Verfolgen sie das Rennen um den Schweizer Buchpreis? Beeinflusst dieses Rennen ihr «Literatur-Konsumverhalten»? Lesen sie eines oder mehrere der Bücher, die im Rennen sind? Alleweil gut ist der Preis für Überraschungen. Und immer wieder ist die Hoffnung da, dass sich all die Zwänge der Gegenwart nicht in die Auswahl einmischen?
Bis zur Verleihung des Schweizer Buchpreises in Basel am 7. November 2021 mische ich mich immer wieder in die Frage «Welches Buch muss es sein?». In der Menüleiste links finden sie einen Link, der Sie direkt zu den entsprechenden Artikeln führt!
Sie kennen Christian Kracht nicht? Er war schon einmal Träger des Schweizer Buchpreises und ist mit jedem seiner Bücher im Gespräch, sei es unter Rezensent:innen, Feuilletonist:innen oder engagierten Leser:innen. Ein Mann, der einem förmlich zur Auseinandersetzung zwingt. Dass er das auch mit seinem neuen Roman «Eurotrash», ja sogar mit dem Titel alleine schafft, lässt einem staunen. Für die einen ist Christian Kracht eine Lichtgestalt im helvetischen Literaturhimmel, auch wenn an ihm und seinem Schreiben so gar nichts Helvetisches ist. Wäre Christian Kracht nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, hätte ich sein Buch wohl nicht gelesen. Denn eines braucht sein Buch mit Sicherheit nicht: meinen Senf.
(Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch)
Schon ein bisschen anders verhält es sich mit Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler Schon alleine deshalb, weil beide schon meine Gäste waren, sei es in einer moderierten Lesung oder bei «Literatur am Tisch», einer ganz intimen Veranstaltung.
Martina Clavadetschers erster Roman «Knochenlieder», mit dem sie schon einmal für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, schlug bei mir ein wie eine Bombe. Nicht weil die Geschichte in einer möglichen Zukunft spielt, nicht weil ich gerne Dystopien lese, sondern weil Martina Clavadetscher schon damals formal ein Experiment wagte. Ihre Romane sind schon alleine visuell anders, mäandern zwischen Prosa, Theater und Lyrik, versuchen eigene Wege zu gehen. Ihr neuester Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» verfeinert das, was die Schriftstellerin schon im Roman davor begonnen hat. Ihr Roman ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Epos, wieder in einer nicht allzu fernen Zukunft.
(Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag)
Michael Hugentobler ist ein Reisender. Dass er, der nun sesshaft geworden ist und Familie hat, 13 Jahre auf Reisen war, das spürt man seinem Schreiben an. Wahrscheinlich ist sein Reservoir an Bildern und Geschichten unerschöpflich, was seinen Lesern nur recht sein kann, denn Michael Hugentobler macht Türen auf. Als Reisender nach Innen und nach Aussen, nach unzähligen Reportagen für namhafte Magazine nimmt mich Michael Hugentobler mit auf eine Reise nach Südamerika, spürt einem Indianerstamm nach, von dem nur ein Buch mit Wörtern übrig geblieben ist. Schon sein erster Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» riss mich mit ins 19. Jahrhundert, zuerst ins Wallis, dann zu den Aborigines in Australien und am Ende zum Finale nach London. Dorthin, wo auch sein zweiter, nun nominierter Roman «Feuerland» seinen Ursprung hat. Bilderstarke Literatur!
(Micheal Hugentobler «Feuerland», dtv)
Überraschend, zumindest für mich, sind die Nominierten Veronika Sutter und Thomas Duarte. Veronika Sutter erschien bisher gar nicht auf meinem Schirm (was nichts heissen soll) und von Thomas Duarte hörte ich nur, weil sein literarisches Debüt 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet würde (was noch kein Grund gewesen war, das Buch zu besorgen). Da sind also ganz offensichtlich Versäumnisse meinerseits nachzuholen.
Veronika Sutters Erzählband «Grösser als du» zeichnet Menschen, «die mit einem Geheimnis leben, weil Scham oder Verleugnung sie daran hindern, über das zu sprechen, was hinter ihren Wohnungstüren passiert. Ohne es zu wissen, teilen sie die Erfahrung von Abhängigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Sie stehen aber auch in Beziehung zueinander, ob als (Ex)Partner, Freundinnen, Nachbarn oder Verwandte. Sie biegen sich ihre Realität zurecht, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, sei es despotisch, übergriffig oder duldsam.»
Veronika Sutter «Grösser als du», edition 8)
Und von Thomas Duarte’s Debüt «Was der Fall ist» heisst es: «Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.»
(Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos)
Spannend! Ich freue mich auf die Lektüre. Spannend, weil die fünf Finalist:innen unterschiedlicher nicht sein könnten; ein Schwergewicht, zwei Perlen und zwei Debüts! Vielleicht auch ein ungleicher «Kampf».
Illustrationen © leafrei.com