Erica Engeler «Rom in Rom» & Karl A. Fürer «Sehspuren in Rom», Vexer

Eine Frau und ein Mann reisen nach Rom. Nicht zur gleichen Zeit, aber beide mit der Absicht, etwas von der Stadt mitzunehmen. Sie wohnen für drei Monate in der Atelierwohnung des Kantons St. Gallen. Erica Engeler, Schriftstellerin in St. Gallen, im Spätsommer 2011 und Karl A. Fürer, freischaffender Künstler und Gestalter, ebenfalls in St. Gallen wirkend im selben Jahr.

 

IMG_0041Zusammen mit dem Herausgeber und Verleger Josef Felix Müller, der seit 30 Jahren mit seinem Vexer Verlag markante, überaus sorgfältige und hoch ästhetische Publikationen herausgibt, entstand ein Buch, eingefasst in kardinalroten Samt, das mich schon in dem Moment verzaubert, als es ein erstes Mal in meinen Händen liegt.

Erica Engeler wollte Flüchtiges, Unscheinbares mit ihrer Sprache einfangen. Entstanden sind literarische Skizzen, Betrachtungen, Gedanken und Eindrücke. Eindrücke ins weisse Papier:

«Des Lesens dieser Zeichen
nicht kundig
buchstabiere ich allein
die Flüchtigkeit

Unergründlich, wie sie flieht
und dauert»

Erica Engeler setze sich Rom aus, einer Stadt, die so ganz anders pulst als ihr Leben damals in der Kindheit, wo weit und bereit kein Haus älter als seine Bewohner war. Im Buch wurde es ein Blick auf Rom im Rückspiegel, dem Zwiespalt dieser Stadt, all dem flüchtigen Empfinden, den Bildern aus Vergangenheit und Gegenwart. Die Autorin ist Auge und Ohr stark empfundener Momente. Es gab den Wald und die Lichtung. Sie beschreibt die Stadt genauso wie den Kosmos der Kindheit, den Sternenhimmel der Familie. «Da ich weder als Pilgerin noch als Bildungsreisende durch Rom streifte, sind die Texte subjektive Romsplitter auf Nebengeleisen.»

«In Rom bin ich die Touristin aus aller Welt
bin stumm in vielen Sprachen, bin Aug und Ohr
und Spiegel, die wenigen Worte, die ich wage
werden auf Englisch erwidert
was mich noch stummer macht. In Rom
löse ich mich wie die Ewige selbst
in Schichten auf. In Rom höre ich Stimmen
sammle ich Staub in den Schuhen
suche nach Fallmaschen, durch die
man durchsickern kann. Rom unter der Hitze
ablaufen, und man weiss, es ist wie beim Eisberg.»

Zwei Empfindsame und ein Verleger schufen ein ganz besonderes Buch, mehr als eine Textsammlung, mehr als Katalog von Zeichnungen. Verleger Josef Felix Müller sah schon am ersten Abend, an dem die Arbeiten der beiden Romreisenden präsentiert wurden, dass daraus ein gemeinsames Buch entstehen würde, aber nicht eines, bei dem die Bilder den Text illustrieren oder der Text die Bilder kommentiert. Ein Weg durch Rom von zwei Seiten, in zwei verschiedenen Sprachen.

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Karl A. Fürer realisierte in Rom sein Projekt «Sehspuren». Entstanden sind 630 Skizzen, sieben Zeichnungen jeden Tag mit Kugelschreiber auf A5-Papier. Für das Buch wurde von jeder Tagesproduktion eine Skizze ausgewählt. Die Zeichnungen sind Tagebucheinträge, «Augentanz», Spuren des Sehens, ein Liebesbrief an Rom, eine Sehkarte des Gefundenen. Durch die chronologischen Gegenüberstellungen entstanden verblüffende Verbindungen. Eine Archäologie des Empfindens. Karl A. Führer zeichnet Ansichten, Geräusche, Kompositionen bis hin zu Kalligraphiken.

Entstanden ist ein wunderbares Buch, eines, das man lange offen liegen lassen will, immer wieder mit neuen Ansichten. Aber auch ein Buch, dass Mut machen kann, all jenen, die dem Blick durchs Objektiv nicht trauen.

St. Gallen - Erica Engeler Autorin

Erica Engeler wurde 1949 in Ruiz de Montoya (Provinz Misiones) in Argentinien geboren. Seit 1974 wohnt und schreibt sie in St. Gallen.  Seit 1985 veröffentlichte Erica Engeler mehrere Bücher, darunter einen Roman, Erzählungen und Gedichte.
Aus dem Spanischen übersetzt sie Alfonsina Storni, Ernesto Sabato und Roberto Arlt. Zuletzt erschien ihr Roman «Vom Verschwinden» beim Bilgerverlag.

1390377462Für Karl A. Fürer ist Malen wie Singen und Tanzen, eine Zusammenstellung und Anordnung von Farbklängen, Tönungen, Rhythmen, Pausen und Verdichtungen. In einem begrenzten Raum, ein Tanz der Farben und Formen, für einen Moment Erstarrte Musik. Auch Kandinski war von der Möglichkeit des Farbenhörens Überzeugt und er besass diese Fähigkeit in hohem Masse. Seine Klangbilder stehen Seit 1910 am Anfang der Abstraktion in der Malerei. (Dr. Elisabeth Keller)

Homepage Vexer-Verlag
Homepage Karl A. Fürer

Das 31. Literaturblatt ist gezeichnet und geschrieben!

Sechs Mal jedes Jahr zeichne und schreibe ich mit Kugelschreiber auf A4 ein Literaturblatt, auf dem ich vier besondere Bücher vorstelle, Bücher und Schreibende, die es mir angetan haben, deren Bücher es wert sind, noch viel öfter Leserinnen und Leser zu finden.
Ich bin kein Kritiker, sondern Bücherfreund. Über Bücher, die mir nicht gefallen, zu denen ich keinen Zugang finde, schweige ich. Aber Bücher, die es mir antun, die es verdienen, im Nirwana der Neuerscheinungen einen Ehrenplatz zu bekommen, die stelle ich vor, nicht zuletzt in der Hoffnung, damit Reaktionen auszulösen.
Ich verschicke die kopierten Literaturblätter an ca. 250 Leseinteressierte im deutschsprachigen Raum, mit Umschlag und Briefmarke und einem persönlichen Gruss. Dafür, dass dies nicht ohne Aufwand geht, werden ich von den «Freunden der Literaturblätter» belohnt, mit Geld, das wiederum der Literatur zu Gute kommt. Den «Freunden der Literaturblätter» sei dies gedankt. Und allen anderen, die es werden wollen; man kann die Literaturblätter abonnieren.

Roland Schimmelpfennig «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts», S. Fischer

Es ist eiskalt und von Osten kommend streift ein einsamer Wolf durch das verschneite Berlin. Was beinahe wie eine postapokalyptische Kulisse erscheint, ist in Roland Schimmelpfennigs erstem Roman die Spur durch seine Geschichten, vorbei an Einsamen in einer kalten Stadt, Verlorenen, die genauso wie der Wolf orientierungs- und ziellos durch die Stadt mäandern.
Tomasz, ein junger Pole, der in Baugruppen Häuser aushöhlt, zerfressen von Panikattacken und einer wilden Angst vor Einsamkeit. Seine Freundin Agnieszka, die täglich zwölf Stunden in fremden Häusern putzt und an den Wochenenden in Parties abtaucht. Ein greises Ehepaar, das sich weigert aus einem der Abbruchhäuser zu ziehen und ohne richtige Heizung, Strom und fliessendes Wasser mitten in der Stadt vom Puls abgeschnitten ist. Elisabeth, ein Mädchen, das geschlagen mit ihrem Freund Micha abhaut, beide mit nichts ausser ihrer schwarzen Kluft, die sie beinahe unsichtbar macht. CharlyIMG_0048 und Jacky, die am Prenzlauer Berg aus einer ehemaligen Bäckerei einen Spätkauf machten. Jacky sieht in Charlys Augen diesen sonderbaren Blick, seit der Wolf seine Spuren im Schnee und in den Schlagzeilen lässt, dutzendfach getroffen, mit Blicken und Objektiven. Die Mutter des Mädchens, verzweifelt und unentschlossen, einmal eine gefeierte Künstlerin, jetzt bloss noch ein Schatten ihrer selbst. Ein alter Jäger, ein betrunkener Vater und die Volontärin bei der Zeitung, die von nichts weiss und über den Wolf schreiben soll… ein ganzer Reigen Alleine-Gelassener.

Roland Schimmelpfennig macht in seinem ersten Roman, nach unzähligen Theaterstücken, die frostige Hauptstadt zur grossen Bühne. So einsam der Wolf, doch eigentlich ein Rudeltier, verloren die Nähe der Menschen sucht, schwärmt das Personal in seinem Roman auseinander. Der Autor beschreibt in seinem Roman Wirkungen und erzeugt suggestive Bilder. Roland Schimmelpfennig erklärt nicht, nimmt eine Spur auf und lässt sie wieder los.
Ein grossartiger Roman, eine ganz eigene Art des Erzählens. Und man darf den Titel, der auch der Beginn des erstens Satzes seines Romans ist, durchaus als Metapher verstehen. Der Wolf, ein Angsttier, schleicht durch die Stadt.

schimmelpfennigRoland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt.

Ursula Fricker «Lügen von gestern und heute», dtv

«Hatte man sich einmal entschieden, war es einfach. Isa würde weitergehen, allein. Sie würde gehen, bis jemand sie aufhielte. Aber niemand würde sie aufhalten, weil niemand glauben konnte, dass ihr kein Gesetz noch etwas galt, keine Ordnung, keine Moral, keine Liebe.»

Ist Lüge das Gegenteil von Wahrheit?
Um drei Personen spielt der neue Roman von Ursula Fricker. Zum einen Isa, die aus ihrem Leben kippt, mit den Eltern bricht und einer wohlgefügten Vergangenheit, in der sie strebsam in die Zukunft zielte. Sie lässt ihr Studium sausen und taucht ab in eine parolenverseuchte Anarchie, eine Welt, die in allem und jedem den Feind wittert. Alles ist Lüge, die Welt aus den Fugen geraten. Isa radikalisiert sich immer mehr, igelt sich ein und steuert wie ein Komet unaufhaltsam der Katastrophe zu. Nichts und niemand erreicht sie noch. Kompromisslos, von einer Idee paralysiert, deutet sie hinter jeder Geste Ablasshändel und Kapitulation.
Zweiter Protagonist ist Innensenator Otten, alleine gelassen von Politik und seiner Berufung, verunsichert im Leben mit seiner Frau, die mit den radikalen Angriffen auf ihren Mann den Boden unter den Füssen verliert, erst recht, nachdem ein Bombenanschlag, der wohl unblutig hätte enden sollen, einer Unbeteiligten die Hand zerfetzt. Ottens Selbstverständnis schmilzt genauso wie seine Selbstsicherheit, die ihn nicht mehr zu schützen vermag vor dem um sich greifenden Chaos. Ein Chaos, das sich in einem besetzten Fabriksgelände zuspitzt, dem Ort wo sich die Radikalen hinter Flüchtlingen verstecken.
Dritte ist Beba, die der Armut und Aussichtslosigkeit ihrer Heimat entfloh und im Paradies vergessen als Prostituierte weiter träumt. Verfolgt von schlimmen Träumen aus der Kindheit und der Unmöglichkeit anzukommen oder zurückzukehren, sind Klavierstunden das einzige, das einen Weg aus dem Elend verspricht, denn dort ist sie zuhause, beschenkt mit einem besonderen Talent, erst recht, als sie mit ihrem Spiel auch Publikum findet. Ein Publikum, das nicht nur die Hure sieht. Sie, die alles verlor, auch ihren Onkel Koni, den einzigen, der ihrer Verwirrung Sicherheit gab und eines Tages im Stall an einem Balken hing, lernt Elias kennen, einen Trompeter. Plötzlich ist da ein Mann, der ihre Sprache versteht, mit dem Zukunft möglich wäre.
Aber überall, gestern und heute, wirkt das Gift der Lüge. Ursula Fricker erzählt, wie sich über Innensenator Otten die Schwere der Gegenwart zutut und ihn zu erdrücken beginnt. Die Begegnung mit der aufstrebenden Pianistin Beba wird das einzige, dass zu leuchten vermag, nicht mit Schwere verklebt ist. Alle drei, Isa, Otten und Beba verlieren den Halt in der Welt, kämpfen um ihren Schwerpunkt, wie ein Planetensystem, dessen Gravitation durcheinander geraten ist und alles zu trudeln beginnt. Die Autorin spinnt ein dichtes Netz, gräbt Schichten frei, die mich immer tiefer blicken lassen, eine Geschichte, die nicht kalt lässt und mit keinem Satz verklärt. Ursula Fricker meisselt mit Sätzen. Und was bleibt, gräbt sich tief. Die Autorin gewinnt erstaunliche Nähe zu Geschichten, Stimmungen und Gedanken ihrer Protagonisten, ohne den Respekt vor ihnen zu verlieren. Intelligent und engagiert erzählt, packend und spannend.

236_320_Ursula_Fricker_2053Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit in Bern, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Neben journalistischen Texten veröffentlichte sie bislang drei Romane. Ihr Debütroman «Fliehende Wasser» erschien 2004 und wurde mit dem Einzelwerkspreis der Schweizerischen Schillerstiftung und mit einem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet. Es folgten beim Rotpunktverlag 2009 ‹Das letzte Bild» und 2012 ‹Außer sich›, nominiert für den Schweizer Buchpreis im selben Jahr.

Ursula Fricker unterhält sich an den Solothurner Literaturtagen 2016 mit der DRS-Bücherfrau Luzia Stettler. Zum Nachhören!

Ursula Fricker liest am 17. September anlässlich der Brugger Literaturtage um 16.15 Uhr im Rathaussaal Brugg. Zum Programm!