«Wir machen Schluss mit allem und beginnen mit nichts von vorne.» (6)

Lieber Bär

Vielleicht beschreibt der 1719 erstmals erschienene Roman “Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe mit dem heute seltsam anmutenden Originaltitel The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. Written by Himself. („Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der achtundzwanzig Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des grossen Flusses Orinoco; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst.“) nicht nur einfach ein Abenteuer, sondern die Sehnsucht des Menschen nach einem echten, wahren, unmittelbaren, naturverbundenen Leben. Damals wie heute scheint Fortschritt eine stetige Entfernung von der Natur zu sein, eine immer grösser werdende Entfernung und Entfremdung.

Keine Kunstrichtung wie die Literatur versteht es so sehr, uns Menschen in einen Zustand zu versetzen, der uns aus unserem Leben, unserem Umfeld herausreisst, manchmal vielleicht sogar nachhaltig. Ich könnte eine ganze Reihe Bücher aufzählen, die mich in meinem Menschsein unmittelbar beeinflussten. Filme und Musik berauschen. Aber weil mich Bücher viel länger, über Tage oder gar Wochen begleiten, ist ihre Wirkung eine ganz andere. Ich bin überzeugt, dass ich als Vielleser ein anderer geworden bin, als der, der ich ohne die Literatur geworden wäre. Literatur wirkt unterschwellig, nicht wie ein halbstündiges Sonnenbad mit anschliessendem Sonnenbrand, sondern wie ein langer, guter Traum.

H. D. Thoreau «Walden oder Leben in den Wäldern», Diogenes Taschenbuch, 2007, übersetzt von Emma Emmerich, 352 Seiten, CHF ca. 17.90, ISBN 978-3-257-20019-5

Als Henry David Thoreau 1854 seinen zeitlich befristeten Ausstieg aus seinem Alltag, sein zurückgezogenes und reduziertes Leben in einer Blockhütte im Wald in seinem Buch „Walden“ veröffentlichte, wurde er zu einem der Begründer des Nature Writing. Eine Bewegung weit über die Literatur hinaus. Dass Nature Writing zu einem eigentlichen Bedürnis geworden ist, zeigt sich im durchschlagenden Erfolg der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky, die mit ihrer Herausgeberschaft der „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz nicht nur einen wirtschaftlichen Überraschungserfolg landete, sondern auf dem deutschsprachigen Büchermarkt eine regelrechte Welle von hochwertigen Naturbüchern mit literarischem Anspruch verursachte.

Delia Owens «Der Gesang der Flusskrebse», hanserblau, 2019, übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-26419-9

Aber auch Romane der Gegenwart spielen mit der Sehnsucht des Menschen nach unberührter Natur, Naturverbundenheit, den Auswirkungen von Klimaveränderungen und menschlicher Zerstörungen. Dass der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens 2023 zu den bestverkauften Büchern gehörte, ist nicht nur der erzählten Liebesgeschichte und der überwältigen Kulisse zu verdanken. Delia Owens beschreibt eine junge Frau, die ganz mit der Natur lebt, die die einzige Liebe ohne Schmerz in der Natur findet. Ein Roman, der Sehnsüchte stillt und weckt.

Douna Loup «Verwildern»
Limmat, 2024, übersetzt von Steven Wyss, 152 Seiten, CHF ca. 30.–, ISBN 978-3-03926-070-6

Vor wenigen Tagen las ich „Verwildern“, die deutsche Übersetzung des Romans „Les Printemps sauvages“ von Douna Loup. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich aus ihrem kleinen Paradies am Rande eines Sees vertrieben fühlt und auf die Suche machen muss, auf die Suche nach ihrem Bruder, ihrem Vater, sich selbst. Aber Douna Loup gelingt in ihrer fast märchenhaften Geschichte etwas, was in der Literatur nur ganz selten passiert. In ihrem Roman ist die Natur nicht bloss Kulisse. Sie schreibt nicht einfach eine Geschichte in sie hinein. “Verwildern“ ist auch als Schreibkonzept ganz wörtlich zu nehmen. Douna Loup schreibt aus der Natur heraus. Geschichte und Figuren treten nicht aus ihr heraus. Sie sind ineinander verschlungen. Die eigentliche Geschichte «verwildert». Ein betörendes Buch.

Ich bin gespannt auf deine Meinung!



Liebe Grüsse
Gallus

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«Um jedoch auf meinen neuen Gefährten zurückzukommen, so gefiel mir dieser ausserordentlich» Daniel Defoe, Robinson Crusoe

Lieber Gallus

Dein letztes Schreiben hat mich erreicht, als ich am Packen war für eine Schiffsreise von Berlin nach Rügen. Zufall? Ich hatte die Lektüre von Lutz Seilers erstem Roman «Kruso» begonnen, um ihn auf dem Schiff fertigzulesen. Obgenannter Satz steht als Motiv vor dem Beginn.

Die Sehnsucht des Menschen nach einem wahren naturverbundenen Leben, die Entstehung des Nature Writing und die Beeinflussung der LeserInnen durch Bücher im Vergleich mit Musik sprichst du in deinem Schreiben an. Du erwähnst Daniel Defoe, Henry David Thoreau, Judith Schalansky, Delia Owens und Douna Loup.

Lutz Seiler «Kruso», Suhrkamp, 2014, 484 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-518-42447-6

Du forderst mich wieder einmal heraus, was ich sehr schätze, und ich habe viel nachgedacht. Dies unter dem Einfluss von «Kruso», der Geschichte einer ausserordentlichen Männerfreundschaft unter ausserordentlichen historischen Bedingungen, dies auf einer Insel in der Ostsee, ich selbst auf einem Schiff nach Rügen. Dabei konnte ich gut erahnen, was es bedeutet, in einem Land «gefangen» fern das unerreichbare «Land der Freiheit» zu erblicken. Nach der Wende und dem Verlust seiner Freundin sucht der Protagonist Edgar auf dem wilden Eiland zu sich selbst. Inseldasein, Wind, Wetter und Wellengang spielen eine wichtige Rolle, Nature Writing? Jedenfalls ein grossartiges Buch in einer poetischen Sprache.

Die Wirkung von Literatur und Musik sind für mich gleichwertig prägend und nachhaltig wirkend. Mich haben in den siebziger Jahren sowohl die Romane von Dostojewski als auch die Sinfonien von Bruckner stark beeinflusst. Bis heute beschäftige ich mich immer wieder mit beiden. Auf unserer Reise erlebten wir in Peenemünde (mir bisher unbekannt) eine Führung und ein Konzert in der Industriehalle bei der Heeresversuchsanstalt der Wehrmacht. Nicht «nur» Rausch, sondern ein unvergessliches, nachhaltiges Ereignis. Wort, Bild und Musik ergänzten sich fantastisch, diese Botschaft wirkt noch lange weiter.

An die Hoffnung ist ein Gedicht von Friedrich Hölderlin, das von Hanns Eisler vertont wurde. Hier sind die ersten Zeilen:

O Hoffnung! Holde, gütiggeschäftige!
Die du das Haus der Trauernden nicht verschmähst,
Und gerne dienend, zwischen Sterblichen waltest,
Wo bist du? Wenig lebt’ ich; doch atmet kalt
Mein Abend schon.

Die Versuchsanstalten Peenemünde waren von 1936-1945 das grösste militärische Forschungszentrum Europas. Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mussten hier unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und sind zu Tausenden verstorben. Lieder von Schubert, Eisler, Weber u.a. verbunden mit gesprochenen Texten von den damaligen Forschern und ArbeiterInnen wurden von einer Sängerin mit Klavierbegleitung tief bewegend vorgetragen, mit Bildern vom Krieg ergänzt. Sprache und Musik auf höchstem Niveau.

Barbara Berg, Sopran und David Santos, Klavier

Zuhause wartete das Buch «Verwildern» von Douna Loup auf mich. Obwohl müde von der Reise und sehr angesprochen vom Cover, begann ich die Lektüre. Wow! Eine neue Reise beginnt, unmittelbar bin ich in einer magisch-sinnlichen Welt. Wieder einmal hast du eine Rosine aus dem Literatur-Kuchen gepickt! Ich habe das erste Kapitel gelesen, bin hell begeistert. Und sie kommt nach Leukerbad! Wahrlich betörend. Gerne lese ich morgen weiter und freue mich auf die baldige gemeinsame Begegnung mit dieser Autorin in Leukerbad.

«Man muss durch den Abend wandeln und daran glauben, dass der Tag und das Morgengrauen kommen werden, man muss hinaus in die Nacht brüllen und den Mond lieben.»

Herzlich

Bär