und abscheulich. Das dachte der Alte, obwohl er sich das Denken lange abgewöhnt hatte. Der Stein prallte gegen die Wand aus Plexiglasschilden, hinter der sich die Ordnungshüter so schnell verschanzt hatten. Dahinter turnten die Anderen schutzlos auf den Simsen und Balkonen, einer hing wie eine Bettdecke von einer Brüstung, Scheiben barsten und Flammen schlugen aus Fensterlöchern. Das Haus schrie. Ein Feuerwehrwagen blieb im Gewühl stecken. Eine sprang aus dem dritten Stock, angefeuert noch und beklatscht.
„Immer schön runter! In den Dreck. Dreckspack!“
Er hatte nur kurz hingesehen und den Kopf dann wieder gesenkt. Er hatte besseres zu tun, er flickte

durch Nacht und durch Not

die Löcher, die gerissen wurden und auch diejenigen, die gerissen worden waren. Alle Löcher dieser Welt zu flicken, etwas Besseres hatte er nicht zu bieten.

„Fünf Millimeter, wenn´s recht ist. Ein deutscher Mann sieht nicht aus wie ein Zigeuner oder Jud!“ 
Der Friseur, der einen Kerl aus ihm machen sollte, war ein schmächtiges Bürschchen gewesen, einer mit flottem Führerbärtchen und zackiger Pose. Er selbst hatte auf dem Stuhl im Herrensalon gesessen, die Haut klebrig vom Schweiß, das rissige Kunstleder kratzte im Rücken. Im Spiegel lief ein Film mit ihm als bestem Nebendarsteller. Wie ich zu dem wurde, was ich zu sein habe. Sein Vater hatte hinter ihm gestanden, stramm auf den Beinen, während der Friseur auf dem Jungenflaum tänzelte, der auf den Boden schneite. Als er ihm schließlich den Nacken ausrasierte, wurde ihm kalt. In der Geschichtsstunde hatte der Lehrer Bilder von römischen Galeerensklaven gezeigt.  Abbildungen alter Ölgemälde. Die Sklaven hatten ausgesehen, wie er jetzt, wie sein Vater schon lange. Wie alle. Der Lehrer hatte gesagt, der geschorene Kopf sei das Mal der Unterwerfung unter die römischen Herren gewesen. Bestimmt hatte er gelogen, denn sein Vater behauptete doch, sie seien jetzt und immerdar

Kamraden, dir!

die Herren der Welt. 
Ein leiser Zweifel hatte ihn damals befallen, der bohrte seitdem in ihm, ob er nämlich Worten trauen konnte. Je nachdem, wer sie aussprach und wer sie hörte, bedeuteten sie mal dies und mal das. Dazu kamen die Spitzfindigkeiten, die er nicht begriff.  Also war er lieber Steinsetzer geworden, denn ein Stein ist ein Stein. Heute wusste er, dass selbst das nicht immer stimmte. 
Er kroch auf Knien weiter und sammelte einen Armvoll ausgerissener Balastquader ein. Sorgfältig reihte er sie neben dem Loch auf, das er zu flicken begonnen hatte. Er erkannte mit bloßem Auge, dass alles passen würde, denn er hatte schon zu viel geflickt, da konnte ihm niemand etwas vormachen. Jemand stieß ihn in den Rücken. Sirenen heulten. Gelbblaues Licht zuckte über den Platz. Er arbeitete bedächtig. Sein Herz schlug im Takt des Fäustels. Er atmete ruhig. Aus dem Dach schlug

die neue Zeit

das Feuer. Balken krachten, Scheiben klirrten und er hob für einen Moment den Blick, um zu sehen, was da los war. An einem Fenster stand eine Frau, ihr Umriss zeichnete sich vor den Flammen ab, die hinter ihr loderten. Unten breitete die Feuerwehr Sprungtücher aus. Sie hielt ein Kind im Arm. Wie damals, dachte er und verfluchte sich fürs Hinschauen, aber es war nicht mehr zu ändern. Die Bilder schoben sich übereinander. Die alten und die neuen. Es gab ein Hier und ein Da. Die Frau von damals hatte auch ein Kind gehalten, Flammen im Haar, die heilige Barbara, während unten die Galeerensklaven Löcher rissen. Die Frau hatte ihn angesehen und das Kind

flattert uns voran

geworfen. Und er?

Der nächste Stein passte in das nächste Loch. So ist es gut, dachte er. Sein Herz schlug wild, denn der Führer persönlich hatte ihm damals die Hand geschüttelt, war aus seinem Bunker gestiegen, hatte ihm zugelächelt mit zuckenden Mundwinkeln, ihm und ein paar anderen Jungs, die eilig zusammengekratzt worden waren, den Krieg noch zu gewinnen, so kurz vor dem Ende, Kanonenfutter, das man dem Schüttelgelähmten vor die Füße stellte, um seinen Tremor zu besänftigen. Ein schöner Frühlingstag war das gewesen und so voller Hoffnung, denn die Kirschbäume hatten geblüht. An diesem wunderschönen Frühlingstag verlieh

wirst leuchtend stehn

der Führer ihnen Orden. Warum hatte die Frau damals ausgerechnet ihn angesehen? Er war nur ein kleiner Galeerensklave gewesen, der von nichts gewusst hatte. Seine Knie schmerzten. Der Stein, den er gerade hielt, fiel ihm   

als der Tod

aus der Hand. Er hob ihn auf und legte ihn in das Loch, das er für den Stein vorgesehen hatte, aber er passte nicht hinein. Alles tat ihm weh, der Nacken am allermeisten. Er streckte seine schmerzenden Glieder. Die Frau mit dem Kind stand immer noch da. Sie blickte ihn in

Ewigkeit!

an.

 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe» und 2023 ihr Roman «Als wir an Wunder glaubten«, beide bei Insel/Suhrkamp.

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel 

Karin Prucha «Das Salzige an den Rändern» – ein Auszug

Sie blickte auf dieses kleine Mädchen in Schuluniform, das sie einmal gewesen war. Ein altes vergilbtes Schwarzweißfoto. Ein kleines Mädchen mit offener Wunde. Die Nachricht, sie müsse früher als geplant in die Schule. Sie war noch nicht sechs Jahre alt, da begann im Spätsommer der neue Lebensabschnitt. Die Nazis trieben die Kinder mit sechs in die Volksschule. Die Schule war im Tal, die Wege führten mitten durch den Wald und waren lang. Keine Straße, kein Bus. Nur schmale Wege, durch Dunkelheit und finsteren Wald. Sie und zwei andere Kinder vom Berg. Der Ton der Menschen änderte sich, eine unsichtbare Bedrohung trug sie jeden Tag als Last. Sie hörte die Erwachsenen, das neue Grüßen, die Fröhlichkeit im Dunkeln versteckt. Das Dunkle war ihr Wegbegleiter, und die Angst. Der Weg durch den Wald, finster noch im Morgengrauen, die Schule unten im Tal, der Schnee knirscht unter den Tritten, die ihr Echo in eine graue unbewältigte Vergangenheit werfen. Der Morgen könnte bald ein Ende finden, deine Gedanken jagen sich selbst in Angst vor den Wölfen, vor den Jägern, vor den unbekannten Männern, die deine Wege kreuzen könnten, schon gekreuzt haben, dir schon in deine klammen Angstaugen geblickt haben, keine Zeit zu vergeuden, der Weg geht weiter, du bleibst starr in deinem Schreck, siehst nach, hörst die schwer Atmenden, siehst ihre Spuren, die Linien im Schnee sind rot, dein Herz macht einen Sprung mit deinem Körper vorwärts, an klaren Tagen ist es leichter, den Weg zu finden, im Dunklen, ins Tal, dort unten, wo die Lehrerin mit Stäben in den Händen dein Kommen überwacht, im Hintergrund die Uniform, die fragen wird, was war auf deinem Weg, und du keinen Ton aus deinem kleinen Kindeskörper an die Oberfläche lässt, keinen Ton, keinen Ton.

Das Vorhandensein der weißen Kreide, die auf der Ablage der Schiefertafel ruhte, beruhigte dich. Gleich würdest du die Kreide in deinen kleinen Fingern halten und die Schwärze weißen. Die Vermessung der Tafel war dein Werk, Auftrag und Sehnsucht gleichermaßen, das Dunkle abzuschütteln, die Schwärze der Nacht auszulöschen, den Schnee wieder in seiner weißen Pracht erscheinen zu lassen, der Helligkeit, die der Dunkelheit folgt, die Richtigkeit abzutrotzen. Das Weiße, nicht jedes, war deine Rettung.

Die Lehrerin erklärte mit seltsam aufdringlichem Stolz, was die Kinder zu lernen hatten. Die Kreide in deiner Hand war weiß und fest, bei jedem Wort der Frau vor der Tafel zermalmtest du ein kleines Stück davon, sie sprach von dem Bekenntnis zur Heimat und deine Finger umfingen die Kreide fester, ihr Ton wurde hoch und schnappte beim patriotischen Deutschtum und der Heimkehr ins Reich fast über, deine Finger krallten sich tiefer in das Weiß, lösten mit dem Schweiß jeden Partikel und verfingen sich im Klebrigen, deine Gedanken lösten sich und flogen in die Berge, zu den Leuten in den Wäldern, zu den Feuern, die nur kurz wärmten, weil sie viel zu schnell gelöscht wurden, der staubige Rauch im Nu erstickt, die Äste darüber, die Landschaft ohne Spuren verlassen.

Was konnte dein Kinderherz ahnen, von all dem Grauen rundherum, dem menschenverachtenden, dem bestialischen Abschlachten, dem Töten zur Auslöschung unwerten Lebens. Du grubst deine Finger in die weiche weiße Kreidemasse, das Wort zu Ende gesprochen und deine Finger holten sich schnell die andere Weiße von der Tafel, schrieben auf ihr wie gehetzt, Wort um Wort, Sprache vergib, was ich hier zu schreiben habe.

(Auf der Plattform Gegenzauber finden Sie aktuell den Gedichtzyklus «was wäre hätten wir die grenzen nicht» von Karin Prucha)

Karin Prucha «Anderland druga dežela», der wolf verlag, 216 Seiten, Klappenbroschüre
ISBN 978-3-903354-07-4

Karin Prucha, geboren 1964 in Wien, Studium der Germanistik, Kultur- und Kommunikationswissenschaften, Coaching-Ausbildung. Lebt und arbeitet in Klagenfurt/Celovec freiberuflich als Schriftstellerin, Dramaturgin und Regieassistentin und Kulturvermittlerin. 2020 Literaturstipendium des Landes Kärnten, Finalisierungsstipendium für die zweite eigenständige Publikation «Anderland». 

Derzeit Arbeit am Roman «Das Salzige an den Rändern», Lyrikprojekt «Medea», Stück «Anderland I druga dežela» für Poesie, Tanz und Musik.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © russwurm photo