Felipe ten Holt ist Dolmetscher. Ein Beruf zwischen den Wahrheiten. Er übersetzt, steht bei Gesprächen zwischen den Parteien, zwischen den Fronten. Felipe ten Holts Leben stand schon immer zwischen den Wahrheiten, zwischen den Welten. Karl Rühmann begibt sich in seinem neuen Roman „Die Wahrheit, vielleicht“ auf einen schmalen Grat.
Überall, wo gesprochen wird, prallen Wahrheiten, verschiedene Realitäten aufeinander. Die beiden Pandemiejahre machten offensichtlich, das Wahrheiten völlig unterschiedlich, manchmal unvereinbar, in nichts deckungsgleich sein können. Gespräche in unterschiedlichen Sprachen. Wenn bei Gesprächen die Sprache an sich schon verschieden ist und man sich nur über DolmetscherInnen verständigen kann, wenn Parteien aufeinander stossen, deren Ziele, Absichten und Hoffnungen diametral auseinander liegen, dann wird Wahrheit zu einem flirrenden Etwas; unfassbar, kaum einzugrenzen.
Felipe ten Holt wuchs in einer Familie auf, in der Sprachen schon immer eine übergeordnete Rolle spielten. Muttersprache seiner Mutter war Spanisch, Vatersprache Deutsch. Felipe ten Holts Vater sprach mit ihm in einer Mischung aus Niederländisch und Deutsch. Wäre es nach dem Wunsch Felipes Mutter gegangen, hätte sie noch viel mehr Sprachen gelernt. Sprachen schienen so etwas wie Gewänder und Kleider, in denen man sich ganz anders bewegte. Aber die Geschichte der Mutter sollte nicht nach ihren Wünschen verlaufen. Pappie, ihr Mann, wurde eines Tages von der Polizei abgeholt und verschwand im Gefängnis. Die Gründe für das Verschwinden von Felipes Vater liess seine Mutter im Dunkeln. Das war nichts für einen kleinen, sensiblen Jungen.
In der ganz eigenen Welt seiner Mutter beginnt der junge Felipe Eigenheiten zu entwickeln, die er bis in sein Erwachsensein mitnehmen wird; seine Sehnsucht nach Klarheit und Ordnung, seine stetige Suche nach Zusammenhängen und Zuordnungen. Aber eine neue Bekanntschaft seiner Mutter zu einem Maler, die zu Beginn noch wie Liebe aussieht, bringt nicht nur das Leben von Felipe in einen Sturm aus Emotionen und Verunsicherung. So sehr der Neue Felipe als Störfaktor in seiner Beziehung sieht, so sehr ist Felipe überzeugt, das die Motive des Neuen an der Seite seiner Mutter keine redlichen sind. Es entbrennt ein Kampf um die Gunst der Mutter, ein Krieg verschiedener Wahrheiten. Bis die Situation eskaliert.
Sprachen werden auch Felipes Leidenschaft. Er studiert sie, wird dank seiner kombinatorischen Fähigkeiten zum Verhörspezialisten ausgebildet, bis ihn seine Reisen und Einsätze wieder zurück an jene Orte führen, aus denen er in seiner Jugend gerissen wurde. Felipe wird Dolmetscher, manchmal in Spitälern oder Schulen, manchmal bei Ämtern oder auf Polizeiposten. Felipe versucht sich tunlichst aus den Leben herauszuhalten, die an solchen Gesprächen teilnehmen, auch wenn er als ehemaliger Verhörspezialist genau spürt und aus den Formulierungen heraushört, dass sich die Wahrheit versteckt hält, dass man Lügen aufsitzt, man sich nicht versteht, obwohl Formulare ausgefüllt und Abmachungen festgelegt werden.
Karl Rühmann schildert ein Leben, das sich im Dazwischen festgesetzt hat, eine Existenz, die schon in der Jugend erfahren musste, dass sich Wahrheit diametral spiegeln kann. „Die Wahrheit, vielleicht“ ist zum einen die Geschichte eines Mannes, der an den Spiegelungen der Wahrheiten zu zerbrechen droht und ein Roman über die Wahrheit selbst. Trägerin dieser Wahrheiten ist die Sprache. Und so sehr Verständigung unter Sprachen, selbst in der gleichen, schwierig bis unmöglich ist, so sehr verhält es sich mit den Wahrheiten selbst. Sprache suggeriert Eindeutigkeit. Aber so sehr Deutung und Interpretation das Gehörte und Gelesene erreichen können, so sehr kann die Suche nach Wahrheit zerreissen. Karl Rühmanns Protagonist hofft auf Strategie, Technik, nicht zuletzt auf die Psychologie, um irgendwann festzustellen, dass nicht einmal der eigenen Wahrnehmung, der eigenen Wahrheit zu trauen ist.
Karl Rühmann erzählt auf drei Ebenen. Szenen aus der Lebensgeschichte des Protagonisten sind verwoben mit Schilderungen verschiedenster Gesprächssituationen, in die Filipe ten Holt gerufen wird – und Auswertungsgesprächen zwischen ihm und seinem Ausbildner, als man im zum Verhörspezialisten machte. Alle drei Ebenen erzählen vom Kampf eines Mannes, sich aus fremden Geschichten heraushalten zu wollen. Ein Kampf, der letztlich nur zu verlieren ist. Ein Kampf, bei dem es keinen Trost gibt.
„Die Wahrheit, vielleicht“ ist keine leichte Kost, auch keine Geschichte, die klärt. Karl Rühmanns Roman ist die Aufforderung, sich mit seinem eigenen Sehen und Hören auseinanderzusetzen, sich diesem einen „Vielleicht“ auszusetzen!
Karl Rühmann wurde 1959 in Jugoslawien geboren und wuchs dort auf. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster und war Sprachlehrer und Verlagslektor. Heute lebt er in Zürich als Literaturübersetzer und Autor von Romanen, Hörspielen und zahlreichen, international erfolgreichen Kinderbüchern. Sein Roman «Der Held» war nominiert für den Schweizer Buchpreis 2020. Für seinen ersten Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» wurde Karl Rühmann 2015 mit dem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet. Publikationen, die nicht bei rüffer&rub erschienen: «Der alte Wolf» (2019), «Eine wundersame Reise» (2018), «Komm mit zum Fluss» (2017), «Leseglück» (2015), «Wer bist denn du?» (2010) u. a.
Beitragsbild © Franz Noser