Zurück im Alltag, in der Erinnerung mehr als zwei Dutzend besuchte Lesungen, sind es Glücksmomente, wunderbare Begegnungen, Verzückungen – mit einem schalen, leicht morbiden Nachgeschmack, die mich auf die 29. Ausgabe des Festivals zurückblicken lassen.An den eingeladenen Autorinnen und Autoren kann es nicht liegen. Auch nicht am Wetter oder fehlender Kulisse, schon gar nicht am Interesse derer, die sich für die Literatur auf nach Leukerbad machen. Vielleicht ist es der Ort. Vielleicht die örtlichen Offiziellen, vielleicht der sterbende Sommertourismus. Da täuscht auch der eine oder andere neue Strassenbelag oder der neu eröffnete Supermarkt im Busbahnhof nicht darüber hinaus. Während man in den einen Hotels ohne grossen Aufwand einen Film drehen könnte, der in den Siebzigerjahren spielt, spricht man an der Rezeption anderer nur noch Englisch oder Russisch. In der Mittagspause wird auf dem Dorfplatz nirgendwo im Schatten etwas Kühles serviert und das Festivalcafé (wenn es denn eines ist) bei der Festivalbuchhandlung im Alten Bahnhof muss mit einer Plastikplane gegen den trüben Blick in eine ewige Baugrube geschützt werden. Ich sitze an einer Mauer mit zwei Schriftstellerinnen, die wie ich nicht so genau wissen, wohin mit sich selbst, wenn der Festivalbetrieb mal eben Pause macht.

Warum dann jedes Jahr doch? Selbst wenn ich die lang ersehnte Literarische Wanderung am Donnerstag wegen eines „Personenunfalls“ versäumte, der Spannteppich in meinem Hotelzimmer Generationen von Gästen zwischen Bett und Badezimmer trug und mir einmal mehr der Mut fehlte, die Flasche Wein zum Abendessen mit einem Freund nicht leerzutrinken, weil die Aussicht auf nächtliches Schädelbrummen ziemlich gross war?
Wegen der Literatur! Wegen jener AutorInnen, die man nur in Leukerbad trifft, die einem immer wieder über den Weg laufen und sich in Gespräche verwickeln lassen. Weil der Zustand des Dorfes ziemlich genau den Zustand der Welt, der Gesellschaft repräsentiert: bröckelnde Fassade, hier und dort Zeugnisse grosser Geschichten. Wegen der Geschichten in Büchern, jener gebannten Musik, den Partituren des Lebens. Wegen der Poesie, den letzten offenen Türen zum Paradies. Wegen der Menschen, die beim Zuhören den Atem anhalten, wegen den Tränen in den Augen, weil mich Texte aus den Socken hauen.

Wegen Birgitt Birnbacher, die mich mit ihrer Freundlichkeit, ihrer Menschenliebe überwältigt. Wegen Anna Weidenholzer, die mit ihrer feinsinnigen Beobachtungsgabe Grund zur Hoffnung gibt. Wegen Rolf Hermann, der mit seinem Witz die Bauchmuskeln strapaziert. Wegen Christian Kracht, der mit weicher, klarer Sprache überrascht, Jürg Halter, der mit Lyrik rockt, Patrick Holzapfel mit Poesie wie Meditationen zum Müssigsitzen, Victoria Kielland mit einem Seelenbrand, Katja Lange-Müller mit geschriebener Berliner Schnauze… Die Liste liesse sich noch lange weiterführen.

Wie jedes Jahr waren die Gesprächsreihen «Perspektiven» äusserst spannend und aufschlussreich; «Verständigt und verstanden», ein Gespräch mit den Schriftstellern Volker Braun und Christoph Geiser und dem Verleger Christian Ruzicska, «Gegenwartsliteratur: Kitsch mit Kulturanstrich?» mit Literaturwissenschaftler Moritz Baßler im Gespräch mit Lukas Bärfuss und Stefan Zweifel oder «Auf der Suche nach einem besseren «Woke»» mit Kulturjournalist Jens Balzer und dem neuen Co-Leiter des Festivals Stephan Bader. Wünschenswert wäre es, wenn man in der Auseinandersetzung mit solchen Themen auch die Besucher*innen mit einbeziehen würde, wenn man nicht zum stummen Zuhören verdammt wäre. Durchaus ein Feld mit Entwicklungspotenzial!

Es sind die Schreibenden, die locken. Ganz sicher nicht die Gastfreundschaft einer Tourismusdestination, die den Zenit vor Jahrzehnten überschritten hat. Da ist auch die Verleihung des Kultur- und Wirtschaftspreises des Kantons Wallis durch Staatsrat Christophe Darbellay wohl erfreulich und für das Festival mehr als verdient, aber trotzdem eher Versöhnungsversuch, weil die Absicht, der grossen Literatur ebenso grosse Bühne bieten zu können, etwas fadenscheinig wirkt.
Ab 2026 wird sich Hans Ruprecht, der das Festival fast zwei Jahrzehnte prägend gestaltete, aus der Leitung zurückziehen und der langjährigen Co-Leiterin Anna Kulp, verstärkt durch Stephan Bader, ehemaliger Redaktionsleiter beim «Literarischen Monat», das Szepter übergeben. Möge es der neu formierten Leitung gelingen, dem Festival ein neues Herz, ein echtes Festivalzentrum, einen Ort der Begegnung zu schenken, bevor sich der gute Geist des Festivals verabschiedet.
Ich reiste erfüllt und beseelt zurück, dankbar und reich beschenkt von einem Felsenkessel, in dem es brodelte.
Ich freue mich auf das 30. Internationale Literaturfestival Leukerbad 2026!
Beitragsbilder © Literaturfestival Leukerbad / Ali Ghantschi