Mireille Zindel «Kreuzfahrt», Kein und Aber Verlag

«Früher hatte das Leben so viele Möglichkeiten. Dann schliesst man das Studium ab, beginnt zu arbeiten, hat Familie, und plötzlich ist man auf dieser Autobahn für die nächsten 25 Jahre. Nicht dass ich Angst hätte, dass ich diese Jahre abstrampeln würde, aber Gedanken macht man sich schon.» Meret ist verheiratet mit Dres, Mutter zweier kleiner Kinder und weit weg von den unendlichen Möglichkeiten einer 20jährigen, unzufrieden in der tief empfundenen Sackgasse von Einfältigkeit und ungestillter Sehnsucht. Bei einem Ferienaufenthalt an der Küste Italiens lernen Meret und Dres das Paar Jan und Romy kennen, auch sie mit zwei Kindern. Bald spielt zwischen der Erzählerin Meret und Jan mehr als freundschaftliche Nachbarschaft. Die Entfremdung von ihrem Mann, die Ferne zu den eigenen Kindern, die Mutlosigkeit, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen, scheinen ihr das Recht zum Verlieben zu geben. «Wie weit kann man sich voneinander entfernen, bis man sich nicht mehr findet?» Und als Jan mit seiner mitteilungssüchtigen Frau Wochen später in Zürich dann auch noch in die Wohnung unter ihnen zieht, man Tür an Tür, Wand an Wand lebt, wird das Begehren unausweichlich und die Geschichte zwischen Meret und Jan für mich als Leser zum Kippbild. Wo hört Liebe auf? Wo endet blosses Begehren? «Man muss die Liebe ernst nehmen wie den Tod. Man darf nicht gleichgültig sein. Denn ist sie einmal vergangen, ist sie unausweichlich weg», meint Meret, die ihre Geschichte mit Jan im Rückblick erzählt und nicht nur mit dem Erzählen selbst das Gegenteil beweist.

Mireille Zindel schreibt mit unglaublicher Empathie. Der Text riecht nach Erschöpfung und Trauer. Als hätte Meret mehr als ein Leben aus der Hand gegeben. Ein Buch mit einem grossen Sog, eines, das man gerne mit einem Stift hinterm Ohr liest, um Sätze, die ins Mark treffen, mitzunehmen.

Mireille Zindel (1973), Germanistin und Romanistin, lebt und schreibt in Zürich. Ihre beiden ersten Bücher «Laura Theiler» und «Irrlicht», erschienen im Salis-Verlag Zürich, wurden von Publikum und Presse begeistert aufgenommen und mit Preisen ausgezeichnet.

Die Autorin liest aus ihrem neuen Buch am 5. April, um 19.30 Uhr im Literaturhaus Zürich.

Michael Kumpfmüller «Die Erziehung des Mannes», Kiepenheuer & Witsch

Nein, kein Sachbuch, auch kein Erfahrungsbericht, sondern ein Roman darüber, wie ein Mann durch Anpassung allein eben nicht zum Mann wird. Lernt man etwas bei der Lektüre dieses Buches, wo doch der Titel einiges verspricht, vor allem all den Frauen, die dieses Buch erwerben? Das Versprechen wird eingelöst, aber eben literarisch. Michael Kumpfmüller erzählt exemplarisch Georgs Geschichte, einen langen Kampf um Liebe, schon als Kind begonnen. Georgs Vater nimmt sich mit aller Selbstverständlichkeit und Offenheit im Schosse seiner Familie neben der Ehefrau eine Geliebte, während Georgs Mutter leidet, unsichtbar für den Mann, aber ein Alp für die Kinder. Der Autor setzt dem Protagonisten den Stachel, das Wissen, dass es gerade in der Liebe mit Sicherheit keine Sicherheit gibt, alles den Irrtum impliziert. «War das Leben nicht dazu da, dass man es lebte, unvermeidliche Irrtümer eingeschlossen? Wer sich nie irrte, lebte nicht, so viel meinte ich begriffen zu haben, wobei ich auch das Gegenteil dachte.» Georgs Vater straft gerne, entzieht Liebe macht die Klappe zu, auch als Georg sich gegen Jura aber für Musik entscheidet. Nach ersten Liebesversuchen trifft er Karin, lebt sieben Jahre mit ihr zusammen, ohne einmal mit ihr zu schlafen. Sie will nicht. Er duldet es, «käme sich schäbig vor, sich zu trennen». Dann ist es Jule, die zuerst so ganz anders ist, Kinder will und auch heftig tut, dass es geschieht, ihn heiratet, was Georg einerseits schmeichelt aber gleichsam von einer Tatsache in die nächste stösst. «In diesem einen Moment hatte ich gewusst, wer Jule für mich war. Ein kleiner, leuchtender Punkt, etwas, das mich aus allerfernster Ferne berührte, ein Versprechen mehr als eine Tatsache, etwas, an dem ich nicht achtlos vorübergehen zu dürfen glaubte.» Aus Leidenschaft wird Ehekrach und Scheidungskrieg vor den Augen dreier Kinder, all das, was den Vater eine Generation zuvor nicht zu bewegen schien.

Michael Kumpfmüller schreibt von den Schrecken des Mannseins, der Verunsicherung darüber, wie Mannsein allein nicht genügt, wie sehr einem das Leben aus der Hand genommen und zerrissen werden kann. Georg ist kein Verlierer, aber ein von Verunsicherung Gepeinigter. Michael Kumpfmüller spielt mit dem Nerv der Zeit. Braucht es mehr als die Liebe eines Menschen, um zu überleben? Bei Georg ist es die Musik.

Ein Tipp: Andreas Neeser «Wie halten Fische die Luft an», Haymon

Warum auf dem Nachttisch nicht ein Gedichtband; ein Gedanke in die Nacht, ein Geschenk für die Seele, Balsam für den Geist!

Begegnung

Du suchst dir noch einmal
den Spiegel im Spiel
du stellst dich da hin
und du bist es, das Lächeln
zu Hause im Bild
sind die Augen ganz heute und jetzt.

Ich fahr dir durchs Haar und
du winkst dir und
winkst dir zurück;
dann sagen wir leise einander die Namen
wie Vater und Kind.

für I. M.


Menetekel

Gestern um neuen
ging mir das Licht auf
zwei Fingerbreit
über dem Wald
blutrot
das halbe Gesicht
war nicht Stern
und nicht Stirn.

Ich brannte
bis weit in die Nacht
und wusste nicht wo.

aus «Wie halten Fische die Luft an», Haymon Verlag

Der Gedichtband wurde von der Deutschen Akademie für Dichtung in Darmstadt unter die Top 10 der deutschsprachigen Lyrikbände 2015 gewählt und mit dem Prädikat „Lyrikempfehlung 2016“ ausgezeichnet! «Neesers Erkundungen im Zwischenmenschlichen, im Naturraum draussen und drinnen, im Kopf des Ichs, sind beeindruckend konzentriert, wirken wie hingetupft und nehmen doch präzise Gestalt an.» Daniela Strigl, Jurorin Lyrikliste!

Andreas Neeser lebt in Suhr bei Aarau und verfasst neben Romanen (zuletzt «Zweischen zwei Wassern» Haymon) auch Mundarttexte (nach «No alles gliich wie morn» (2009) «S wird nümme, wies nie gsi isch» bei Zytglogge)
andreasneeser.ch

Jean Mattern «September», Berlin Verlag

«Ist es denn zu fassen, dass man in Deutschland noch einmal Juden ermordet? Vor dreissig Jahren gehorchten die Deutschen, wenn man ihnen auftrug, uns zu töten. Und jetzt gehorchen sie nicht, wenn man ihnen aufträgt, das Leben der unseren zu retten.»
Es sollten heitere Spiele werden in München 1972 nach den Nazispielen in Berlin 1936. Mark Spitz wurde zum schnauzbärtigen Superstar und Heike Rosenthal verzückte als erste deutsche Olympiasiegerin dieser Spiele. Alles bestens.
Unter den vielen Journalisten und Reportern, die zu berichten hatten, begegnet Sebastian Sam Cole, einem jüdischen Journalisten aus New York. Verunsichert und gebannt von dessen Erscheinung verheddert sich Sebastian immer mehr in seinen Gefühlen, erst recht, als am 5. September palästinensische Terroristen israelische Sportler zu Geiseln machen. Ein Wettlauf mit der Zeit, nervöse Poilitiker, sensationsgeile Massen, ahnungslose Journalisten, ein masslos überforderter Apparat. Bis in jene Nacht, als das Herantasten der beiden Journalisten zur amour fou wird, die Situation in München auf einem Flugplatz im Chaos tödlich eskaliert, alle Geiseln sterben und die ganze Welt geohrfeigt wird.
Jean Mattern erzählt in seinem vierten Roman in klarer Sprache, gut recherchiert und gekonnt erzählt die Tragödien um den 5. September 1972. Auch ein Stück Aufklärung darüber, wie Dilettantismus und Machtdünkel Menschenleben kosten können. Lesen!

Jean Mattern wurde 1965 geboren und wuchs in Deutschland auf. Er lebt in Paris, wo er als Verlagslektor arbeitet. September ist sein vierter Roman.

Lesung für Kinder mit Lukas Hartmann

Am 8. März besuchte Lukas Hartmann die Primarschule Kirchstrasse in Amriswil. Nachdem während eines mehrmonatigen Leseprojekts Schülerinnen und Schüler alle mindestens ein Buch des Schriftstellers gelesen hatten, las er vor und beantwortete Fragen.

Lukas Hartmann, der eigentlich Hans-Rudolf Lehmann heisst, erzählte von seinem beruflichen Werdegang. Wie er als Radiomoderator und als Lehrer wirkte, Schriftsteller aber immer sein Traumberuf gewesen sei. Nur habe sich der Erfolg erst nach mehreren Versuchen einstellen wollen. Die Kinder hingen ihm gespannt an den Lippen, auch als er sie ermunterte, an ihre Träume zu glauben und nicht schon nach der ersten Niederlage aufzugeben. Klar kam irgendwann die Frage nach seiner berühmten Frau, wo er sie denn kennen gelernt habe. Selbst hier blieb das Lächeln im Gesicht des 71jährigen.

So wie die Kinder dem Autor für seine lange Reise nach Amriswil dankten, danke ich Lukas Hartmann für seinen Mut, seinen Witz und seine offene Art. Da hinterliess ein Büchermann ganz bestimmt seine Spuren!

Und für alle erwachsenen Hartmann-Fans: Er schreibt einen neuen Roman, der bald erscheinen soll, darüber, wie sich friedlich scheinende Nachbarn zu Schreckgespenstern entwickeln können. Ich freue mich und bin gespannt.

Bild: Manuel Nagel

Hans Platzgumer «Am Rand», Zsolnay

«Ich sehe, wie ich Zufälligkeiten ausgeliefert bin und höchstens reagieren, nur in kleinem Rahmen agieren kann. Ich kann versuchen, Einfluss zu nehmen, weiter und weiter, weil es des Menschen Pflicht ist, nicht aufzugeben, aber immer wieder erreiche ich den Punkt, an dem die Selbstbestimmug endet.»

Ich war noch klein, als meine eigene Grossmutter wächsern und mit einem Rosenkranz in den verschränkten Fingern ein letztes Mal in ihrem Zimmer besucht werden sollte. Es war für viele Jahre die einzige Tote. Dem Sterben selbst bin ich auch nach einem halben Jahrhundert Leben bloss in Geschichten begegnet. Ganz anders Gerold, der unglückliche Held in Hans Platzgumers neuem Roman «Am Rand», der schon als Junge seinen seit Monaten toten Nachbarn mit Kopfhörern auf vor dem noch laufenden Fernseher sieht. Dann stirbt sein Freund einen infernalen Tod im elektrischen Strom. Der Tod heftet sich an die Fersen Gerolds. Als erstes befreit er seine still gewordene Mutter vor ihrem Vater, seinem Grossvater, der sich wie ein Schmarotzer in Gerolds ehemaliges Kinderzimer einnistet, nachdem er sich schon längst in die Seele seiner Tochter gefressen hat. «Ich erkannte, wie der Vater im Himmel und ihr leiblicher, der wieder aufgetaucht war, sie fest im Griff hatten.» Und als letztes sich selbst. Gerold entflieht dem Tod mit dem letzten Satz, zuoberst auf dem Bocksberg.

Hans Platzgumer erzählt von einem, der sich zeit seines Lebens nicht aus den Klauen von Sterben und Tod winden kann. Ein Buch drüber, wo Verantwortung und Schuld, Zufall und Schicksal einen Menschen fesseln und knebeln. Handelt man richtig oder falsch, wenn man agiert? Hans Platzgumer schreibt klar, unmittelbar und jene Distanz erahnend, nie ganz «in der Mitte des Lebens» angekommen zu sein.

Hans Platzgumer (1969 ) ist österreichischer Schriftsteller, Komponist, Musiker und Produzent.

Webseite des Autors

Tomas Gonzalez «Was das Meer ihnen vorschlug», mare Verlag

«Irgendwo hatte Javier gelesen, dass man nicht geboren wird, um glücklich zu sein, sondern um die Welt zu bestaunen. Wenn das Glück zu dir kommt, dann kommt es ohne Grund, einfach so.» Javier läge viel lieber in seinem Bungalow und würde lesen, als mit seinem jähzornigen, bösartigen Vater und seinem Zwillingsbruder Mario hinaus aufs Meer zu fahren, um die Hotelvorräte mit frischem Fisch zu füllen. Niemand fährt hinaus, nicht einmal die Fischer. Sturm ist angesagt, in der Ferne türmen sich schwarze Wolken. 24 Stunden sind die drei auf dem Meer, gepeitscht zuerst vom Ehrgeiz, der gleissenden Sonne gepaart mit jahrelang gehortetem Hass, später vom Sturm, der sie anfangs zu schonen scheint, der Bootsmotor irgendwo im Nirgendwo aussetzt und der Sturm doch auf sie zuwalzt. Als das Unwetter zu toben beginnt, ist die Gelegenheit da, all die offenen Rechnungen mit dem wüsten Vater zu begleichen.

Tomas Ganzalez leuchtet in den 27 Kapiteln, den 27 Stunden nicht nur in die Abgründe der drei Männer im Boot, sondern auch in die der am Ufer gebliebenen, denen das Aufbrechen und der Trotz der drei genauso Rätsel aufgibt wie die Verrücktheit der ersten Frau des Vaters, die mit den Männern auf dem Meer einen Sturm in ihrer Kopf auszutragen hat. Dass Javier Shakespeare liest und verehrt, macht dieses Königsdrama nur noch spannender!

Tomas Gonzalez zählt zu wichtigsten kolumbianischen Autoren der Gegenwart. Schon sein letzter Roman «Das spröde Licht», 2012 bei S. Fischer erschienen, war mit seiner klaren Sprache und der Nähe zu Leben und Tod ein tief bewegendes Buch: «Eine Familie, drei Söhne. Jacobo, der Älteste, ist nach einem schweren Unfall vom Hals ab gelähmt. Das ist nicht das Schlimmste, das Schlimmste sind die Schmerzen, die so unerträglich werden, dass er ihnen schließlich im Freitod ein Ende setzt. Die Geschichte einer Familie, die es vermag, den Tod in ihr Leben zu lassen, um sich umso mehr ihrer Liebe zu versichern.» S. Fischer Verlag

Lea Frei «Mein Vater wurde verfolgt», Selbstverlag

Anlässlich ihrer Maturaarbeit (Abitur) zeichnete und schrieb meine Tochter Lea in den vergangenen Monaten eine «Graphic Novel».

Zum Inhalt schrieb Lea: «Die Familie L ist eine emigrierte Flüchtlingsfamilie aus Vietnam. Sie wohnen etwa seit 1991 in der Schweiz. Der Grund ihrer Flucht ist die Verfolgung des Vaters. Ihre Reise war riskant und ereignisreich. Ich erzähle ihr Schicksal.»

Wie jeder Vater wünsche ich meiner Tochter auf dem Weg zu einer Illustratorin viel Erfolg und ermunternde Rückmeldungen. Ein klasse Arbeit!

Das Besondere: Mario Vargas Llosa, «Sonntag», illustriert von Kat Menschik, Insel-Bücherei

Ich war elektrisiert nur schon, als ich es auspackte und in meinen Händen hielt! Da treffen sich in einem Buch Fixstern der Literatur Mario Vargas Llosa, Fixstern der Illustration Kat Menschik und Fixstern der besonderen Buchreihe am Bücherhimmel auf einer Linie und machen Lesen, Blättern und Schauen zu einem Augenschmaus der Extraklasse, bringen mich in vielerlei Hinsicht zum Schwärmen.

Mario Vargas Llosas frühe Erzählung spielt in seiner Jugend in Lima. In der Clique «die Rabengeier» schaukeln sich Miguel und Rubén so lange durch Alkohol und Gifteleien in eine Wette um die Liebe eines Mädchens. Ein kalter Sonntag am Meer wird zu einer Mutprobe um Leben und Tod. Wuchtige Sätze und starke Bilder zusammen mit den Illustrationen von Kat Menschik, eine der Grossen in ihrem Fach.

Ein ganz besonderes Kleinod!